Fahrt nach Diyarbakir/Amed

Fr/Sa, 16./17. Mrz 2018

Vor ein paar Wochen haben wir über Freunde von Freunden eine Einladung bekommen, als Teil der deutschen Delegation zur Menschenrechtsbeobachtung und als Gäste der HDP am Newrozfest in Diyarbakir/Amed teilzunehmen.

Zur Erklärung:

  • Amed: Ist der alte kurdische und armenische Name Diyarbakirs, der inoffiziellen Hauptstadt des “türkischen Teils” Kurdistans.
  • HDP: Ist die „Demokratischen Partei der Völker“, die große linke kurdisch dominierte Partei in der Türkei.
  • Newroz: Ist das Neujahrsfest in Mesopotamien. Es wird am 21. März gefeiert bei Tag-und-Nacht-Gleiche und ist in Kurdistan ein politisch wichtiger und äußerst brisanter Termin.

Da wir diesmal nicht nur als Touristen in der Türkei sind, ist besonder Vorsicht geboten!

Denn wie die Bertelsmannstiftung in ihrem Bericht “BTI 2018” zur Lage der Demokratie in der Welt schreibt: „In der Summe ist die Türkei mit ihrer Abwertung um 1,70 Punkte das Land, das vom BTI 2016 zum BTI 2018 am meisten herabgestuft wurde.“ Also weltweit! „Im BTI 2018 wird die Türkei als “stark defekte Demokratie“ geführt, steht in mehreren Indikatoren allerdings kurz vor der Abstufung zur Autokratie. Die Auswirkungen des Referendums vom April 2017 zur Umstrukturierung der Türkei in eine Präsidialrepublik werden möglicherweise dazu führen, dass die Türkei die demokratischen Mindeststandards unterschreitet.” Was inzwischen, wie wir aufgrund unserer Erlebnisse sagen können, geschehen ist!

Eine Veröffentlichung der Bundeszentrale für politische Bildung vom 24. Januar 2018 (also ziemlich aktuell) schreibt: „Präsident Erdogan geht nach wie vor auch gegen die zivile Opposition, wie die gemäßigte kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP), vor. In diesem Zusammenhang sitzen nun auch mehrere Deutsche in türkischen Gefängnissen. Ihnen wird prokurdische Propaganda und Mitgliedschaft in Terrorarganisationen vorgeworfen.“ Um zu erfassen, wie gefährlich das für uns ist, muß man wissen, dass Erdogans Leute neue Straftatbestände erfunden haben, wie beispielsweise “unbewaffneten Terrorismus”, was im Klartext wohl jedwedes Aufdecken und Anprangern von Mißständen bedeutet. Und dass der Grad der Überwachung sowohl im Alltag, als auch im Internet ein unglaubliches Ausmaß angenommen hat.

Daher beschließen wir den ausführlichen Bericht unsere Erlebnisse und Beobachtungen im Blog (also das was ihr hier gerade lest) erst zu schreiben, wenn wir wieder aus der Türkei raus sind. Uns dafür aber regelmäßig auf unserer Hompage zu melden, damit “unsere Leute” wissen, dass wir nicht verhaftet sind.

dann wollen wir mal: am freitagmorgen soll es beizeiten losgehen, denn wir wollen rechtzeitig in diyarbakir/amed sein. aber dann fährt sich bulli im weichen sand fest. ich hatte schon vorgestern bei der ankunft befürchtungen, aber michel würde sicher recht haben: die grasnarbe würde für genügend festigkeit sorgen. denkste, bulli ist ja viel schwerer als ein normaler pkw. ein netter angler, der an der landzunge seine stippe ins wasser hält, hilft mit seinem auto gern, fährt sich aber selber fest. jetzt hilft nur noch ein trecker.

dem picknickplatz gegenüber auf der anderen straßenseite ist grade h… aus izmir bei seinen eltern zu besuch. welch ein zufall. er hat in frankfurt gelebt, eine deutsche ehefrau, spricht exellentes deutsch und telefoniert einen trecker herbei. den preis dafür hat er auch gleich heruntergehandelt.

Erster Versuch – bei dem sich unser Helfer selber festfährt.
H… und seine Eltern. Während wir auf den Trecker warten ist Zeit für einen Tee und einen Schwatz.
Für den Trecker ist es kein Problem.

der trecker zieht beide autos in null komma nichts aus dem sand, der angler bekommt noch ein paar mandarinen von mir zum dank in die hand, wir verabschieden uns bei allen aufs herzlichste und können endlich los.

es geht immer nach osten. an der abzweigung nach antiochia hinter adana wird uns ein wenig wehmütig. die tage im okober waren zu schön in dieser stadt. aber wir fahren weiter. auf dem rückweg werden wir noch einmal hinfahren.

die landschaft wechselt ihr aussehen je weiter wir nach osten fahren. was immer bleibt, ist die unendliche weite, durch die uns die fast leere landstraße führt. ab und zu tauchen städte auf. die seelenlosen hochhäuser, die die stadtränder säumen sind schon von weitem zu sehen.

Hochhäuser eines Vororts von Gaziantep auf dem Weg nach Diyarbakir/Amed.
Bullis Schatten begleitet uns im Abendlicht.

wir fahren durch eine hügelige steinsteppe. hier verlieren sich immer mal wieder nomadenlager. erst denken wir, es handelt sich um kleine flüchtlingslager. aber die zelte und unterstände sind zu wenig improvisiert und zu groß. wir sehen schaf- und ziegenherden mit ihren hirten. ein paar hunde sind auch immer dabei und im hintergrund erheben sich die berge mit ernsthaftem schnee. nicht nur mit ein paar verharschten flecken in den nordtälern. das land ist noch grün. wie sieht es hier im hochsommer aus, wenn die sonne brennt? die felder liegen voller steine. sie müssen mühsam frei geräumt werden. die steine liegen dann in großen haufen mitten im grün oder werden zu trockensteinmauern und -wällen aufgeschichtet. ich weiß, welche arbeit es macht, solche mauern zu bauen und es erfordert viel geschick und können und das land ist voll davon. so geht es kilometer um kilometer.

Nomaden und Hirten in der mesopotamischen Steppe.
Die Berge sind hier über 3.000 m hoch.
Steinfelder und Ackerland (das irgendwann mühsam von Steinen gesäubert wurde).
Noch mehr Steine und noch mehr Weite.
Die Straße ist überdimensioniert zu dem Verkehrsaufkommen.

wir übernachten auf einem parkplatz eines flughafens zwischen urfa und diyabakir/amed, weil wir nicht einschätzen können, wie sicher wir sind, wenn wir irgendwo in der landschaft stehen. unter kurden und nomaden machen wir uns keine gedanken. unsere sorge gilt eher dem türkischen militär, dem wir nicht trauen.

Und wo sind wir sicherer, als auf dem Flughafenparkplatz? Dort wird niemand nach subversiven Elementen suchen!

und dann taucht endlich diyarbarkir/amed auf.

Ihr kommt nicht drauf: Das Ortsschild von Diyarbakir/Amed.

Der Städtekrieg 2015/16

Bevor wir unsere eigenen Erlebnisse berichten, müssen wir über den “Städtekrieg” schreiben, der 2015/16 über Monate in der Südosttürkei, alias Nordkurdistan wütete. Die meisten unserer LeserInnen haben vermutlich noch nie etwas vom “Städtekrieg” gehört oder gelesen.

Uns Deutschen fallen zu “2015/16” und “Türkei” vor allem die hundertausenden syrischen Flüchtlinge ein, die über die Türkei, das Mittelmeer und die Balkanroute nach Deutschland kamen. Und dass die deutsche Kanzlerin Merkel dem türkischen Präsidenten Erdogan Geld und Waffen versprach, wenn er die Flüchtlinge aufhält und sie dieses Versprechen auch hielt.

Während Deutschand (also wir) der Türkei Waffen und Geld versprach, ließ diese im südosten ihres Landes mehr als 30 Städte und Provinzen mit Panzern und schwerer Artillerie beschießen, zum Teil mit Kampfflugzeugen bombardieren und sogar Phosphorbomben auf dichtbesiedelte Gebiete werfen. Und das, ohne dass die deutschen Medien größer darüber berichtet hätten.

Wir können uns nicht erklären, warum in Deutschland darüber so wenig berichtet wurde und halten es für ein eklatantes Versagen der deutschen Zeitungen und Sendeanstalten. Wenn wir einem Staat, der dabei ist sich von einer Demokratie in eine Autokratie zu verwandeln und seine eigenen Städte bombardiert, im großen Maßstab Waffen schenken, dann ist das doch berichtenswert. – Es ist sogar mehr als das: Es ist “berichtenspflichtig”!

Die folgende Übersicht der Ereignisse basiert hauptsächlich auf Veröffentlichungen der Bundeszentrale für politische Bildung (pbp), die ich von deren Hompage heruntergeladen habe. Wobei ich die Fakten natürlich prokurdisch gefiltert lese und schreibe. (Ich erhebe Anspruch auf Ehrlichkeit und Authentizität, aber nicht auf objektive Neutralität.)

Das Ende des Friedensprozesses zwischen dem türkischen Staat und der PKK:

  • Er kam im Herbst 2013 ins Stocken, denn es gab für die Kurden zwar “einige Verbesserungen […], etwa die Aufhebung des Buchstabenverbots der im kurdischen Alphabet gebrauchten Buchstaben X, Q und W. Aber substantielle Fortschritte im Hinblick auf die wesentlichen Forderungen der Kurden wie das Recht auf Erziehung in kurdischer Sprache blieben aus”. [bpb]
  • Er drohte zu enden, als im Oktober 2014 die syrisch-kurdische Stadt Kobane, die direkt an der türkischen Grenze liegt, vom Daesch (bei uns als “IS” bekannt) belagert wurde und die türkische Regierung sich weigerte, einen Hilfskorridor zu öffnen und Hunderte freiwillige türkische Kurden, die den Widerstand der syrischen Kurden gegen den Daesch (“IS”) unterstützen wollten, am Grenzübertritt hinderte. Erdogan spekulierte auf den Fall Kobanes , was er in Reden auch lautstark kundtat. Es gelang der kurdischen YPG jedoch, Kobane zu halten, dank US-amerikanischer Luftunterstützung.
  • Er endete, als die Türkei am 24. Juli 2015 eine grenzüberschreitende Offensive gegen die PKK startete. Die Gewalt eskalierte!

