Walking Tours in Hebron

3. Jan. 2018

Erstmal ein Frohes Neues Jahr allen Freunden, Bekannten, Verwandten, Kollegen, Nachbarn, Schülern, Patienten und sonstigen Menschen, die diesen Blog lesen.

Walking Tour auf den Dächern der Casbah

Am Samstag, den 30. Dezember patrouillieren wir nachmittags durch die Altstadt, weil die Siedler jeden Shabbat von einem solidem Armeeaufgebot geschützt einen Ausflug aus ihrer sterilen Zone in die arabische Altstadt machen. Normalerweise kommen sie nachmittags, aber diesmal waren sie am Vormittag da und alles rechnet damit, dass sie am Nachmittag nochmal kommen. – Was sie aber nicht tun.

Beim Patrouillieren schauen wir neugierig in Seitengassen und Hinterhöfe, an denen wir sonst achtlos vorbeigehen. Dabei sind wir vorsichtig, um nicht in die Privatsphäre der Einheimischen einzudringen. Irgendwann passiert es aber doch. Anstatt uns wegzuschicken, werden wir eingeladen mit aufs Dach zu kommen und entdecken eine komplette neue Welt. Für uns ist es eine zweite Casbah oben auf der ersten. (Vermutlich hätten wir, Einladung auf Einladung folgend, die gesamte Altstadt durchqueren können, ohne eine öffentliche Straße zu betreten.)

Im Hintergrund israelische Siedlungen.
Das Dach als Spielplatz. (Findest du das zweite Kind?)
Nein, das ist keine öffentliche Straße – glauben wir zumindest.
Dicht an (oder in?) der sterilen Zone. Was muß das mal für ein schöner Serail gewesen sein.
Was für ein Labyrinth.

Walking-Tour mit ‚Breaking the Silence‘

‚breaking the silence‘ ist eine organisation ehemaliger israelischer soldaten, die nach ihrem militärdienst öffentlich machen, was ihre befehle während ihrer armee-zeit beinhalteten und wie sie sie ausführten.

mehrmals die woche führen mitglieder von breaking the silence gruppen durch hebron und kiriyat arba und erzählen von der situation der Palästinenser in der stadt, wie die armee hier agiert . interessant ist dabei die langfristige strategie und methode, mit der die siedlungen und die sterile zone um sie herum ausgeweitet werden. jeder schritt ist klein genug, um keine internationale aufmerksamkeit zu erregen, und groß genug, um vor ort tatsachen zu schaffen. ethnische säuberung in zeitlupe.

Der Fleischmarkt.

der fleischmarkt wurde 1994 geschlossen, weil die siedler einen geschützten platz haben wollten, auf dem sie sich versammeln können. die läden wurden geschlossen und etliche gebäude zerstört. einen solchen platz gibt es auch innerhalb des siedlungsblocks nebenan, der sogar besser geschützt ist. das eigentliche ziel scheint es gewesen zu sein, mehr raum einzunehmen.

Der Mann mit Bart und Mütze ist Judah, einer der Mitbegründer von Breaking the Silence. Er war während der zweiten Intifada zweimal für mehrere Monate in Hebron stationiert. Einmal am Anfang seiner Militärzeit als einfacher Soldat und einmal am Ende als Offizier.

Mich beeindruckt am meisten, wie er erzählt, wie die israelische Armee während seiner ersten Einsatzrunde gegen vereinzeltes nächtliches Gewehrfeuer von den umliegenden höherliegenden Stadteilen auf die Siedlungen vorgegangen ist. Da es nicht möglich ist, vereinzeltes Gewehrfeuer in einer nächtlichen Stadt zu orten haben sie nacheinander drei Dinge getan:

Zuerst haben sie drei Häuser auf drei Hügelkuppen innerhalb der Stadt besetzt und immer, wenn nachts mit Gewehren auf die Siedlungen geschossen wurde, haben sie auf irgendwelche Häuser in der Stadt zurückgeschossen. Und zwar nicht nur mit Gewehren und Maschinengewehren, sondern auch mit Granatwerfern und Panzern. Er selber war Schütze an einem Maschinen-Granaten-Gewehr, das statt Gewehrkugeln Granaten verschießt, die in unbebautem Gelände alles in 8m Umkreis töten. Und damit hat er auf dicht bewohnte Gebiete geschossen. Dies führte aber selbst nach einigen Wochen nicht dazu, dass der nächtliche Gewehrbeschuß der Siedlungen nachließ.

