Mo. 19. Mrz 2018:
Heute stehen Treffen mit den drei in der Überschrift genannten Gruppen auf dem Programm. Die verschiedenen politisch aktiven KurdInnen, mit denen wir hier zu tun haben, sind wirklich unglaublich organisationsfähig, pünktlich und strukturiert. Nicht nur im Nahostmaßstab, die Palästinenser hatten uns mit ihrer Ineffektivität bisweilen ja fast in den Wahnsinn getrieben, sondern auch im Verhältnis zu allem, was wir von sozialen Bewegungen in Deutschland gewohnt sind. Und das bei Beibehaltung nahöstlicher Gastfreundlichkeit.
Sur-Plattform
Der Stadtteil Sur ist die Altstadt Diyarbakirs/Ameds und die Sur-Plattfrom eine Dachorganisation mehrerer Initativen und Verbände, die sich nach dem Städtekrieg 2015/16 gegründet hat und verhindern will, dass die Altstadt komplett abgerissen, durch Neubauten ersetzt und die alteingesessenen Einwohner umgesiedelt werden. Wir treffen die VertreterInnen der Sur-Plattform in einem der traditionellen Cafehäuser, im noch stehenden Teil der Altstadt.




ich kann das nur bestätigen. er schmeckt ein bischen wie gewürzte heiße schokolade und ich schmecke nicht raus, was für gewürze das sein könnten. später habe ich in der küche den mut zu fragen. mit viel spaß erklären mir alle, die dort arbeiten, wie man ihn macht. es ist tatsächlich ein fertigkaffee aus einer speziellen wilden pistazienart, die stark ölhaltig ist und langsam mit milch und zucker aufgekocht wird. es werden gleich zwei gläser von dem kaffee gekauft und im bulli gut verstaut.
Wir erfahren, dass die Zerstörung Surs schon vor dem Städtekrieg 2015/16 begann. Im Jahr 2012 wurden die ersten Straßenzüge der Altstadt abgerissen, um sie durch Appartementneubauten zu ersetzen. Zur Erinnerung: Wir sprechen hier über ein UNESCO-Weltkulturerbe! Damals gab es massiven Widerstand, der zum Ende – oder besser zur Unterbrechung der “urban renovation” (toller Euphemismus) führte.
Dann kam der Städtekrieg. Im Spätsommer 2015 verschanzten sich hunderte Jugendliche in der verwinkelten Altstadt. Die meisten zwischen 17 und 24 Jahre alt und von hier. Viele, aber nicht alle waren wohl der PKK-Jugendorganisation YPG-H zuzuordnen. Sie hatten Kalaschnikows, hoben Barrikaden aus und hängten Planen über die Gassen, um sich vor Drohnen zu schützen. Im klassischen Häuserkampf wären sie für die türkische Armee nur unter sehr großen Verlusten aus dem Altstadtlabyrinth, das für schweres Gerät unpassierbar ist und das sie wie ihre Westentasche kannten, zu vertreiben gewesen.
Die türkische Armee sperrte die gesamte Altstadt ab, was aufgrund der historischen Altstadtmauer sehr gut ging und beschoß die besetzten Bereiche (die Jugendlichen hatten nur die verwinkeltere Hälfte besetzt) 105 Tage lang mit Panzern und schwerer Artillerie. Da die Türkei keine unabhängigen Untersuchungen zuläßt und die größten Teile des ehemaligen Kampfgebiets immer noch Sperrgebiet sind, gibt es keine zuverlässige Opferzahl. Unsere Gesprächspartner gehen von grob 800 Jugendlichen aus, die im Granatenhagel starben. Klar ist jedoch, dass mehr als 3.000 Häuser zerstört und mehr als 35.000 Menschen vertrieben wurden. Im Rahmen der “urban transformation” (noch so ein toller Euphemismus) wurden sie in Hochhäusern in weit entfernten Außenstadtteilen angesiedelt.
Seit 2017 geht auch die normale “urban renovation” wieder weiter. Zum Teil werden die Häuser abgerissen während die Bewohner noch darin sind. Die “Entschädigungen” betragen umgerechnet etwa 2.500€ pro Haus.
Die Altstadt Diyarbakirs/Ameds war seit 7.000 (In Worten: siebentausend!) Jahren durchgehend bewohnt und hat in dieser Zeit keine vergleichbare Zerstörung erlebt. Die Aktivisten der Sur-Plattform vermuten, dass es vor allem um die Zerstörung der besonderen sozialen Struktur der Altstadt geht. Sie war das soziale Gedächtnis der Stadt, ein Zentrum kurdischer Identität und außerdem durch ihre bauliche Struktur schwer polizeilich-militärisch zu kontrollieren.