Der Städtekrieg 2015/16:

  • Mit Hilfe ihrer Jugendorganisation YPG-H trug die PKK den Krieg in die kurdischen Städte im Südosten der Türkei. Die Jugendlichen hoben in den engen Innen- und Altstadtgassen Barrikaden aus und spannten Planen über zwischen den eng zusammen stehenden Häusern, um sich vor Scharfschützen und Drohnen zu schützen.
  • Die besetzten Innen- und Altstädte in einem “klassischen Häuserkampf” zurückzuerobern wäre für die türkische Armee vermutlich sehr verlustreich geworden, obwohl die Verteidiger im wesentlichen “nur” mit Kalaschnikows bewaffnet waren. In den engen verwinkelten Gassen hätte sie ihre materielle Überlegenheit nicht hätte zum Einsatz bringen können. Panzer passen hinein und auf Distanzen von wenigen Metern sind alle Gewehre und Schützen gleich gut.
  • Der Staat schlug mit exzessiver Gewalt zurück, indem er betroffene Provinzen und Städte bombardierte, monatelange Ausganssperren verhängte, viele Orte zu speziellen Sicherheitszonen erklärte und den medialen Zugang komplett kappte. Der Städtekrieg hielt monatelang an, bis im Frühsommer 2016 die Regierung die Kontrolle wieder erlangte.” [bpb]
  • Infolge des erbarmungslos geführten Städtekriegs bis Frühjahr 2016 wurden viele Zivilisten vor allem durch Scharfschützen getötet. 400.000 Menschen wurden zu Binnenflüchtlingen. Zahlreiche historische Stadtviertel – darunter auch die historische Altstadt der kurdischen Metropole Diyarbakir – sowie Lebensgrundlagen wurden komplett zerstört.” [bpb]

Soweit erstmal als Überblick und Grundlage. Wir in unseren persönlichen Berichten noch mehr erzählen.

Diyarbakir/Amed: zerstörtes Weltkulturerbe

Sa 17. Mrz 2018

Stadt unter Besatzung

Diyargakir/Amed empfängt uns als Stadt unter Besatzung. Auf dem mehrere hundert Kilometer langen Weg von der Mittelmeerküste bei Mersin hierher waren uns kaum Checkpoints aufgefallen. (Allerdings sind wir in den letzten Monaten auch eher das Westjordanland als Schleswig-Holstein gewohnt. – Vielleicht ist uns da der Maßstab verrutscht.) In Diyarbakir/Amed sieht das anders aus.

An allen Zugängen zur Stadt, an allen wichtigen Verkehrsknotenpunkten, an allen Toren der Altstadtmauer und vielen Straßenecken gibt es Polizei-Armee-Posten. (Polizei und Armee sind hier für uns oft kaum zu unterscheiden.) Meine Hochrechnung ergibt, dass es über 50 große Polizei-Armee-Posten in der Stadt gibt. Jeder besteht mindestens aus einem Wasserwerfer, einem Radpanzer mit einsatzbereitem ferngesteuertem Maschinengewehr, einem Container (der schußsicher, also ein Bunker ist), Sandsackbarrikaden, schußsicheren Stellwänden mit Schießscharten und mehrern Soldaten und(!) Polizisten mit Kalaschnikows. – Leider können wir diese Posten nicht photographieren. Als ich es versuche, werde ich fast wegen Spionage festgenommen.

Die Polizei patrouilliert hier nicht mit normalen Streifenwagen sondern mit Radpanzern. – Wie gesagt, können wir das leider nur sehr unzureichend photogaphisch dokumentieren.

Zerstörtes Weltkulturerbe

Zunächst checken wir in dem Hotel ein, in dem auch der Rest der deutschen Delegation wohnt. Bulli parkt davor auf dem Hotelparkplatz. Da die anderen Delegationsteilnehmer im Laufe des Tages eintrudeln, gehen wir erstmal in Innenstadt.

Die Altstadtmauer von Diyarbakir/Amed mit einem der Stadttore. Wer genau hinsieht sieht einen Wasserwerfer (weiß) und einen teil des Polizei-Armee-Postens, den ich zufällig mitphotographiert habe.
Alte aramäische Inschrift an der Stadtmauer.

Die Altstadt ist – oder besser gesagt war – zusammen mit den darunterliegenden Gärten am Tigris Weltkulturerbe. Doch im Städtekrieg 2015/16 wurde sie zu mehr als der Hälfte zerstört.

Auf diesem Sattelitenbild von Google-Maps sieht man rechts eine große graue Fläche, auf der Google-Maps zwar noch Straßen einzeichnet, die es aber nicht mehr gibt. Desgleichen bei zwei kleineren Flächen unten links.

Auf dem Google-Maps-Bild oben sieht man in der Innenstadt zwei große Straßen, die Melik Ahmet Caddesi und die Gazi Caddesi. Sie sind heute mit großem Poizeiaufgebot gesperrt, weil Erdogan in der Stadt ist und sie einweiht. Sie wurden nach dem Städtekrieg “wieder aufgebaut” – dazu morgen mehr. Auf jeden Fall gibt es eine große Jubelfeier für Erdogen. Eine Lehrerin wird uns später erzählen, dass ihr und allen Kollegen per SMS befohlen wurde, zur Pro-Erdogan-Kundgebung zu kommen und ein Beweis-Selfie von dort zu schicken. Extra für Erdogan wurden Blumen gepflanzt und die Straßen und Seitenstraßen auf seinem Weg durch die Stadt herausgeputzt. Bei den Seitenstraßen konnten wir uns anschließend davon überzeugen, dass sie nur so weit gepflastert waren, wie Erdogan sie von seinem Wagen aus sehen konnte. – Das haben sie früher bei Honnecker auch so gemacht.

Wir gehen zur Altstadtfestung (auf dem Google-Maps-Bild oben rechts).

Heute ist innerhalb der Festungsmauern ein schöner Park. Früher waren hier Häuser und enge Gassen. – Nachdem die Trümmer des Städtekrieges weggeräumt waren, hat die Türkei mit schnellwachsenden Rasenmatten wortwörtlich Gras über die Sache wachsen lassen.

Von der Mauer der Altstadtfestung aus können wir in die 2015/16 umkämpften und immernoch gesperrten Gebiete sehen.

Die Trümmer sind beseitigt. Der Neubau hat begonnen.
Unser Lonely Planet schreibt: “Innerhalb der Stadtmauern breitet sich ein Labyrinth aus engen, gewundenen und meist namenlosen Gassen aus.” – Das ist dann ja wohl veraltet.
Bitte versuche Dir vorzustellen wieviel mesopotamische Altstadt, wieviel Leben auf diesem “Parkplatz” einmal gepaßt hat.

Bummel durch den Altstadtrest

Beim Altstadtbummel geraten wir “zufällig” in den zerstörten Bereich. Als wir der Polizei gegenüber angeben die alte aramäische Kirche zu suchen, begleiten uns zwei Zivilpolizisten hin.

In dieser aramäischen Kirche feiern auch die letzten 100 armenischen Christen der Stadt ihre Gottesdienste. Denn ihre Kirche liegt oder lag im zerstörten Sperrgebiet.

Die photoscheuen Zivilpolizisten lungern noch länger mit uns in der Kirche herum. Als wir Kerzen anzünden, beten und “Dona Nobis Pacem” singen, schreiben sie uns irgendwann als verschrobene Bekloppte ab und lassen uns alleine.

Altstadtgasse: So muß der Rest auch mal ausgesehen haben.
Und plötzlich hören Straße und Leben auf. (Bis auf die Polizei direkt rechts hinter der Ecke.)
Überall und immer wieder Wasserwerfer, Radpanzer, Soldaten hinter Schießscharten. Wie schon gesagt, sind über 50 Wasserwerfer und das mehrfache an Radpanzern permanent im Straßenbild der Stadt präsent.
Eine der Karavansereien, der Oasen im (noch stehenden Teil) der Altstadt.

Es ist erstaunlich leicht mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Genau genommen ist es schwer, das nicht zu tun. Denn immer wieder sprechen sie uns an! – Die Gespräche sind ungewöhnlich und erstaunlich. Einerseits achten alle immer darauf, dass niemand mithört. Und vieles wird auch nicht direkt erwähnt. So spricht man Worte wie “PKK” oder “Erdogan” nicht aus. Man umschreibt eher. Oder läßt eine Lücke mitten im Satz. Abgesehen davon sind die Menschen, denen wir begegnen aber erstaunlich offen und direkt. – Wir haben uns übrigens entschlossen, von keinem von ihnen ein Bild hochzuladen, um sie nicht zu gefährden.

Sie sprechen “offen” über den Beschuß ihrer Stadt mit schwerer Artillerie im Städtekrieg oder den derzeitigen Krieg in Afrin. – Der Mut und die Lebensfreude dieser Menschen beeindruckt uns immer wieder aufs Neue.

Hotel, Stadt und Menschen

das hotel liegt mitten in der stadt, bulli bekommt seinen platz direkt vor der tür und ist gut bewacht, wir residieren im 6. stockwerk, der portier bringt unsere klamottenkisten nach oben in ein für uns unendlich großes zimmer mit allem drum und dran. im bad ist alles da, was das herz begehrt, vor allem eine große dusche und heißes wasser ohne ende. – ich werd nicht wieder!

entzückend: in großen spendern steht shampoo, haarspülung und duschgel bereit. in grün und gelb und rot, den farben kurdistans. in der empfangshalle stehen auf dem tresen eine stellage mit verschiedenen internationalen kleinen fahnen. die türkische natürlich ganz oben in der mitte. aber gleich daneben eine kurdische, die so drapiert ist, das sie die türkische verdeckt. wir sind am richtigen ort.

das leben in den noch intakten straßen der altstadt ist stiller als in anderen altstädten. ja, es sind menschen in den gassen und wenn wir vorbeigehen und ‘rojbas’ (wird “roschbasch” ausgesprochen und ist kurdisch für ‘hallo’) sagen, werden wir angelacht. von jungen männern ebenso wie von alten frauen. sie tragen oft, wie auch ältere männer, dünne weiße kopftücher, die wesentlich loser um die haare gebunden sind, als in der türkei. immer wieder streifen polizisten durch die gassen. in zivilkleidung, aber mit polizeiweste, pistole im halfter und funkgerät in der hand. sie zeigen präsenz, damit keiner auf die idee kommt, er würde nicht beobachtet. sie sind nicht unfreundlich, aber da.

die neugier der menschen auf uns ist groß. viele sprechen gutes englisch und wenn nicht, ist schnell jemand an unserer seite und hilft. es sind unaufdringlichere kontakte. distanzierter, vorsichtiger, aber sehr warm. ich kann noch nicht recht den daumen drauf halten, was anders ist. das gilt es in den nächsten tagen herauszufinden.

abends gehen wir mit den schon angekommenen delegationsmitgliedern essen und als alle teilnehmer der deutschen delegation im hotel sind, kommen e…und e… von der HDP dazu und wir kriegen die ersten informationen über die delegationstermine. wir haben ein strammes programm vor uns, in dem wir viele organisationen und initiativen kennenlernen werden, die uns über ihre arbeit und zu kurdistan und diyarbakir/amed aufschlauen. wir werden mit einem kleinbus überall hingefahren werden, bekommen von e… ihre telefonnummer, falls etwas ist.

wir vergessen nicht, daß heute st.-patricks-day ist. wir trinken vor dem hotel noch ein bier auf irland. das hotelbett, in das wir anschießend fallen, ist erschreckend breit und weich und läßt einen leicht vergessen, daß draußen die welt ein polizeistaat ist.

Ökologie und Kultur

So. 18. Mrz 2018

E… und E… von HDP haben für uns ein strammes Programm ausgearbeitet, da sie uns in den Tagen bis Newroz einen möglichst breiten Einblick in den kurdischen zivilgesellschaftlichen Widerstand geben wollen. Der heutige Tag steht für uns, die 6 Deutschen sowie die Delegationen aus Schweden und dem Baskenland, unter dem Motto Ökologie und Kultur.