Also haben sie als Zweites die Stadt zusätzlich präventiv beschossen. (Wörtlich: „preemptive fire“.) Sie haben die dicht bevölkerte arabische Stadt jeden Abend eine halbe Stunde lang mit Maschinengewehren und Granaten beschossen. Und dabei Häuser und Straßen besser ins Visier nehmen können, weil es noch hell war. Trotzdem wurden die Siedlungen auch nach Wochen weiterhin nachts mit Gewehren beschossen.

Daher haben sie jeden Tag eine vorsorgliche Straf- und Abschreckungsexpedition gestartet. Sie sind jeden Tag mit Mannschaftspanzern in einen Stadtteil gefahren und haben auf alles geschossen. Einer seiner Kameraden habe sich darauf spezialisiert, mit seinem Gewehr Lampen zu zerschießen. Ein anderer habe mit Vorliebe Granaten in Geschäfte geschossen, so dass sie ganz hinten landeten und das gesamte Inventar auf die Straße geblasen wurde. Es sei wie ein Videospiel gewesen.

In diesem Haus wohnten einmal etwa ein Dutzend Familien – jetzt nur noch eine.

die übrigen familien haben die ewigen schikanen und übergriffe nicht mehr ausgehalten. eine gute methode von palästinensern bewohnte häuser in der geisterstadt zu erkennen ist, nach vergitterten fenstern ausschau zu halten. alle palästinenser hier haben solide gitter vor ihren fenstern, weil siedler regelmäßig steine an die scheiben werfen.

Während der Tour werden Mitglieder von Breaking the Silence von einem Siedler (links mit Kippa) bedrängt, der der Gruppe eine ganze Weile folgt.

er filmt und beleidigt sie, während sie versuchen, ihm aus dem weg zu gehen. die Soldaten dürfen ihn nicht anfassen, denn für solche vorfälle ist nicht die israelische armee zuständig, sondern die polizei. die siedler scheinen sich über dem gesetz stehend zu fühlen und benehmen sich auch so.

Die Straße auf der die Beiden und die Soldaten stehen ist der alte Gewürzmarkt und seit dem Goldsteinmassaker von 1994 steril, also für Palästinenser verboten, damit die Siedler ungestört zum Patriarchengrab gehen können. Die Parallelstraße war aber noch bis 2001 ein lebendiger arabischer Markt. Dann beschlossen die Siedler, dass es uninteressant ist, eine sterile Straße zu nehmen, wenn sie stattdessen durch einen lebendigen Markt gehen und Leute provizieren könnten. Das taten sie und vorhersehbar wehrten sich die Händler, als ihnen ihre Auslagen umgeschmissen wurden. Daraufhin sterilisierte die israelische Armee auch diese Straße, um die Siedler auf ihrem neuen Weg zu schützen.

Geschlossene palästinensische Läden neben dem Siedlungsblock Avraham Avinu. Sie sehen leer aus, sind es aber nicht. Die Siedler haben von innen die Wände durchbrochen die Räume illegal besetzt.
Aktuell versuchen die Siedler diesen Weg unterhalb ihrer Siedlung Tel Rumeida zu ihrer privaten Einfahrt zu machen. Als wir hier ankamen war es noch ein als solches ausgezeichneter Weg, und sogar Teil eines offiziellen Wanderwegs.

Walking-Tour mit Youth Against Settlements

am 2. januar zeigen issa amro und seine Kollegen von youth against settlements einer gruppe von ‚assopace palestina‘ aus italien die situation in der shuhada street, in der geisterstadt und in der altstadt.

Wir treffen die Italiener bei Checkpoint 56.

issa erzählt, wie die shuhada street vor 1994 ausgesehen hat, mit offenen geschäften und voller leben. es sei so ein gewimmel auf der straße gewesen, daß sein vater ihn als kind zur schule gebracht habe, damit er im markt-gewirr nicht verloren ging.

später hat er erlebt, wie die läden „aus sicherheitsgründen“ geschlossen und ihre türen zugeschweißt wurden, wie die siedler alle arabischen straßenschilder entfernten und dafür eigene schilder aufstellten.