In den anonymen Hochaussiedlungen am Stadtrand sind die Menschen vereinzelt und besser zu kontrollieren. Die Neubaupläne für die “Altstadt” sehen vor, 3m breite Straßen auf 20m aufzuweiten, um Manövrierplatz für Panzer zu schaffen und 6 weitere große Polizeistationen sowie jeweils eine kleine Polizeistation an jeder Ecke zu errichten. Die Häuser sollen zwar zum Teil von außen wie traditionelle Häuser aussehen, aber ihre innere Struktur ist völlig anders: Statt der Durchgänge und Innenhöfe Appartementhäuser mit nur einem kameraüberwachten Eingang, der gut zu kontrollieren ist.
ich hatte immer die vorstellung, ein staat ist für die menschen da, die in seinem gebiet leben, bzw. ihn erst möglich machen. naiv? vielleicht. hier wird, vom staat angeordnet, ein stadtteil zerstört. und nicht nur das. es gehen damit jahrhunderte alte sozialstrukturen kaputt. menschen werden einfach umgetopft und es ist dem staat scheißegal, was aus ihnen wird. weil er grade dieses volk eigentlich weg haben will. weil es durch seine lebensweise und kultur eine gefahr für seine macht darstellt. weil sie nicht funktionieren, wie er es gern hätte. dazu wird ein überwachungsstaat installiert, der george orwells ideen lächerlich aussehen lassen. ich werde rasend, wenn ich mir überlege, was hier grade passiert.
Dann machen wir noch einen Stadtspaziergang!







ich bombardiere eine frau von der sur-plattform mit fragen. ich will wissen, wie ihr leben unter der besatzung als aktivistin aussieht. sie arbeitet immer noch in einem büro für stadtplanung (vielmehr darf sie arbeiten…sagt sie). aber ihr pass wurde eingezogen, um sie unter kontrolle zu halten und sie würde auch ständig von zivilpolizei beobachtet und begleitet. jederzeit sei mit kontrollen zu rechnen und jederzeit könne sie arbeitsverbot bekommen. ich will wissen, wie sie das aushält. sie wirkt auf mich fröhlich, fast ausgelassen, entspannt. sie lacht viel. was macht sie, daß sie nicht ständig mit zusammengebissenen zähnen und der faust in der tasche herum läuft, wie ich es täte?
wieder lacht sie:”oh, anfangs dachte ich auch, ich halte das nicht aus. aber irgendwann hab ich mich an die polizei gewöhnt. ich bin ja nicht allein, allen meinen freunden geht es wie mir. wir bestärken uns gegenseitig und sorgen dafür, daß wie neben all der arbeit auch freuden haben. euch das zu zeigen, macht spaß und ist therapie. ich besuche nächste woche meine eltern und weiß, daß sie mich unterstützen. meine mutter wird mein lieblingsessen für mich kochen. und wenn sie mich ins gefängnis stecken, dann tun sie es halt. ich bin ja nicht die einzige, die sitzt.” – “für wen machst du diese arbeit?” – “erst machte ich sie für mich, als therapie. ich habe im jetzt zerstörten teil von sur gelebt. aber wahrscheinlich werde ich nichts von meiner arbeit haben. meine nichten und neffen werden hoffentlich die früchte ernten, vielleicht auch erst ihre kinder. und ich mache es für mein volk”. zum abschied umarmen wir uns.
Freie Presse
Laut der Organisation Reporter ohne Grenzen befand sich die Türkei im Jahr 2016 weltweit beim Thema Pressefreiheit auf dem 151ten von 180 Plätzen und ich bin mir sicher, dass sie seitdem noch weiter abgerutscht ist.
Eine offizielle Zensur gibt es anscheinend nicht. Es läuft offensichtlich über zwei andere Mechanismen:
- Fast alle Zeitungen und Fernsehsender werden von großen regierungsnahen Konzernen, vor allem Baukonzernen, aufgekauft und die Erteilung staatlicher Aufträge und Bauaufträge wird direkt an erdoganfreundliche Berichterstattung geknüpft. – Das habe ich mir nicht ausgedacht, sondern aus dem von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen Magazin “Aus Politik und Zeitgeschichte” (ApuZ).