Das Ökolandbauprojekt

Zuerst fahren wir zu einem Ökolandbauprojekt etwas außerhalb der Stadt. Auf dem Weg haben wir Gelegenheit die weite Landschaft und den aktuellen Stand der Polizei-, Militär- und Überwachungstechnik zu bewundern.

Als wir ankommen kocht der Tee schon. (Die Kanne steht normalerweise auf dem zu sehenden Öfchen, ist gerade zum Einschenken abgenommen.)
Während einige aufmerksam zuhören, genießen andere vor allem die Sonne (die meisten Delegationsteilnehmer kommen ja gerade aus dem kalten Nordeuropa).
Sie haben unter anderem ein Lehmhaus gebaut, dass eine unglaublich angenehme Atmosphäre hat.

Ich frage mich, ob so ein bißchen Ökolandbau, Lehmhaus selber Bauen und basisdemokratische Strukturen Einüben tatsächlich eine sinnvolle Beschäftigung ist, angesichts der fühlbaren Gewalt ringsum, der Zerstörung der alten Städte und der schnell wachsenden seelenlosen Vorstädte aus Betonhochhäusern und komme nach einigem Nachdenken und Nachfühlen zu dem Schluß: Ja, das ist es tatsächlich! – Die gelebte Utopie ist Widerstand. Ein selbstgebautes Lehmhaus (so klein es auch sei), ist in seiner Indivitalität und Kreativität eine richtige Antwort auf die erdoganschen Betonwohnwüsten.

die frau, die uns alles zeigt, erzählt, daß früher die meisten häuser in kurdistan aus lehm gemacht waren. es gibt hier in der gegend noch etliche dörfer, in denen welche stehen.

ich freue mich sehr, daß jemand fragt, ob es welche gibt, die lust haben, auf im knoblauchfeld unkraut zu hacken. ich bin sofort dabei. das gemüse wird ökologisch angebaut und es werden samen gezogen. diese werden an interessenten in der umgebung und in diyarbarkir/amed verschenkt, damit eigenes gemüse gezogen werden kann und die menschen unabhängiger vom eingeführten gemüse aus anderen teilen der türkei sind. eigenhändig gezogenes gemüse aus der gegend ist qualitativ hochwertiger und hilft, kurdische indentität zu wahren, die doch an so vielen stellen unterdrückt wird. da helf ich doch gern beim unkraut jäten.

Bina ist froh, ganz praktisch Hand anlegen zu können.

Der Mann, der im Bild oben mit bina zusammen hackt, ist eigentlich Lehrer er wurde im Zuge der “Säuberungen im gesamten politischen und zivilgesellschaftlichen Spektrum der Kurden” [bdb] entlassen. “Bis zu 14.000 Lehrerinnen und Lehrer im Südosten wurden suspendiert.” [bpb] Er sagte, dass die praktische Arbeit hier für ihn auch eine Art Arbeitstherapie sei.

Eine anwesende Biolehrerin, die noch nicht entlassen wurde, erzählte mir, wie sie heimlich ausgewählten Schülern die aus den Lehrplänen verbannte Evolutionslehre beibringe. – Eine unbesungene Heldin der Wissenschaft und Aufklärung.

Bedrohte Gärten am Tigrisufer

Anschließend geht es in die Hevsel-Gärten unterhalb der Altstadtmauer am Tigrisufer. Die Hevsel-Gärten sind oder waren zusammen mit der 2015/16 im Städtekrieg zerstörten Altstadt Diyarbakirs/Ameds UNESCO-Weltkulturerbe. Hier leben über 100 endemische Tier- und Pflanzenarten. Unter anderem die durch die großen türkischen Staudammprojekte (dazu in ein paar Tagen mehr) bedrohte Tigrisschildkröte.

Jetzt sollen die Hevsel-Gärten einer Flanier- und Restaurantmeile mit Picknickareal weichen. Vermutlich für die Bewohner der Apartementhäuser, welche die Altstadthäuser ersetzen sollen. Da natürliche Flußufer in der Türkei auf 500m Breite geschützt sind, hat die Regierung den Tigris hierzu offiziell zum Bach degradiert. (Klar! Die kleinen Bäche dieser Welt: Euphrat, Tigris, Nil, Amazonas, …)

Die Frau von der Umweltini erklärt, wie sie um die Gärten kämpfen. Sie versuchen gegen die Degradierung des Tigris zum Bach zu klagen. Da die Zeitungen nicht über das Problem berichten (dürfen?), machen sie jede Sonntag Spaziergänge mit Picknick und Infovortrag in die Gärten. Jedes Mal mit einer anderen Gruppe. So wollen sie möglichst viele Menschen aufklären.

In den Hevsel-Gärten.
Oberhalb sieht man die Stadtmauer. Im Städtekrieg wurde die Bresche in die Mauer geschossen und die Häuser unterhalb der Mauer als Kollateralschaden zerstört.
Michel und K… geben am Ufer des Tigrisbaches ein Interview für Mesopotamia-TV. Ein freies Internetfernsehen, das bestimmt bald verboten wird.
Dieses Kampfflugzeug am blauen Himmel über uns fliegt nach Angaben unserer Begleiter nach Afrin. (Die Himmelsrichtung stimmt auf jeden Fall.)

Beobachtungen in der Stadt

Die türkische Armee zeigt an der Altstadtmauer, wer hier gewonnen hat.

Durch ein offenes Tor in der Sichtschutzwand gelingt mir dieser Schnappschuß:

Die neuen Apartementhäuser, die die Altstadthäuser ersetzen.

Hier sollen natürlich nicht die alten Bewohner der Gegend einziehen. Die sind (wie ich später im Gespräch erfahre) in einem Neubaugebiet mit Hochhäusern etwa eine Stunde Busfahrt entfernt untergebracht worden. – Im selben Gespräch erfahre ich übrigens, dass die kurdischen Farben Rot-Gelb-Grün im Gegensatz zur kurdischen Fahne zwar nicht offiziell, aber faktisch verboten sind. Was (kein Witz!) sogar so weit geht, dass sie ernsthaft die Ampelfarben ändern wollten.

Das berüchtigte Foltergefängnis von Diyarbakir.

Dass hier in den 90er Jahren gefoltert wurde, ist von Amnesty International belegt. Während des Friedensprozesses zwischen türkischem Staat und PKK hörte es auf. Aber jetzt mehren sich die Gerüchte und (noch nicht?) belegten Berichte wieder.

Das Hauptquartier der HDP, wo wir jeden Tag zu Mittag essen. Im Cafe gegenüber lungern gern auffälig sportliche Kerle mit Funkgeräten und Pistolen am Gürtel rum.
Eine der Straßen in der “Altstadt”, die Erdogan gestern eingeweiht hat.
Zum Vergleich hier eine der noch existierenden Altstadtgassen.

Zwei Prinzipien beim Wiederaufbau scheinen zu sein:

  1. -Straßen müssen breit genug für Fahrzeuge, Hauptstraßen breit genug für jeden Panzer sein. Schon Haussmann ließ in Paris nach der Niederschlagung der Kommune die heute so beliebten Boulevards anlegen, damit man das Volk mit Kanonen niederkartätschen konnte.
  2. Der traditionelle schwarze Basalt, der für Diyarbakir/Amed so typisch ist, und die verwinkelte Häuser, in denen sowohl gewohnt als auch gearbeitet wurde, sind zu ersetzen durch weiße Häuser mit großzügigen Appartements oder Geschäften.

Der Tag findet seinen Abschluß in einem sehr alten Cafehaus, das in den 40% nicht zerstörter Altstadt liegt. Der Eingang zum Innenhof ist im letzten Bild oben zu sehen. Es ist das Hauptquartier eines Kulturprojekts.

Hier treffen sich auch verschiedene Gruppen, die die traditionelle kurdische Musik pflegen.
Während die Basken sich die Köpfe heißdiskutieren…
…verlieben wir uns in diesen Raum.

Hier führen wir auch gute Gespräche mit Menschen, die nicht der HDP oder einer der Initativen angehören. Wobei wir und vor allem die Einheimischen sehr wohlbedacht auswählen. Man kann hier ja nicht alles direkt an- und aussprechen. Offen zu sagen, wie die türkische Armee hier gewütet hat, oder was man über den türkischen Einmarsch in Afrin denkt, würde vermutlich die Straftatbestände “Verächtlichmachung des Türkentums”, “Distanzierung vom Militär” und “Beleidigung des Präsidenten” erfüllen, sowie entweder “unbewaffneter Terrorismus” oder “Werbung für eine terroristische Vereinigung”. Also spielen wir eine Art Gesellschaftsspiel: Wer kann die Wahrheit am besten umschreiben, ohne sie direkt auszusprechen?

Afrin ist gefallen

Man sieht zwar keine Plakate und Demonstationen zum Einmarsch der türkischen Armee in die bisher vom Krieg verschonte syrisch-kurdische Provinz Afrin. Aber jeder hier spricht uns innerhalb der ersten fünf Minuten (durch die Blume) darauf an. Und sie sind sich der deutschen Panzer und Waffen, die dort zum Einsatz kommen, sehr bewußt.

Eigentlich sollten wir Internationalen heute Abend zum Schutz einem Treffen verschiedener zivilgesellschaftlicher Organisationen beiwohnen, auf dem diese eine Resolution zu Afrin verabschieden wollten. Doch da Afrin heute gefallen ist, ist die Resolution gegenstandslos geworden.

afrin ist gefallen. das klingt widerlich pathetisch. wir denken darüber nach, welches andere wort passender wäre. aber uns stockt der atem, als wir die kampflugzeuge am himmel sehen. wir kennen menschen, die aus dieser stadt kommen und noch mehr menschen, die angehörige dort haben und die würden es auch nicht anders sagen. deshalb bleibt es bei dieser wortwahl.

 

Sur-Platform, Medien, Peace Mothers

Mo. 19. Mrz 2018:

Heute stehen Treffen mit den drei in der Überschrift genannten Gruppen auf dem Programm. Die verschiedenen politisch aktiven KurdInnen, mit denen wir hier zu tun haben, sind wirklich unglaublich organisationsfähig, pünktlich und strukturiert. Nicht nur im Nahostmaßstab, die Palästinenser hatten uns mit ihrer Ineffektivität bisweilen ja fast in den Wahnsinn getrieben, sondern auch im Verhältnis zu allem, was wir von sozialen Bewegungen in Deutschland gewohnt sind. Und das bei Beibehaltung nahöstlicher Gastfreundlichkeit.

Sur-Plattform

Der Stadtteil Sur ist die Altstadt Diyarbakirs/Ameds und die Sur-Plattfrom eine Dachorganisation mehrerer Initativen und Verbände, die sich nach dem Städtekrieg 2015/16 gegründet hat und verhindern will, dass die Altstadt komplett abgerissen, durch Neubauten ersetzt und die alteingesessenen Einwohner umgesiedelt werden. Wir treffen die VertreterInnen der Sur-Plattform in einem der traditionellen Cafehäuser, im noch stehenden Teil der Altstadt.