Am Checkpoint 55 ist für Issa und seine Kollegen Schluss.

sie dürfen nicht hindurch, auch nicht als veranstalter dieser walking-tour. sie sind palästinenser und für sie ist die weitere straße verboten – aus sicherheitsgründen. sie werden einen weiteren umweg gehen und die gruppe am ausgang des ausgestorbenen gewürzmarktes wieder in empfang nehmen müssen.

Das Haus im Hintergrund war früher die Grundschule der Gegend.

jetzt gehört die schule zur siedlung beit romano und ist eine thora-schule (jeshive). das tor nebenan trennt die siedlung vom palästinensischen teil der altstadt. jeden samstag öffnet es sich für die siedler, die mit massiver soldatenbegleitung einen spaziergang durch den markt machen, um ihre ansprüche an die gegend zu bekräftigen.

Dieses Haus darf von den Palästinensern nicht renoviert werden.

offiziell natürlich aus sicherheitsgründen (für die siedler). provisorisch wurde es mit eisenstützen stabilisiert, damit es nicht über den passanten des marktes zusammenstürzt (deren sicherheit vermutlich nicht so relevant ist).

Dieses Haus war einmal ein vornehmes Hotel. Es wurde geschlossen. – Ja, genau: Aus Sicherheitsgründen!

Der junge Mann mit Bart, rechts auf dem Bild ist Mohannad, eine Hauptperson des nächsten Abschnitts.

Vorfallbericht Checkpoint 56 (mal wieder!)

Lieber Leser: Möglicherweise nerven und langweilen unsere Vorfallberichte zu Checkpoint 56 Dich inzwischen. Nun gut, dann überblättere ihn. Aber die Menschen, die hier leben und täglich durch diesen Checkpoint müssen, können ihn nicht nicht einfach überblättern. Dies sind nur die Vorfälle, die wir in den wenigen Wochen, die wir hier sind zufällig mitbekommen. Rechne das auf ein Leben hoch. – Hier also unser Bericht:

„Am Dienstag, dem 2. Januar 2018, haben wir gesehen, wie der Palästinenser, den wir als Mohannad kennen, zusammen mit einer Reisegruppe aus Italien unbehelligt und ohne Verzögerung Checkoint 56 von der „palästinensischen Seite“ zur „israelischen Seite“ passiert hat.

Am selben Tag betrat er den selben Checkpoint um 17.07 Uhr noch einmal, um wiederum von der „palästinensischen Seite“ auf die „israelische Seite“ zu gelangen. Wir befanden uns in der Schlange vor dem Checkpoint direkt hinter ihm. Er wurde nicht durchgelassen. Wir hingegen wurden an ihm vorbei ohne weitere Fragen durchgelassen, nachdem wir unsere deutschen Reisepässe ungeöffnet hochgehalten hatten. Sobald wir auf „israelische Seite“ waren, fragten wir bei den Soldaten nach, warum Mohannad nicht durchgelassen würde. Einer der Soldaten erkläre uns, dass er nicht registriert sei. Mohannad sagte, dass er sehr wohl registriert sei. Und dass der Soldat seinen Vorgesetzten anrufen solle.

Gegen 17.20 Uhr verlangten die Soldaten, dass wir aufhören zu fotografieren und die schon gemachten Fotos von ihnen löschen und drohten uns mit der Polizei. Anschließend verdeckten sie das rückwärtige Fenster ihrer Wachstube mit zwei Schnellheftern und einer Plastitüte, um den Blick ins Innere zu blockieren.

Um 18.05 erschien die Ablösung der Soldaten. Sofort nach der Wachübergabe, also gegen 18.15 konnte Mohannad passieren, da er sowohl bekannt, als auch registriert sei.“ – Es folgen unsere Personalien und Kontaktdaten.

Mohannad spricht durch das Käfiggitter mit dem Soldaten. Dieses Bild haben wir wohl versehentlich nicht gelöscht…
Das mit zwei Schnellheftern und einer gelben Plastiktüte verdeckte rückwärtige Fenster der Wachstube.