- Kritische Journalisten werden eingesperrt. Passende Paragraphen und Strafstatbestände bietet das türkische “Recht” ja zu genüge.
Wir treffen mit kritischen kurdischen Journalisten zusammen. Ihren Mut und ihre Opferbereitschaft (ja, dies pathetische Wort ist hier richtig am Platze) beeindrucken uns tief.
Wir erfahren unter anderem, dass derzeit über 50 kurdische Journalisten im Gefängnis sitzen und dass 800 Menschen festgenommen wurden, weil sie sich auf Twitter oder Facebook zu Afrin geäußert haben.
Wir erfahren, wie wichtig Internetzeitungen und Internetfernsehen für die freie Presse hier sind. Wie oft sie verboten werden. Wie oft ihre Handies, Computer und Kameras beschlagnahmt werden. Und mit welcher Beharrlichkeit sie weiter machen. “Wir besorgen uns dann neue Computer und machen eine neue Homepage auf.”, erzählte einer der Journalisten.

Peace Mothers
Die Peace Mothers sind eine Gruppe von Frauen, die Kinder und oft auch andere Angehörige in diesem Konflikt verloren haben. Wobei “dieser Konflikt” alle Auseinandersetzungen der Kurden mit dem türkischen Staat, Saddam Hussein, dem Daesch (IS) und so weiter beinhaltet. Dass die Peace Mothers keine neutrale Friedensgruppe sind, sondern fest auf kurdischer Seite stehen, ist klar und nachvollziehbar. Sie leben unter in jedem Augenblick spürbarer türkischer Besatzung und ihre Kinder haben oft für die PKK oder YPG gekämpft.


Es ist hart den Frauen zuzuhören. Wir fühlen uns unwohl in unserer Haut. Schuldig, weil wir Deutsche, weil wir Europäer sind. Weil unser Land der Türkei Erdogans einen Teil Waffen verkauft oder sogar geschenkt hat, mit ihre Kinder getötet wurden. Sie werfen Europa und dem Westen vor, dass sie die Kurden zur Bekämpfung des Daesch benutzt zu haben und nun fallen gelassen werden. Die Leopard-Panzer in Afrin, die gerade überall in den Nachrichten sind, die deutschen Panzer der türkischen Armee, machen geradezu körperlich fühlbar, wie recht sie haben.
Das Einzige was wir tun kann, ist, ihre Wut auszuhalten, ihnen eine Adresse, ein Gegenüber dafür zu geben. Zu versuchen, ihnen hier eine Stimme zu geben. Ich versuche mitzuschreiben, was sie sagen, und versuche nun hier es widerzugeben:

- Ihr habt uns für eure Interessen geopfert. Wir haben für euch gekämpft.
- Mein Sohn ist in Kobane gestorben. Mein anderer Sohn sitzt im Gefängnis.
- Wir halten euch für Afrin verantwortlich.
- Ihr habt eure Waffen verkauft.
- Die Werte der EU! Europa, sind das eure Werte? Gerechtigkeit und Menschlichkeit?
- Wir sehen eure Kinder und Schulen, Häuser und Fabriken. Wenn ihr herkommt, seht ihr Gefängnisse.
- Diyarbakir ist ein Gefängnis.
- Wir haben keine Panzer, keine Artillerie.
- Wir können nicht einmal unsere Häuser verlassen, ohne ins Gefängnis gesteckt zu werden.
- Was macht Europa?
- Ich habe heute mit einer Mutter in Afrin telephoniert, mit den Bombern über ihrem Kopf.
- Europa! Deutschland! Wo ist deine Humanität? Wo sind deine Werte?
- Rojawa wurde vor 5 Jahren befreit. (Anmerkung: Rojava ist der kurdische Name für den kurdischen Teil Syriens.)
- Ohne YPG und YPJ wäre die Gegend kein Hafen für Flüchtlinge geworden.
- Ohne sie würden immernoch Bomben von Daesch in Europa explodieren.
- Afrin war ein Hafen für Kurden, Araber, Armenier…
- Die EU verkauft Waffen an die Türkei.
- Vor Jahren wurden Vertreter von YPG und YPJ zu Konferenzen nach Europa eingeladen. Jetzt wird Erdogan eingeladen.
- In der Türkei werden Menschen, die gegen den Krieg demonstrieren verhaftet.
- Besonders Deutschland versorgt Erdogan mit Waffen.
- Wenn ein Staat Angst vor seinen Bürgern hat, ist das keine Demokratie.