Das Cafehaus liegt in der Schmiedegasse.
Und “Schmiedegasse” heißt hier wirklich Schiedegasse!
Das Caffe wird von einer Kooperative betrieben und beherbergt auch einen Laden mit kurdischer und ins Kurdische übersetzter Literatur.
Der Kurdische Kaffee ist wirklich etwas besonderes und mehr als erwähnenswert. Er wird aus Pistatzien gemacht und ist daher in Wirklichkeit gar kein Kaffee. Er wird immer mit einer kleinen traditionellen Süßigkeit serviert und schmeckt sagenhaft gut.

ich kann das nur bestätigen. er schmeckt ein bischen wie gewürzte heiße schokolade und ich schmecke nicht raus, was für gewürze das sein könnten. später habe ich in der küche den mut zu fragen. mit viel spaß erklären mir alle, die dort arbeiten, wie man ihn macht. es ist tatsächlich ein fertigkaffee aus einer speziellen wilden pistazienart, die stark ölhaltig ist und langsam mit milch und zucker aufgekocht wird. es werden gleich zwei gläser von dem kaffee gekauft und im bulli gut verstaut.

Wir erfahren, dass die Zerstörung Surs schon vor dem Städtekrieg 2015/16 begann. Im Jahr 2012 wurden die ersten Straßenzüge der Altstadt abgerissen, um sie durch Appartementneubauten zu ersetzen. Zur Erinnerung: Wir sprechen hier über ein UNESCO-Weltkulturerbe! Damals gab es massiven Widerstand, der zum Ende – oder besser zur Unterbrechung der “urban renovation” (toller Euphemismus) führte.

Dann kam der Städtekrieg. Im Spätsommer 2015 verschanzten sich hunderte Jugendliche in der verwinkelten Altstadt. Die meisten zwischen 17 und 24 Jahre alt und von hier. Viele, aber nicht alle waren wohl der PKK-Jugendorganisation YPG-H zuzuordnen. Sie hatten Kalaschnikows, hoben Barrikaden aus und hängten Planen über die Gassen, um sich vor Drohnen zu schützen. Im klassischen Häuserkampf wären sie für die türkische Armee nur unter sehr großen Verlusten aus dem Altstadtlabyrinth, das für schweres Gerät unpassierbar ist und das sie wie ihre Westentasche kannten, zu vertreiben gewesen.

Die türkische Armee sperrte die gesamte Altstadt ab, was aufgrund der historischen Altstadtmauer sehr gut ging und beschoß die besetzten Bereiche (die Jugendlichen hatten nur die verwinkeltere Hälfte besetzt) 105 Tage lang mit Panzern und schwerer Artillerie. Da die Türkei keine unabhängigen Untersuchungen zuläßt und die größten Teile des ehemaligen Kampfgebiets immer noch Sperrgebiet sind, gibt es keine zuverlässige Opferzahl. Unsere Gesprächspartner gehen von grob 800 Jugendlichen aus, die im Granatenhagel starben. Klar ist jedoch, dass mehr als 3.000 Häuser zerstört und mehr als 35.000 Menschen vertrieben wurden. Im Rahmen der “urban transformation” (noch so ein toller Euphemismus) wurden sie in Hochhäusern in weit entfernten Außenstadtteilen angesiedelt.

Seit 2017 geht auch die normale “urban renovation” wieder weiter. Zum Teil werden die Häuser abgerissen während die Bewohner noch darin sind. Die “Entschädigungen” betragen umgerechnet etwa 2.500€ pro Haus.

Die Altstadt Diyarbakirs/Ameds war seit 7.000 (In Worten: siebentausend!) Jahren durchgehend bewohnt und hat in dieser Zeit keine vergleichbare Zerstörung erlebt. Die Aktivisten der Sur-Plattform vermuten, dass es vor allem um die Zerstörung der besonderen sozialen Struktur der Altstadt geht. Sie war das soziale Gedächtnis der Stadt, ein Zentrum kurdischer Identität und außerdem durch ihre bauliche Struktur schwer polizeilich-militärisch zu kontrollieren.

In den anonymen Hochaussiedlungen am Stadtrand sind die Menschen vereinzelt und besser zu kontrollieren. Die Neubaupläne für die “Altstadt” sehen vor, 3m breite Straßen auf 20m aufzuweiten, um Manövrierplatz für Panzer zu schaffen und 6 weitere große Polizeistationen sowie jeweils eine kleine Polizeistation an jeder Ecke zu errichten. Die Häuser sollen zwar zum Teil von außen wie traditionelle Häuser aussehen, aber ihre innere Struktur ist völlig anders: Statt der Durchgänge und Innenhöfe Appartementhäuser mit nur einem kameraüberwachten Eingang, der gut zu kontrollieren ist.

ich hatte immer die vorstellung, ein staat ist für die menschen da, die in seinem gebiet leben, bzw. ihn erst möglich machen. naiv? vielleicht. hier wird, vom staat angeordnet, ein stadtteil zerstört. und nicht nur das. es gehen damit jahrhunderte alte sozialstrukturen kaputt. menschen werden einfach umgetopft und es ist dem staat scheißegal, was aus ihnen wird. weil er grade dieses volk eigentlich weg haben will. weil es durch seine lebensweise und kultur eine gefahr für seine macht darstellt. weil sie nicht funktionieren, wie er es gern hätte. dazu wird ein überwachungsstaat installiert, der george orwells ideen lächerlich aussehen lassen. ich werde rasend, wenn ich mir überlege, was hier grade passiert.

Dann machen wir noch einen Stadtspaziergang!

Hinter diesem schönen Transparent beginnt die Sperrzone.
Blick hinter das Transparent: Wortwörtlich “dem Erdboden gleich gemacht”!
Das Ausmaß der Kameraüberwachung ist wirklich unglaublich.
Eine der neuen “Gassen”. Breit genug für Fahrzeuge und mit “schönen” Appartementhäusern.
Dieser Bereich wurde erst vor wenigen Monaten im Rahmen der “urban renovation” platt gemacht und ist daher keine Sperrzone.
Man beachte die schöne Verzierung.
Wirkt eher wie eine Burg, als wie eine Polizeistation.

ich bombardiere eine frau von der sur-plattform mit fragen. ich will wissen, wie ihr leben unter der besatzung als aktivistin aussieht. sie arbeitet immer noch in einem büro für stadtplanung (vielmehr darf sie arbeiten…sagt sie). aber ihr pass wurde eingezogen, um sie unter kontrolle zu halten und sie würde auch ständig von zivilpolizei beobachtet und begleitet. jederzeit sei mit kontrollen zu rechnen und jederzeit könne sie arbeitsverbot bekommen. ich will wissen, wie sie das aushält. sie wirkt auf mich fröhlich, fast ausgelassen, entspannt. sie lacht viel. was macht sie, daß sie nicht ständig mit zusammengebissenen zähnen und der faust in der tasche herum läuft, wie ich es täte?

wieder lacht sie:”oh, anfangs dachte ich auch, ich halte das nicht aus. aber irgendwann hab ich mich an die polizei gewöhnt. ich bin ja nicht allein, allen meinen freunden geht es wie mir. wir bestärken uns gegenseitig und sorgen dafür, daß wie neben all der arbeit auch freuden haben. euch das zu zeigen, macht spaß und ist therapie. ich besuche nächste woche meine eltern und weiß, daß sie mich unterstützen. meine mutter wird mein lieblingsessen für mich kochen. und wenn sie mich ins gefängnis stecken, dann tun sie es halt. ich bin ja nicht die einzige, die sitzt.” – “für wen machst du diese arbeit?” – “erst machte ich sie für mich, als therapie. ich habe im jetzt zerstörten teil von sur gelebt. aber wahrscheinlich werde ich nichts von meiner arbeit haben. meine nichten und neffen werden hoffentlich die früchte ernten, vielleicht auch erst ihre kinder. und ich mache es für mein volk”. zum abschied umarmen wir uns.

Freie Presse

Laut der Organisation Reporter ohne Grenzen befand sich die Türkei im Jahr 2016 weltweit beim Thema Pressefreiheit auf dem 151ten von 180 Plätzen und ich bin mir sicher, dass sie seitdem noch weiter abgerutscht ist.

Eine offizielle Zensur gibt es anscheinend nicht. Es läuft offensichtlich über zwei andere Mechanismen:

  1. Fast alle Zeitungen und Fernsehsender werden von großen regierungsnahen Konzernen, vor allem Baukonzernen, aufgekauft und die Erteilung staatlicher Aufträge und Bauaufträge wird direkt an erdoganfreundliche Berichterstattung geknüpft. – Das habe ich mir nicht ausgedacht, sondern aus dem von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen Magazin “Aus Politik und Zeitgeschichte” (ApuZ).
  2. Kritische Journalisten werden eingesperrt. Passende Paragraphen und Strafstatbestände bietet das türkische “Recht” ja zu genüge.

Wir treffen mit kritischen kurdischen Journalisten zusammen. Ihren Mut und ihre Opferbereitschaft (ja, dies pathetische Wort ist hier richtig am Platze) beeindrucken uns tief.

Wir erfahren unter anderem, dass derzeit über 50 kurdische Journalisten im Gefängnis sitzen und dass 800 Menschen festgenommen wurden, weil sie sich auf Twitter oder Facebook zu Afrin geäußert haben.

Wir erfahren, wie wichtig Internetzeitungen und Internetfernsehen für die freie Presse hier sind. Wie oft sie verboten werden. Wie oft ihre Handies, Computer und Kameras beschlagnahmt werden. Und mit welcher Beharrlichkeit sie weiter machen. “Wir besorgen uns dann neue Computer und machen eine neue Homepage auf.”, erzählte einer der Journalisten.

Bina am Moderationstisch eines freien kurdischen Fernsehsenders im Internet. Zitat des uns rumführenden Journalisten: “In einem halben Jahr sind wir auch wieder verboten und das hier alles wieder beschlagnahmt.”

Peace Mothers

Die Peace Mothers sind eine Gruppe von Frauen, die Kinder und oft auch andere Angehörige in diesem Konflikt verloren haben. Wobei “dieser Konflikt” alle Auseinandersetzungen der Kurden mit dem türkischen Staat, Saddam Hussein, dem Daesch (IS) und so weiter beinhaltet. Dass die Peace Mothers keine neutrale Friedensgruppe sind, sondern fest auf kurdischer Seite stehen, ist klar und nachvollziehbar. Sie leben unter in jedem Augenblick spürbarer türkischer Besatzung und ihre Kinder haben oft für die PKK oder YPG gekämpft.

Diese Art Türen kennen wir schon von anderen Gruppen. Hinter einer sehr soliden Stahltür mit sehr soliden Riegeln liegt eine zweite baugleiche Tür. Das macht es für die Polizei aufwändiger die Tür einztreten.
Bei den Peacemothers.

Es ist hart den Frauen zuzuhören. Wir fühlen uns unwohl in unserer Haut. Schuldig, weil wir Deutsche, weil wir Europäer sind. Weil unser Land der Türkei Erdogans einen Teil Waffen verkauft oder sogar geschenkt hat, mit ihre Kinder getötet wurden. Sie werfen Europa und dem Westen vor, dass sie die Kurden zur Bekämpfung des Daesch benutzt zu haben und nun fallen gelassen werden. Die Leopard-Panzer in Afrin, die gerade überall in den Nachrichten sind, die deutschen Panzer der türkischen Armee, machen geradezu körperlich fühlbar, wie recht sie haben.