Beobachtungsschniepsel

  • im obst- und gemüsemarkt gibt es etliche jungen mit einkaufswagen, die geld damit verdienen, kunden darin ihre einkäufe nach hause zu fahren. wir wundern uns, wo diese einkaufswagen herkommen. in den gesamten palästinensischen gebieten haben wir bisher keinen supermarkt entdeckt, der so groß wäre, daß sich wagen lohnen würden. selbst in israel wüßten wir spontan keinen solchen supermarkt. wo kommen also die einkaufswagen her?
Einkaufswagenkind im Obst- und Gemüsemarkt.
  • fast jedes haus hat einen antennenmasten auf dem dach. meist eine mehr oder weniger improvisierte konstruktion aus metall. erstaunlich viele (also etwa 5%) sind kleine kopien des eifelturms.
  • grade junge frauen sind oft an eleganz nicht zu überbieten. sie tragen diese langen, schwingenden mäntel, gürtel, handtasche, schuhe und vor allem das kopftuch farblich passend und letzteres in jeder hinsicht elegant gefaltet. die stickerei daran apart drapiert und mit farblich passender nadel fest gesteckt. wir fragten s… eine junge studentin danach, die wir öfter im candyq trafen. sie sagte, daß es diese mode noch gar so lange gäbe. noch vor sechs jahren seien hier alle grau in grau herumgelaufen. aber dann seien smartphones und das internet billig und für alle erreichbar geworden. daher gibt es jetzt auf dem bekannten filmchenkanal auch arabische versionen von ‚bibis beauty palace‘ mit bestelladressen für die neuste mode. und so entsteht ein neues modebewußtsein und immer wieder ein augenschmaus auf der straße.
  • in den schaufenstern der schlachtereien hängen meist ganze kälber. teilweise sind sie so groß, daß wir uns schon fragten, ob das nicht auch kamele sein könnten. so unwahrscheinlich wärs ja nicht. unsere vermutung stimmt. hier ist der beweis:
Kamelhals im Schaufenster.
  • der müll auf den straßen hat auch seinen vorteil. neulich rutschte mir eine grad gekaufte tube zahnpasta unbemerkt aus der tüte. bis ich es bemerkte, zurück ging und sie zwischen alten plastiktüten, orangenschalen, pappbechern und sonstigem müll fand, hatte sie auch niemand anderes entdeckt. zu hause hätte sie schon jemand genommen.
  • die hiesigen chipstüten sind genau so groß, wie bei uns. aber wenn man sie öffnet, stellt man fest, daß sie viel weniger enthalten als die unsrigen. michel stellt sich immer wieder die frage, ob nicht schon jemand daraus gegessen hat.

Ahed Tamimi

Ahed Tamimi ist ein 16 Jähriges Mädchen aus dem Dorf Nabi Saleh im Westjordanland, das Mitte Dezember im Rahmen einer nächtlichen Razzia verhaftet wurde nachdem ein Youtubevideo, das zeigt wie sie einen israelischen Soldaten schlägt und tritt, viral geworden war. Nun drohen ihr 10 Jahre Haft.

Auch in Deutschland haben die viele Zeitungen und Onlinemedien das Thema zumindest kurz aufgenommen, den Vorfall aber so behandelt, als ob es keine Vorgeschichte und keine Hintergründe gäbe. Und das ist in diesem Fall mehr als fatal. Deshalb hat uns die hebroner Gruppe YAS (Youth Against Settlements) gebeten einen Hintergrundartikel für eine deutschsprachige Onlineplattform zu schreiben, mit der sie zusammenarbeiten.

Wir haben im Jahr 2011 selbst an einer der Freitagsdemonstrationen in Nabi Saleh teilgenommen und erlebt, wie die Soldaten das Dorf stundenlang mit Tränengas einnebelten und wie sie, als nach über anderthalb Stunden Tränengaseinsatz einige Steine flogen, das Dorf einnahmen, Türen eintraten und Dächer besetzten. – (Wie gesagt, die Steine flogen erst NACH anderthalb Stunden Tränengaseinsatz!)

Hier der Link zum Spiegel-Online-Artikel und Video zu Ahed Tamimi: LINK!

Und hier unser Hintergrundartikel:

Ahed Tamimi Hintergründe:

Ja, das Internet ist kein Medium für längere Hintergrundtexte, eher für Katzenphotos mit lustiger Bildunterschrift.