- Erdogan sagt, er gibt Afrin den rechtmäßigen Eigentümern zurück. Wir sehen Islamisten. Will Deutschland das?

Als wir das Haus verlassen und wegfahren wollen, halten sie uns auf, sammeln die Pässe ein, um sie zu kontrollieren und üben sich ein wenig darin, uns einzuschüchtern und zu schikanieren. – Wir sind erleichtert, als sie uns die Pässe zurückgeben und ziehen lassen.
Abends gehen wir noch mit einer der Übersetzerinnen und ihrem Mann Essen. Dabei erfahre ich, dass einige der Mütter Kinder in Afrin haben. Ich stelle fest, dass ich der Argumentation, “Ihr in Deutschland wollt keine weiteren Syrer haben. Also gebt ihr Erdogan seit 2015 Geld und Waffen, während hier die Städte platt gemacht werden. Ihr habt keine Ausländer als Nachbarn und hier sterben die Menschen. Wo sind da die Europäischen Werte?”, nichts entgegenzusetzen habe. Alles was ich zur Verteidigung und Relativierung sagen könnte, alles, was in Deutschland innenpolitisch sinnvoll klingen würde, wäre hier unglaublich abgeschmackt.
morgens im hotel stellen wir beim rucksack-kontrollieren fest, daß mein pass weg ist. der schreck fährt uns in alle glieder. ich habe zwar noch einen zweiten im bulli, aber der hat keine türkischen einreisestempel. auf den legen die polizei- und armee-posten ausgesprochen großen wert, wenn sie die ausweise kontrollieren. eine kurze recherche ergibt, daß er nur im cafe liegen geblieben sein kann. michel hatte ihn mir gestern gegeben, weil ich ein delegationsmitglied zum hotel begleitet hab, das aus sicherheitsgründen nicht allein zum hotel zurück gehen wollte. als ich ins cafe zurück kam, muß er auf dem tisch liegen geblieben sein. zum glück hatten wir das foto von dem eingang, so konnten wir den namen herausfinden. der mensch an der rezeption ermittelte die telefonnummer und sprach mit jemandem dort. man hat den pass gefunden, verwahrt und wir könnten ihn gleich abholen. ich fange an, die leute hier wirklich zu lieben.
e…von der HDP holt uns vom hotel ab und sie organisiert, daß der pass im cafe abgeholt wird und in der HDP-Zentrale auf mich wartet. wir wären gern selbst schnell ins cafe gegangen, zumal wir dort in der nähe unterwegs waren, doch nun war schon alles organisiert. ohne pass in dieser stadt herum zu laufen, ist nicht günstig. bei der polizeikontrolle nach dem besuch der peacemothers konnte ich nur meinen personalausweis vorzeigen, der nicht akzeptiert wurde und e… kann gerade noch abwenden, dass ich festgenommen werde. anstatt ihn morgen bei der HDP wieder zu bekommen, schickt e… extra noch mal einen fahrer los, der ihn mir abends ins hotel bringt.
Einer der Zivilpolizisten fragt uns barsch, was die deutsche Polizei wohl machen würde, wenn sie jemanden “nur” mit einem Personalausweis aufgreift. (Der deutsche Personalausweis ist laut deutscher Botschaft übrigens offiziell auch in der Türkei ein ausreichendes Ausweisdokument. Sogar zur Ein- und Ausreise.) Meine Antwort, “Nichts!”, enttäuscht ihn offensichtlich.
einen nachtrag zum gestrigen trommelfoto hab ich noch:
diese trommeln heißen ‘êrbane’. die klangvielfalt ähnelt der von mir selbst gespielten irischen bodhran, nur die bässe sind weniger tief, klar, bei den schmalen rahmen. der unterricht, der grad abgehalten wurde, kam mir sehr vertraut vor. man sitzt im kreis, jede/r hat ein instrument in der hand, auf einer tafel sind schlagmuster aufgezeichnet. mir wohlbekannt mit pfeilen, die hoch und runter zeigen für up- und down-strokes, dick oder dünner sind für betonungen oder nicht. für jedes lied gibt es festgelegte schlagmuster und wer’s kennt spielt mit, wer nicht, hält einfach mal die klappe. zum üben wirds ganz langsam gespielt und mitgezählt. ich hab in dem moment sehr große sehnsucht nach all meinen lieben aus meinen kursen, den sessions und nach guido plüschke, meinem lehrer. Und ich ärgere mich sehr, daß ich das angebot, mir eine êrbane zu schnappen und mit zu üben, nicht angenommen habe.