Das Einzige was wir tun kann, ist, ihre Wut auszuhalten, ihnen eine Adresse, ein Gegenüber dafür zu geben. Zu versuchen, ihnen hier eine Stimme zu geben. Ich versuche mitzuschreiben, was sie sagen, und versuche nun hier es widerzugeben:

Es ist schwer ihre Worte, ihre Blicke auszuhalten.
  • Ihr habt uns für eure Interessen geopfert. Wir haben für euch gekämpft.
  • Mein Sohn ist in Kobane gestorben. Mein anderer Sohn sitzt im Gefängnis.
  • Wir halten euch für Afrin verantwortlich.
  • Ihr habt eure Waffen verkauft.
  • Die Werte der EU! Europa, sind das eure Werte? Gerechtigkeit und Menschlichkeit?
  • Wir sehen eure Kinder und Schulen, Häuser und Fabriken. Wenn ihr herkommt, seht ihr Gefängnisse.

 

  • Diyarbakir ist ein Gefängnis.
  • Wir haben keine Panzer, keine Artillerie.
  • Wir können nicht einmal unsere Häuser verlassen, ohne ins Gefängnis gesteckt zu werden.
  • Was macht Europa?

 

  • Ich habe heute mit einer Mutter in Afrin telephoniert, mit den Bombern über ihrem Kopf.
  • Europa! Deutschland! Wo ist deine Humanität? Wo sind deine Werte?

 

  • Rojawa wurde vor 5 Jahren befreit. (Anmerkung: Rojava ist der kurdische Name für den kurdischen Teil Syriens.)
  • Ohne YPG und YPJ wäre die Gegend kein Hafen für Flüchtlinge geworden.
  • Ohne sie würden immernoch Bomben von Daesch in Europa explodieren.
  • Afrin war ein Hafen für Kurden, Araber, Armenier…
  • Die EU verkauft Waffen an die Türkei.
  • Vor Jahren wurden Vertreter von YPG und YPJ zu Konferenzen nach Europa eingeladen. Jetzt wird Erdogan eingeladen.
  • In der Türkei werden Menschen, die gegen den Krieg demonstrieren verhaftet.
  • Besonders Deutschland versorgt Erdogan mit Waffen.
  • Wenn ein Staat Angst vor seinen Bürgern hat, ist das keine Demokratie.

 

  • Erdogan sagt, er gibt Afrin den rechtmäßigen Eigentümern zurück. Wir sehen Islamisten. Will Deutschland das?
Während wir mit den Peace Mothers reden, bezieht unten vorm Hauseingang Zivilpolizei Stellung. – Zivilpolizei mit Panzerwagen, extrem unauffällig!

Als wir das Haus verlassen und wegfahren wollen, halten sie uns auf, sammeln die Pässe ein, um sie zu kontrollieren und üben sich ein wenig darin, uns einzuschüchtern und zu schikanieren. – Wir sind erleichtert, als sie uns die Pässe zurückgeben und ziehen lassen.

Abends gehen wir noch mit einer der Übersetzerinnen und ihrem Mann Essen. Dabei erfahre ich, dass einige der Mütter Kinder in Afrin haben. Ich stelle fest, dass ich der Argumentation, “Ihr in Deutschland wollt keine weiteren Syrer haben. Also gebt ihr Erdogan seit 2015 Geld und Waffen, während hier die Städte platt gemacht werden. Ihr habt keine Ausländer als Nachbarn und hier sterben die Menschen. Wo sind da die Europäischen Werte?”, nichts entgegenzusetzen habe. Alles was ich zur Verteidigung und Relativierung sagen könnte, alles, was in Deutschland innenpolitisch sinnvoll klingen würde, wäre hier unglaublich abgeschmackt.

morgens im hotel stellen wir beim rucksack-kontrollieren fest, daß mein pass weg ist. der schreck fährt uns in alle glieder. ich habe zwar noch einen zweiten im bulli, aber der hat keine türkischen einreisestempel. auf den legen die polizei- und armee-posten ausgesprochen großen wert, wenn sie die ausweise kontrollieren. eine kurze recherche ergibt, daß er nur im cafe liegen geblieben sein kann. michel hatte ihn mir gestern gegeben, weil ich ein delegationsmitglied zum hotel begleitet hab, das aus sicherheitsgründen nicht allein zum hotel zurück gehen wollte. als ich ins cafe zurück kam, muß er auf dem tisch liegen geblieben sein. zum glück hatten wir das foto von dem eingang, so konnten wir den namen herausfinden. der mensch an der rezeption ermittelte die telefonnummer und sprach mit jemandem dort. man hat den pass gefunden, verwahrt und wir könnten ihn gleich abholen. ich fange an, die leute hier wirklich zu lieben.

e…von der HDP holt uns vom hotel ab und sie organisiert, daß der pass im cafe abgeholt wird und in der HDP-Zentrale auf mich wartet. wir wären gern selbst schnell ins cafe gegangen, zumal wir dort in der nähe unterwegs waren, doch nun war schon alles organisiert. ohne pass in dieser stadt herum zu laufen, ist nicht günstig. bei der polizeikontrolle nach dem besuch der peacemothers konnte ich nur meinen personalausweis vorzeigen, der nicht akzeptiert wurde und e… kann gerade noch abwenden, dass ich festgenommen werde. anstatt ihn morgen bei der HDP wieder zu bekommen, schickt e… extra noch mal einen fahrer los, der ihn mir abends ins hotel bringt.

Einer der Zivilpolizisten fragt uns barsch, was die deutsche Polizei wohl machen würde, wenn sie jemanden “nur” mit einem Personalausweis aufgreift. (Der deutsche Personalausweis ist laut deutscher Botschaft übrigens offiziell auch in der Türkei ein ausreichendes Ausweisdokument. Sogar zur Ein- und Ausreise.) Meine Antwort, “Nichts!”, enttäuscht ihn offensichtlich.

einen nachtrag zum gestrigen trommelfoto hab ich noch:

diese trommeln heißen ‘êrbane’. die klangvielfalt ähnelt der von mir selbst gespielten irischen bodhran, nur die bässe sind weniger tief, klar, bei den schmalen rahmen. der unterricht, der grad abgehalten wurde, kam mir sehr vertraut vor. man sitzt im kreis, jede/r hat ein instrument in der hand, auf einer tafel sind schlagmuster aufgezeichnet. mir wohlbekannt mit pfeilen, die hoch und runter zeigen für up- und down-strokes, dick oder dünner sind für betonungen oder nicht. für jedes lied gibt es festgelegte schlagmuster und wer’s kennt spielt mit, wer nicht, hält einfach mal die klappe. zum üben wirds ganz langsam gespielt und mitgezählt. ich hab in dem moment sehr große sehnsucht nach all meinen lieben aus meinen kursen, den sessions und nach guido plüschke, meinem lehrer. Und ich ärgere mich sehr, daß ich das angebot, mir eine êrbane zu schnappen und mit zu üben, nicht angenommen habe.

HDP & parteinahe Organisationen

Di 20. Mrz 2018

Wir bleiben den ganzen Tag im Büro der HDP und hören Vorträge.

Aber bevor es losgeht, nutzt Michel die Gelegenheit mal an einem angemessenen Chefschreibtisch zu sitzen. – Das kleine Tischchen davor ist vermutlich nicht für die Sekretärin, sondern für Tee und Kaffee.

HDP

Es beginnt mit einem Vortrag von Hisyar Aksoy, der für die HDP im Parlament sitzt.

Die HDP wird in der Türkei als politischer Arm der PKK wahrgenommen. Was unserer Wahrnehmung nach weder wirklich richtig noch komplett falsch ist. Auf jeden Fall ist sie der parlamentarische Arm des kurdischen Widerstandes (was nicht das Selbe wie die PKK ist). Und es gelingt ihr nicht, sich glaubwürdig von der PKK zu distanzieren. – Das ist, wenn man hier ist, erstaunlich nachvollziehbar: “Während die türkische Armee die kurdischen Städte in der Türkei in Schutt und Asche bombt, verteidigen die PKK-Ableger YPG und YPJ die Kurden in Syrien gegen Daesch (IS), der sie sonst ausrotten würde.” Die HDP erhält im kurdischen Südosten der Türkei bei Wahlen durchgehend 65% bis 95% der Wählerstimmen.

Was uns an den HDPlern am meisten beeindruckt ist ihr Mut. Derzeit sitzen der Parteivorstand, mehrere Parlamentsabgeordnete und 6.000 bis 7.000 Parteimitglieder im Knast (grob die Hälfte der Partei). Trotzdem machen sie weiter. Eine Frau sagt, “Wir landen sowieso alle im Gefängnis!”, und lacht dabei befreiend.

Der Parlamentsabgeordnete redet vor allem über Rojava (also den kurdischen Teil Syriens). Er sagt, dass Afrin zwar ein schwerer Schlag sei. Aber 2018 sei nicht 1920. Die Kurden würden am Ende einen Platz im Nahen Osten haben. Es sei diesmal nicht möglich, sie unter den Teppich zu kehren, wo sie dann 100 Jahr bleiben werden.

Zur Strategie der Kurden in Syrien sagt er:

  • Weder Assad noch die Freie Syrische Armee sind vertretbare Alliierte.
  • Die Kurden versuchen sich aus dem Bürgerkrieg rauszuhalten. Sie greifen keinen an, solange sie nicht angegriffen werden.
  • Sie wollen keinen eigenen Staat, sondern wollen eine Autonomie innerhalb Syriens erreichen.

DBP

Die DBP ist quasi die regionale Version der HDP. Bei Kommunalwahlen tritt nicht die HDP an, sondern die DBP. Während die HDP versucht, eine in der ganzen Türkei wählbare Partei zu sein, ist die DBP eine ganz klare Kurdenpartei.

Die meisten gewählten Bürgermeister in der Südosttürkei gehörten der DBP an. Ich schreibe “gehörten”, weil seit 2016 über hundert Bürgermeister suspendiert und die Gemeinden von staatlich eingesetzten AKP-nahen Treuhändern übernommen wurden. Über 90 Bürgermeister wurden festgenommen. Etwa 65 davon sitzen derzeit noch im Knast. – Das alles geht, weil Erdogan nach Notstandsrecht per Dekret regiert.

Kurdische  Frauenbewegung

Was die drei Frauen vom “Democratic Free Womens Movement” uns erzählt klingt zu gut um wahr zu sein. Was uns kritisch macht. Es klingt, als ob die antipatriarchalen Träume der Frauenbewegung ausgerechnet im Nahen Osten wahr geworden seien.