Aber die Geschichte Ahed Tamimis läßt sich nicht reduzieren auf ein einminütiges Youtube-Video, das zeigt, wie ein unbewaffnetes Mädchen einen bewaffneten Soldaten schlägt und tritt, sowie ein Bild, des selben Mädchens in Handschellen im Gerichtssaal. – Unwissen um die Hintergründe und Vorgeschichte ist hier gefährlich.

Nimm Dir bitte die Zeit, diesen Text zu lesen.

Dorf, Quelle und Demonstrationen

Ahed Tamimis Dorf Nabi Saleh hat etwa 600 Einwohner und liegt 20km westlich von Ramallah sowie 10km östlich der Grünen Line im Westjordanland. Es hat einige Bekanntheit durch die wöchentlichen Demonstrationen erlangt, die die Dorfbewohner seit 2010 durchführen, gegen die Konfiszierung eines Teils ihres Landes, die Übernahme ihrer Wasserqelle durch die benachbarte israelischen Siedlung Halamish, den fortgesetzen Ausbau der Siedlung und Siedlerübergriffe, wie zum Beispiel das Anzünden von Zitrusbäumen und Bienenstöcken im Jahr 2009.

Eine Quelle ist im trockenen Westjordanland wesentlich wichtiger als im verregneten Deutschland. Während die Dorfbewohner und ihre Landwirtschaft auf dem Trockenen saßen, nutzten Siedler und israelische Soldaten die Wasserbecken der Quelle gemeinsam als Freibad und stellten Bänke, Picknicktische und Lauben auf. – Zwar erreichten die Dorfbewohner 2012 eine Anordnung zum Abriß dieser Anlagen, doch diese wurde nicht umgesetzt.

Im Zusammenhang mit den wöchentlichen Demonstrationen, wurden alleine im ersten Jahr (konkret bis Ende März 2011) 64 Dorfbewohner festgenommen und inhaftiert. (Insgesamt wurden bis heute mehr als 140 Dorfbewohner verhaftet. Dazu, wieviel mehr es sind, ist dem Autor keine zuverlässige Zahl bekannt.) Etwa 350 Dorfbewohner wurden verwundet. Um die Demonstrationen aufzulösen, setzt die israelische Armee unter anderem Tränengas, Sound-Granades (eine Art extralauter Knallkörper), Skunk-Water (eine sehr, sehr eklig stinkende, überall haftende Flüssigkeit), sogenannte Gummigeschosse (gummiummantelte Stahlmunition) und scharfe Munition ein. Einige der Palästinenser antworten mit Steinwürfen. Regelmäßig besetzt die Armee das Dorf, postiert Soldaten auf Hausdächern oder tritt Türen ein, wenn sie nachts ohne konkreten Grund oder Anlass Häuser durchsucht.

Ahed Tamimis Familie

Aheds Onkel Mustafa Tamimi war das erste Todesopfer der wöchentlichen Demonstrationen. Er wurde am 9. Dezember 2011 auf kurze Distanz von einer Tränengasgranate tödlich am Kopf getroffen. Ein zweiter Verwandter starb kaum ein Jahr später. Ruschdi Tamimi wurde am 17. November 2012 mit scharfer Munition getroffen und erlag zwei Tage später seinen Verletzungen. Beide Todesschützen wurden nicht verurteilt, da sie zum Tatzeitpunkt von Demonstranten mit Steine beworfen wurden.

Ihr Vater Bassem wurde 1967 geboren, dem Jahr in dem Israel das Westjordanland eroberte. Weder er noch seine Kinder haben je ein Leben ohne Besatzung kennengelernt, also ohne Checkpoints, Hausabriße, Festnahmen, Demütigungen und Gewalt. Er gilt als einer der Organisatoren der wöchentlichen Demonstrationen in Nabi Saleh, wurde mindestens 12 Mal verhaftet und hat einmal mehr als 3 Jahre am Stück ohne Verfahren in Administrativhaft verbracht. (Die israelische Armee kann Palästinenser im Westjordanland ohne Anklage oder Verfahren in „administrative detention“ nehmen.)

Bassem Tamimis Widerstands- und Verhaftungsgeschichte geht weit bis vor die wöchentlichen Demonstrationen oder Aheds Geburt zurück. 1993 fiel er für 8 Tage ins Koma, nachdem er beim Verhör dem sogenannten „Schütteln“ ausgesetzt war und mußte wegen eines Aneurysma operiert werden, einem zwischen Schädeldecke und Gehirn sitzenden Bluterguss, der typischerweise mit einem Schädel-Hirn-Trauma in Zusammenhang gebracht wird.