Andererseits müssen wir zugeben, dass die kurdischen Frauen (also nicht nur die politisch aktiven) offensichtlich gleichberechtigter sind als alle, die wir auf unserer Reise bisher im Nahen Osten getroffen haben. Die HDP und die ihr nahestehnden Organisationen sind, was Gleichberechtigung angeht, soweit wir das beurteilen können, tatsächlich weiter, als vieles, was wir aus Deutschland kennen.

ich versuche die unterschiede zu benennen, was die kurdischen frauen anders als die anderen frauen im nahen osten. das ist nicht leicht. sie strahlen ein anders selbstbewußtsein aus. egal, ob sie religiös sind oder nicht. der blick ist klarer und grader. Die körperhaltung und -sprache auch. das gilt nicht nur für die frauen, die politisch aktiv sind, sondern auch für die, die ich auf der straße treffe. vielleicht ist es kein wunder, das man so wird, wenn man in kurdistan lebt. ich habe den eindruck, kurdische frauen haben eine meinung, äußern diese und ich habe das gefühl, männer hören auch auf sie.

der umgang unter männern und frauen im alltag kommt mir, im gegensatz zu palästina, sehr entspannt und weniger mit regeln behaftet vor. Sie mag zwar in der küche stehen und kochen, aber der mann trägt auch die schüsseln ins zimmer oder beschäftigt, solange die mutter zu tun hat, die kinder. im ökoprojekt vorgestern servierten die männer den tee und die frauen kümmerten sich um die besucher. auf der straße gehen männer und frauen neben- und miteinander und nicht, wie ich es oft in hebron sah, in geschlechtergruppen getrennt.

Demokratic Society Congress – DTK

Ebenso geht es uns beim Democratic Society Congress. Es klingt zu gut, um wahr zu sein. Sie bauen eine basisdemokratische Struktur für alle Bereich des Lebens auf, die den Staat ergänzen oder ersetzen soll.

In jeder Nachbaschaft werden per Wahl Komitees gegründet, die sich zum Beispiel um Bildung, Lebensmittel oder Verkehr kümmern. Diese Nachbarschaftskomitees schließen sich von unten nach oben zu Koordinierungskomitees für Stadtviertel, Städte, Regionen und Provinzen zusammen. Derzeit stehen diese Komitees unter starkem staatlichen Repressionsdruck.

Was daran extrem stutzig macht ist, dass Basisstrukturen unserer Erfahrung nach nicht so reibungslos von unten nach oben wachsen, wie das hier beschrieben wird. Das Ganze klingt irgendwie nach sowietischem Rätesystem. Sieht zwar demokratisch aus, wird aber durch das Zentralkomitee der Partei kontrolliert und sie sagen auch ganz klar, dass das Konzept von Abdullah Öcalan stammt.

Anderseits ist es genau das, was die Kurden in den von ihnen kontrollierten Teilen von Syrien machen. Das nennt selbst die Bundeszentrale für politische Bildung in einer Veröffentlichung von 2016 ein “radikaldemokratisches Experiment”!

Ich zitiere: “Mit Beginn des syrischen Aufstands wurden dort bereits Jahre zuvor vorbereitete politische und Soziale Strukturen gebildet, die eine Selbstverwaltung in politischer, wirtschaftlicher und auch militärischer Hinsicht ermöglichen. Es wurden im Verborgenen Räte und provisorische Verwaltungen gebildet, Selbstverteidigungskräfte aufgestellt und Wirtschaftskooperativen gegründet. […] Die PKK sieht diese Autonomieentwicklung in der “Rojava” genannten Region als ein Modell auch für die Türkei an. […] Inwieweit sich dieses “Experiment”, das sich durch “multiethnische und multireligiöse Selbstverwaltungsstrukturen” auszeichen soll, aber durchsetzen beziehungsweise für den demokratischen Aufbau Syriens eine Modellfunktion haben wird, ist völlig offen.”

Bei aller Skepsis klingt das, selbst wenn es nur zur Hälfte wahr sein sollte, faszinierend. Vor allem wenn man bedenkt, was von Assad, über Erdogan bis Daesch (IS) die Alternativen sind.

Vorm Cafe gegenüber lungert die Zivilpolizei rum.

was für ein tag! e… prophezeite schon, daß heute der anstrengenste tag von allen sei. ich bewundere zum wiederholten male ihren eifer, ihren organisationswillen und das was anschließend dabei heraus kommt. anstrengend ist es tatsächlich sehr. aber im erdgeschoß gibt es eine teeküche. dort braucht man nur die nase hinein zu stecken und jemand kommt an und drückt einem einen vollen becher in die hand. ein anderer steht an der tür neben der großen zuckerdose und erinnert einen daran, ja den zucker nicht zu vergessen. in dem moment, wo wir dringend eine pause brauchen, steht e… am pult und bittet uns in die kantine, wo es einen wie immer guten und reichhaltigen schnellen lunch gibt. als nachmittags die batterien wieder alle sind, warten vor der tür kaffee und kuchen.

unsere energie reicht abends nur noch zu einem schnellen gang zum kleinen laden gegenüber des hotels, wo wir uns mit cola, efes (bier), chips und süßigkeiten eindecken und im hotel und bett verschwinden.

Newroz Piroz Be

Mi. 21. Mrz. 2018

Nächtliche “Festnahmen”

In der Nacht haben die Delegationen aus Norwegen und Schweden noch Streß mit der Polizei gehabt.

Die Norweger: Saßen abends noch zu fünft vorm Hotel, als sie gegen 22.00 Uhr von Zivilpolizisten festgenommen wurden. Anlass war, dass sich einer von ihnen das rot-gelb-grüne Tuch, welches wir alle gestern geschenkt bekommen haben, ums Handgelenk gewickelt hatte. Nun sind die kurdischen Farben Rot-Gelb-Grün im Gegensatz zur kurdischen Fahne offiziell nicht verboten. Aber die Polizei geht gegen jeden vor, der es wagt, sie zu zeigen oder zu tragen.

Die fünf Norweger wurden mit einem gepanzerten Fahrzeug erst zum Krankenhaus gefahren, wo sie unterschreiben mußten, dass man sie nicht geschlagen habe und dann auf die Polizeiwache, wo man sie über 4 Stunden festhielt. Ich gebe aus dem Gedächtnisprotokoll eines der Norweger wieder, wie es auf der Polzeiwache ablief:

  • “Nein, ihr seid nicht festgenommen, aber wenn ihr weiter danach fragt, gehen zu dürfen, werden wir euch festnehmen.”
  • Polizisten machen das Zeichen der Grauen Wölfe. (Eine Art türkisch nationalistischer Nazis.)
  • “In den USA erschießen sie Leute auf der Straße einfach so.” (Dazu spielt der Polizist mit seiner Waffe rum.)
  • “Es liegt was gegen euch vor!”
  • Später: “Nein, es liegt nichts gegen euch vor!”
  • Unklare Drohungen und systhematisches im Unklaren lassen über die Situation.
  • “Ihr dürft in einer halben Stunde gehen.”
  • Eine Stunde später: “Nein, ihr dürft nicht gehen.”
  • “Dies war keine Festnahme, weil ihr nichts Illegales gemacht habt. Ihr müßt nur dieses Papier unterschreiben, dann könnt ihr gehen.”
  • Das Papier ist auf Türkisch, so dass sie nicht lesen können, was sie da unterschreiben, und es wird ihnen auch nicht erklärt. Aber danach können sie tatsächlich gehen.

Rechtsstaat geht anders!

Die Schweden: Haben noch mit einigen Kurden gefeiert (immerhin ist Newroz), wobei traditionelle kurdische Trommel gespielt wurden. Die Zivilpolizei tauchte auf und verbot das Trommeln. Als darauf gesungen und getanzt wurde, wurde auch das verboten.

Am Ende der Feier wurde dann einer der Kurden beim Verlassen des Lokals festgenommen. Die offizielle Begründung war, dass die Polizei gefilmt habe, wie er ein verbotenes Lied gesungen hat.

Die anderen Kurden, die gesungen haben, werden über Hinterausgänge, über Dächer und Mauern rausgeschmuggelt.

Früher waren die kurdische Sprache und Musik komplett verboten. Erst 1994 wurden sie erlaubt. Aber alle Lieder, die irgendwie als subversiv interpretiert werden können, werden einzeln verboten. Wenn man in Deutschland genauso vorgehen würde, wären die “Auf einem Baum ein Kukuck saß.” und “Was wollen wir trinken, sieben Tage lang?” verboten. Denn beides sind eigentlich alte Rebellenlieder.

ein einziges kurdisches newroz lied wurde nicht verboten (kein witz! alle anderen sind verboten! – ich habe gefragt.) und das lief vor der HDP-zentrale den ganzen tag. der ohrwurm war perfekt.

Newroz Piroz Be

Newroz ist das uralte Neujahrsfest in Mesopotamien. Es wird zu Frühlingsanfang, am Tag der Tag-und-Nacht-Gleiche gefeiert, dem 21. März. In Kurdistan hat es eine große politische Bedeutung. Nicht nur, weil es lange verboten war. Auch weil die Newrozfeuer mit der Legende von “Kaveh dem Schmied” verbunden sind. Dieser soll in mythologischer Vorzeit am Tag der Tag-und-Nacht-Gleiche den Tyrannen erschlagen und auf dem höchten Turm der Tyrannenburg ein Feuer entzündet haben, um allen das Ende der Tyrannei zu verkünden.

Keine Ahnung, warum Erdogan nach der Eroberung von Afrin als Erstes das Denkmal von Kaveh dem Schmied niederreißen ließ.

Früh morgens treffen wir uns am HDP-Haus, von dort aus geht es im Konvoi zum

Der Bus der den Konvoi anführt.

Das Newrozfest ist auf einen Platz zwischen noch nicht bezogenen Hochausneubauten am Rande der Stadt verlegt worden. Da wir VIPs sind, und ein Teil der internationalen Presse im Konvoi mitfährt, werden wir erst kurz vorm Festplatz das erste Mal kontrolliert und müssen auch “nur” durch drei Chekpoints.

Der erste Kontrollpunkt, hinter dem es nur zu Fuß weitergeht.

Am ersten Checkpoint werden unsere Reisepässe von 3 verschiedenen Polizisten abphotographiert. (Ich vermute Politische Polizei, Ausländerpolizei und eine Art Geheimdienst.) Bei den beiden folgenden Checkpoints reicht es ihnen dann, unser Daten durchzutelephonieren. Körperabtasten und Taschenkontrolle gehört bei allen drei Checkpoints zum Programm. Wobei es beim zweiten und dritten Checkpoint offensichtlich nur um Machtdemonstration geht. Denn alle drei Checkpoints liegen hintereinander auf einer zu beiden Seiten mit hohen Gittern abgesperrten Straße.

Bina bei der Taschenkontrolle am zweiten Checkpoint.

An den Checkpoints werden völlig willkürlich Sachen beschlagnahmt. Einigen nehmen sie am ersten Checkpoint ihr rot-gelb-grünes Tuch weg, anderen (wie bina) am zweiten Checkpoint, wieder anderen (wie mir) gar nicht. Bei Frauen beschlagnahmen sie Kugelschreiber, bei Männern nicht. Einigen nehmen sie die Wasserflaschen weg, anderen nicht.

Binas rot-gelb-grünes Tuch haben sie am zweiten Chekpoint beschlagnahmt. Aber dieses Band hat sie durchgschmuggelt.

diese tücher haben wir gestern geschenkt bekommen und es ist mir wichtig wie nur irgendwas, am heutigen tag die farben kurdistans zu tragen. das band bekam ich heute morgen bei der HDP von einer der peace mothers, die für ihr wunderschönes kleid ein großes kompliment von mir bekam. es ist einfach ein geflochtenes band aus rot-gelb-grünen wollfäden, aber ich tüdele es in meine haare, worauf sich die alte frau unbändig freut.

das soll ich am checkpoint jetzt abgeben? niemals. schon bei der ersten kontrolle wollen sie tuch und band von mir haben. als ich mich weigere, sind die uniformierten noch einverstanden, daß ich beides im rucksack verstaue. bei der nächsten kontrolle werd ichs dann doch los und bin stinkwütend. aber das band finden sie zum glück nicht.

Mit bina als Ablenkung photographierter Panzerwagen der Polizei.

Den dritten Checkpoint konnte ich leider nicht photographieren. Aber es war wieder das Gleiche: Ausweiskontrolle, Abtasten, Taschenkontrolle, willkürliche Beschlagnahmungen. Zum Glück waren wir VIPs, sonst wärs wohl heftiger gewesen.

Als Mitglieder der deutschen Delegation haben wir Plätze im VIP-Bereich neben der Bühne.
Der gesamte Festplatz ist doppelt umzäunt. Zwischen innerem und äußerem Zaun patrouillieren Polizei und Militär (oder gilt das hier noch als Polizei?) mit Wasserwerfern, Radpanzern und Maschienengewehren.
Bühne und VIP-Bereich sind noch einmal extra umzäunt. Damit die Polizei die Bühne im Griff hat.
Wir verstehen kein Kurdisch, aber das Viktoryzeichen ist international.

Wir haben das Victoryzeichen schon oft in der Stadt gesehen. Dort machen sie es heimlich und vor der Polizei versteckt, um uns und sich gegenseitig zu zeigen, dass sie noch da sind. Hier machen sie es massenhaft und offen.

Das Newrozfeuer wird entzündet.
Zwischen VIP-Bereich und Bühne befindet sich dieser Graben, durch den man das Klo und die Pressetribüne erreicht und in dem Zivilpolizisten rumlungern (die Typen mit den Sonnenbrillen).

Es fühlt sich seltsam an, wenn ein Zivilpolizist mit Sonnenbrille neben dem Pissoir steht und einem beim Pinkeln zuguckt!

Es sind über 100.000 (in Worten hunderttausend) Menschen gekommen. Unglaublich, wenn man bedenkt, wieviel Zivilcourage das erfordert.
Als die Band Bandista (die wirklich toll sind) spielt, flippen die Jugendlichen aus. Sie überwinden den Trennzaun ihres Käfigs und stürmen die Bühne.
Für kurze Zeit ist Newroz tatsächlich ein ausgelassenes Fest!
Während die Überwachungspolizisten in den umliegeneden Häusern mit ihren Teleobjektiven filmen und photographieren, was das Zeug hält.

Nach etwas über einer Viertelstunde ist dann Schluß mit Lustig. Über die Lautsprecheranlage wird mitgeteilt, dass die Polizei die Veranstaltung wegen des Bühnensturms für beendet erklärt und alle schnell den Platz verlassen sollen, da die Polizei sonst eingreift. Es ist erstaunlich wie schnell die hunterttausend Menschen abziehen. Innerhalb weniger Minuten ist der Platz menschenleer.

Auf dem Rückweg gelingt es bina tatsächlich, ihr rot-gelb-grünes Tuch zurückzubekommen.

es wird gefeiert und getanzt, was das zeug hält. viele haben sich fein gemacht. all diese bunten prächtigen kleider der frauen, männer in feinen pluderhosen (ich hab den richtigen namen vergessen), dazu ein weißes hemd, eine farblich passende bauchbinde und ein jackett. so elegant! alte und junge und die kinder dazwischen. wir auf der tribüne haben zum glück auch etwas von der party, weil niemand erwartet, daß wir stocksteif auf unseren stühlen sitzen. selbst die großkopferten, die man daran erkennt, daß sie in der mitte der tribüne hocken und einen tisch mit blumen vor sich haben, laufen herum. die alte von den peace mothers muß mich immer wieder drücken und küssen, wenn wir uns begegnen. ich habe keine ahnung, warum sie mich so liebt, aber ich finde es schön.

oben auf der bühne werden reden geschwungen. die frau von der sur-plattform hält auch eine und läßt sich vorher von mir mut zusprechen, denn sie ist ziemlich nervös. das ist auch so eine besonderheit bei kurden. frauen sprechen wie männer von der bühne herunter, lautstark, wütend, anfeuernd und die zuhörer schenken ihr genau so viel aufmerksamkeit wie dem männlichen redner vorher. nicht aus höflichkeit, sondern weil sie interessiert, was sie zu sagen hat.

ein älterer kurdischer starsänger bringt das betagtere publikum zum schmelzen und die band bandista mit ihren ska-rhythmen heizt den jungen leuten ein.

dann wird der vorplatz gestürmt. ich krieg ein bischen muffensausen, weil ich nicht einschätzen kann, was jetzt passiert. ich schaue nach den friedensmüttern, nach e… und anderen mir bekannten gesichtern, aber die bleiben alle ganz gelassen. bandista spielt auch weiter, nachdem jemand eine durchsage gemacht hat, also besteht wohl keine gefahr. bei dem aufgebot an polizei und militär mit all ihren waffen weiß man nie. und dann verlassen alle geordnet den platz. ohne protest. sie wissen was sonst käme. festnahmen, vielleicht schießereien. das fest ist zuende.

zum grund der beendigung höre ich noch eine andere version. die polizei hat den veranstaltern ein festgelegtes zeitfenster gegeben. wer innerhalb dessen nicht gesprochen hat oder aufgetreten ist, hat halt pech gehabt.

auf dem rückweg zum bus liegen am mittleren checkpoint noch die tüten mit den einkassierten tüchern. ich verlange das meine zurück. tatsächlich darf ich es wiederhaben und die welt ist wieder in ordnung.

Abends gibt es noch ein Abschlußessen mit der HDP und allen Delegationen.
Während der Parlamentsabgeordnete uns “Newroz Piroz Be” wünscht und für unser Kommen dankt, laufen hinter ihm türkische Jubelbilder aus Afrin im Fernsehen. Surreal!

Abschied aus Diyarbakir/Amed

Do/Fr 22./23. Mrz 2018

Das gestrige Abendessen war der Abschluß des von der HDP geplanten Delegationsprogramms, aufgrund Kommunikationsfehlers haben wir unser Hotelzimmer jedoch bis morgen gebucht und bezahlt. Wir freuen uns über einen Tag Luxusfaulenzen.

einen vormittag erlauben wir uns im bett zu bleiben. das wunderbare frühstück genießen wir in aller ausführlichkeit, anschließend erleuchtet an unserer tür wieder das ‘do not disturb’-zeichen.

erst am späten nachmittag machen wir uns auf den weg in die stadt. dort treffen wir d… wieder, eine angestellte der stadt. sie war ganz traurig, denn am tag vor newroz war jemand von der regierung gekommen und sie hat unterschreiben müssen, daß sie nicht zum fest geht. falls sie doch gegangen wär, hätte sie ihren job verloren. das gleiche haben sie wohl mit allen öffentlichen bediensteten gemacht. dabei hatte sie sich extra ein schönes tuch gekauft, das sie tragen wollte. michel macht ein foto mit dem tuch um meinen hals, damit es wenigstens nicht umsonst angeschafft wurde. anschließend bekomme ich es von d… geschenkt. mir kommen die tränen, so fühle ich mich geehrt.

Dieses Tuch hält bina in Ehren. Versprochen!

Um es mit Obelix zu sagen: “Die spinnen, die Türken!” Die Kurden sind stolz drauf Kurden zu sein und wollen das mit kurdischen Fahnen zeigen. Also verbietet die Türkei kurdische Fahnen. Daraufhin tragen die Leute rot-gelb-grüne Tücher. Also nehmen jeden fest, der es wagt, diese Tücher zu tragen. Nun tragen die Leute andere fröhlich bunte Tücher und ihnen fällt nichts besseres ein, als nun alle fröhlich bunten Tücher aus dem Straßenbild zu verbannen. – Hier grenzt ein Unrechtsstaat an seine eigene Satire.

im cafe, wo mein pass liegen geblieben ist, trinken wir noch einen kurdischen kaffee, der menengic-kahvesi heißt.

Wir haben unsere Geldprobleme für immer gelöst! – OK, nicht ganz…

am nächsten tag checken wir aus dem hotel aus und bummeln durch die stadt. bunte läden, die neugierig machen. vor einem geschäft, das hochzeiten ausstattet, kann man spielgeld kaufen. das wird für hochzeitsrituale gebraucht. mehr haben wir leider nicht herausbekommen, weil die verkäufer zu wenig englisch sprachen. in einem der alten innenhöfe werden u.a. kleider verkauft und wie immer ist es ein großes hallo, wenn sich eine der sehr seltenen touristinnen etwas ausucht. es geht nicht ohne die mitwirkung der gesamten anderen verkäufer und auch passanten mischen sich ein. es geht schon gar nicht ohne tee und wo wir grad dabei sind, müssen wir auch die erdbeeren und grünen mandeln probieren, die grad jemand vorbeigebracht hat.

Warten auf den Tee. In der Zwischenzeit hilft der Google-Übersetzer bei der Unterhaltung. An dieser Stelle sind Smartphones wirklich sinnvoll. (Auch wenn in der Türkei vermutlich der Staat so die Unterhaltung mitliest.)

wir gehen in einen hinterhof und hören uns die dengbêj-sänger an. an sechs tagen der woche sitzen sie dort zusammen und singen. jeder kann kommen und zuhören. dengbêj ist eine sehr gewöhnungsbedürftige, vorislamische sangeskunst. wir vermuteten erst, daß es ähnlich der korsichen paghielle klingen könnte, denn die art beisammen zu sein und zu singen ist ähnlich, aber dem war nicht ganz so . die sänger lernen es von ihren eltern und sind auf bestimmte liederarten (lieder zum tanzen, liebeslieder, aber auch balladen und erzählte geschichten) spezialisiert. natürlich war diese kunst zwischenzeitlich verboten. aber die tradition lebt und es kommen immer alte und junge kurden und touristen und hören eine weile zu.

Dieser Sänger hält die Hand ans Ohr, um sich selbst zu hören. Wir kennen das von den Korsen.
Alte Bauern, Hirten und eine Hausfrau mit wunderbaren Stimmen.
Bina beim Apneuzuhören. Ja, ihr bleibt beim Lauschen tatsächlich die Luft weg.

dann gibt es noch ein letztes köfte und ein künefe und wir verlassen diyarbakir/amed.

Wir haben die Stadt und ihre Bewohner lieb gewonnen. So absurd es klingt, haben wir uns trotz all der Zerstörung und der spürbaren militärischen Besetzung der Stadt sehr wohl gefühlt und bleiben ihr solidarisch verbunden.

Hasankeyf: Dem Untergang geweiht!

Fr./Sa. 23/24. Mrz.2018

jetzt wollen wir mal wieder ein bischen urlaub machen. einerseits, weil es nach den tagen in diyarbakir/amed auch wieder weniger politisch werden darf (auch wenn uns die eklatanten mißstände hier immer begleiten werden), andererseits, um dem türkischen staat glaubhaft zum machen, daß wir harmlose touristen sind. natürlich auch, weil kurdistan wunderschön ist und wir neugierig auf andere landesteile sind.

Wir haben eine Route ausgearbeitet, auf der wir zunächst kurdische Städte abklappern, die sowohl laut Loneley Planet sehenswert, als auch politisch interessant sind, um dann die touristische türkische Mittelmeerküste entlang zur Grenze nach Griechenland zu fahren. So hoffen wir unter dem Radar zu bleiben.

wir fahren durch weite grüne steppe. um batman (so heißt der ort wirklich!) herum gibt es erdöl. überall stehen die typischen pumpen. das könnte einer der gründe sein, weswegen die türkei so interessiert an der gegend ist. neben der straße führt eine stromleitung entlang und auf wirklich jedem mast steht ein storchennest und fast jedes zweite ist bewohnt. auch an beduinenlagern kommen wir vorbei. aber im gegensatz zu den armseligen hütten der berber in palästina sehen wir große, sorgfältig aufgebaute zelte, saubere pferche für ziegen und schafe und große herden mit oft mehr als einem hirten. die tiere sind wohlgenährt und die hirten wirken zwar nicht reich aber scheinen ihr auskommen zu haben.

Hier wartet jemand auf seinen Partner. Auf den Nachbarpfeilern ebenfalls.

Es befindet sich wirklich auf jedem zweiten Masten ein Storchennest. Wir werten dies als Zeichen dafür, dass es hier noch viele Feuchtgebiete gibt. – Noch…!

Ölpumpe bei Batman.
Beduinenzelte.

über nacht stehen wir am tigrisufer in einer senke. am nächsten morgen steht ein pkw eine senke weiter, michel geht schauen, wer das sein könnte. er kommt lachend zurück. es sind angler, die ihn erst zum angeln, dann zum frühstück einladen und als er ablehnt, dann doch wenigstens zum tee nötigen. ihm bleibt nur die flucht zurück zum bulli und als wir nach dem frühstück fahren winken die angler noch einmal fröhlich und paddeln mit ihrem schlauchboot auf den fluß hinaus.

Schöne, dem Untergang geweihte Flußlandschaft.
Noch schönere Flußlandschaft. Auch dem Untergang geweiht.

dann entdecken wir hobbingen einen besuch ab. solche wohnhöhlen gibt es auch in kappadokien. da diese in jeden reisefüherer stehen, sind sie entsprechend frequentiert, aber hier haben wir sie für uns allein. eine neben der anderen und manche werden noch als ställe genutzt.

Die ganze Landschaft ist voll von diesen Höhlen.
Bina würde hier sofort einziehen. Bilbo Beutlin läßt grüßen.
Die Steine forträumen, ein bischen fegen, Teppiche, Möbel und Tür hinein, und die Wohnung ist fertig.

Das sieht hier wirklich aus wie in Hobbingen, in Mittelerde! Die Höhlen waren zum Teil seit dem Neolithikum bewohnt und stehen erst seit wenigen Jahrzehnten leer. Bald werden sie, wie alles hier, in den Fluten eines neuen Stausees versinken.

der fluß mit frischem wasser ist gleich unten im tal. die straße dazwischen stört nicht weiter. bis hier her wird auch der stausee nicht reichen und fruchtbar ist das land auch. welch eine idylle!

Ein Blick nach draußen.
Bina guckt in Sachen und überlegt schon, was sie in den Regalen neben ihr unterbringt.
Michel, der Herr der Höhle.

es geht weiter nach hasankeyf. der tigris soll mit einem riesendamm aufgestaut werden und es sollen ganze täler, das dorf und vor allem traditionelle höhlendörfer ersäuft werden. seit jahrzehnten ist das geplant, jetzt hat der bau begonnen und nächstes jahr wird vom alten hasankeyf nichts mehr zu sehen sein. hasankeyf wurde in den ersten jahrhunderten christlicher zeitrechnung erwähnt und ist früher eine bedeutende stadt gewesen…

Hasankeyf, “Hobbingen” und ganze Tal, durch das wir fahren, wird in den Fluten eines Stausees verschwinden. Der Staudamm wird die gesamte Region zwischen Batman und Midyat unter Wasser setzen, historische Stätten, archäologische Schätze und über 37 Dörfer verschwinden lassen. Der Damm, der in diesen Wochen fertig wird, ist Teil des GAP-Projekts, das aus 22 großen Stauseen an Euphrat und Tigris besteht, die zum größten Teil schon fertig und geflutet sind.

Wir werden den Verdacht nicht los, dass Natur- und Kulturzerstörung kein in bedauernswerter Nebeneffekt des GAP-Projektes ist. Sondern dass sie gewollt ist! Immerhin ist es ja keine türkische Kultur, die hier zerstört wird, sondern arabische, aramäische, armenische, jesidische und kurdische. Einerseits begann die türkische Einwanderung und Landnahme in Antatolien erst 1071. (Sie sind das neueste Volk hier in der Gegend.) Und andererseits leben hier in der “Südosttürkei” kaum Türken, sondern eben… – Genau!

Auch Seitentäler werden geflutet.
Neben Hasankeyf befindet sich eine Festung, die komplett in das Steilufer des Tigris geschlagen wurde.
Radpanzer gehören hier fast so zum Straßenbild wie in Deutschland Taxis.
Kleiner Teil der Höhlen von Hasankeyf.

Hasankeyf ist (noch) die Welthauptstadt der Höhlen. Nirgends gibt es so viele Höhlen auf einem Haufen wie hier. Nicht einmal in Kappadokien. Man kann die Besiedlung (wie schon bei “Hobbingen” erwähnt) bis ins Neolithikum zurück nachweisen.

Tee trinken mit Blick über den Tigris auf Hasankeyf.

Das Wasser wird bis knapp über die Spitze des Minarettes steigen! Das Meiste, was heute in Hasankeyf zu sehen ist, stammt aus der Zeit der Ayyurbiden im 14ten Jahrhundert. Ist also “relativ jung”, die älteren Sachen befinden sich unterhalb davon. Hasankeyf steht auf Hasankeyf (das vermutlich ebenfalls auf Hasankeyf steht).

Hoch genug über dem zukünftigen Wasserspiegel wird Neu-Hasankeyf gebaut.
Das Grab von Zeynel Bey, wurde rückgebaut (Euphemismus für ‘abgerissen’) und wird nun bei Neu-Hasankeyf wieder aufgebaut.

„Es ist nicht dasselbe! Es ist nicht dasselbe! Es ist nicht dasselbe! Kulturbanausen! Vandalen!“

wenn ich so über die gegend schaue, bleibt mir einfach die luft weg. es könnte alles so friedlich sein. ich fühle mich gelähmt, so machtlos und kriege eine ungeheure wut. wie kann man nur so blöde sein und diese uralten stätten ersäufen!!!!!! die menschen entwurzeln, die hier schon so lange leben!!!!! das macht man doch nicht!!!!! ich besänftige mich ein bischen mit dem gedanken, daß diejenigen, die diesen staudamm verbockt haben, sei es in genehmigung, planung oder durchführung, sich irgendwann vor ihrem gott rechtfertigen müssen und dann so richtig alt aussehen.

PS: Wir würden euch gerne mehr Bilder von Hasankeyf zeigen. Leider haben wir auf unserem Spaziergang durch die Stadt versäumt, sie zu machen.

Midyat, Aramäer & Staubsturm

Sa./So. 24./25. Mrz. 2018

midyat heißt unser nächstes ziel. hier gibt es noch eine realtiv große aramäische gemeinde. sieben christliche kirchen sind noch in gebrauch, vier davon regelmäßig. das war zumindest der stand vor dem städtekrieg. eine der kirchen besuchen wir. als wir einen parkplatz fürs auto suchen, wo wir eventuell auch übernachten können, fällt uns auf, daß es an jeder straßenecke kameras gibt. die bewohner dieser stadt und auch wir stehen unter ständiger beobachtung. wir sind ziemlich sicher, daß irgendwo ein mensch am monitor sitzt. nicht wie in deutschland, wo oft genug die kameras herumhängen und nur bei bedarf die bilder angeschaut werden.

Big Brother is watching you.

Eigentlich sind alle kurdischen Städte flächendeckend kameraüberwacht. Hasankeyf ist halt eine Ausnahme, weil es sich da einfach nicht mehr lohnt. Nächstes oder übernächstes Jahr ist es ohnehin weg.

Eine der aramäischen Kirchen in Midyat.

da die stadt uns ansonsten nicht weiter reizt, fahren wir nach einem imbiss und einem einkauf weiter und beschließen, bei dem kloster des heiligen gabriel, einem aramäischen kloster in der nähe zu übernachten, das unser reisebuch zur besichtigung empfielt.

unterwegs wird die sicht immer schlechter. schon gestern war es seltsam diesig gewesen, was wir mit dichter wolkendecke und dunst rechtfertigten. jemand in hasankeyf sagte, das sei ein staubsturm, der bei südwind aus syrien über das land geht. das gibt es ganz selten und viel schwächer auch in deutschland. bei bestimmten wetterbedingungen kriegen wir dort sogar saharastaub ab. aber hier in dieser gegend sehen wir jetzt immer weniger. die luft ist ganz gelblich, ich habe einen ungewöhnlich trockenen mund und noch vor dem horizont hört die welt irgendwie auf.

Staubsturm.

Der Begriff Sturm ist etwas irreführend. Es ist ein ganz normaler Südwind, der halt einen Nebel aus feinem Sand mit sich trägt.

als wir am kloster ankommen, macht das in einer halben stunde zu. wir schauen es uns morgen an und gucken gelbe luft auf dem klosterparkplatz. die landschaft dahinter muß herrlich sein…

dann fängt es an zu regnen. ein paar dicke tropfen nur und die reichen nicht, um die luft sauber zu waschen. im gegenteil. der regen ist so staubig, daß bulli völlig blind auf den scheiben wird.

Bulli am nächsten Morgen. Ein klarer Fall für eine Waschanlage.

Das Kloster ist beeindruckend. Es wurde im Jahr 397 gegründet und blickt auf ein 1621-jähriges durchgehendes Klosterleben zurück. Noch beeindruckender ist, dass die Mönche hier tatsächlich Altaramäisch sprechen. Wenn Jesus, der ja Aramäisch gesprochen hat (und nicht etwa Hebräisch oder Latein), hier und heute wiederauferstehen würde, könnte er sich mit den Mönchen problemlos in seiner Muttersprache unterhalten.

Eine der Kirchen und Kapellen des Klosters. (Bina liebt Kuppeln!)

keine ahnung, was mich an kuppeln so fasziniert. die architektur, sicher. die baukunst auch. es macht ein gebäude ungeheuer erhaben und wenn eine kuppel ausgemalt ist, bin ich besonders angetan.

Zugang zu einer der Krypten in denen die Äbte beigesetzt sind.
Einer der Innenhöfe des Klosters.

Wir treffen einen Aramäer aus Stuttgart, der hier ist um neben Neu- auch Altaramäisch zu lernen. Traurigerweise haben die Türkei und die übrigen nahöstlichen Staaten die aramäischen Christen nämlich relativ erfolgreich vertrieben, so dass die Stadt mit der Größten aramäischen Gemeinde der Welt heute in Gütersloh ist. – Ja, Du hast richtig gelesen: Gütersloh!