Auch Aheds Mutter wurde mehrfach festgenommen, das letzte Mal als sie wegen Ihrer Tochter bei der Militärverwaltung vorstellig wurde.

Für das Haus der Familie Tamimi gibt es eine Abrißverfügung. Das heißt, es kann jederzeit und ohne weitere Vorwarnung abgerissen werden. (Das ist im Westjordanland ein durchaus übliches Damoklesschwert.)

In diesem Umfeld von Unrecht ist Ahed Tamimi aufgewachsen. Sie kann nicht mehr zählen, wie oft sie schon Tränengas eingeatmet hat und vermutlich auch nicht, wie oft ihre Haus gestürmt und durchsucht wurde. – Bitte stell Dir kurz vor, Du oder Dein Kind sei so aufgewachsen.

Das Video und die Situation, in der es entstand

Die im Video zu sehenden Soldaten stehen auf dem Grundstück von Ahed Tamimis Familie. Kurz vorher haben ihre Kameraden Aheds Cousin mit einem gummi-ummantelten Stahlgeschoss ins Gesicht getroffen und durch die splitternden Fensterscheiben Tränengas in ihr Haus geschossen.

Nun sehen wir im Video das 16-jährige Mädchen Ahed Tamimi, wie sie versucht die Soldaten mit Schlägen und Tritten von ihrem Grundstück zu vertreiben.

Sicher, dass ist keine lupenreine Gewaltfreie Aktion im Sinne Mahatma Gandhis. Aber es ist verständlich und nachvollziehbar. Und wenn die israelische Armee das Mädchen dafür in einer nächtlichen Razzia aus seinem Bett holt und mit 10 Jahren Gefängnis bedroht, gibt es darauf nur eine moralisch richtige Reaktion:

Solidarität mit Ahed Tamimi!

Freiheit für Ahed Tamimi!

(Stell Dir bitte kurz vor, Ahed sei Dein Kind!)

Jerusaelm Political Tour

Do: 4. Jan. 2018

die „jerusalem political tour and ramallah“ mit abu-hassan von alternative tours haben wir schon vor sechs jahren mal mitgemacht, und ich freue mich sehr, ihn wiederzusehen. er hatte uns damals derart die augen zum israel-palästina-konflikt geöffnet, daß wir sie danach nicht mehr verschließen konnten und wollten. Und darum sind wir jetzt wieder hier.

es geht wie damals am jerusalem-hotel hinter dem damaskustor los, dessen terasse immernoch so gemütlich ist, wie damals.

Bina auf der Terasse des Jerusalem Hotel.

es sind diesmal drei weitere teilnehmer dabei. ein katalane mit seiner irischen ehefrau, die aus kilkenny stammt (ja, sie bekommt von uns erst mal die irische nationalhymne vorgesungen!) und ein spanier. alle drei sind neugierig, voller interesse und fragen; was sie zu spannenden tourteilnehmern macht.

abu-hassan ist mit einer deutschen aus kiel verheiratet, hat drei töchter und lebt mit seiner familie in ost-jerusalem.

er spricht nicht von siedlern oder siedlungen, sondern von kolonisation und kolonien:

wenn ich siedler und siedlungen sage,“ erklärt er, „spreche ich von etwas bleibendem. ich will aber, daß sie verschwinden. kolonien sind nicht dauerhaft und kolonisten gehen wieder.“

er erzählt von den schwierigkeiten, die ein palästinenser in jerusalem hat. und als erstes zeigt er uns den blick von der siedlung pisgat zeef auf dem hügel gegenüber: zwei arabische stadtteile und ein flüchtlingslager, insgeamt 70.000 menschen auf 2 quadratkilometern, umgeben von einer mauer mit nur einem tor.

Wir befinden uns keine 4km von den Pilgern in der Altstadt entfernt. Und doch liegen Welten zwischen uns: „Wahrlich ich sage euch: Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ [Matthaeus 25:40]

Die folgenden beiden Photos sind von der Siedlung Pisgat Zeef aus in Richtung des zusammen mit dem Shuafat-Flüchtlingslagers eingemauerten des arabischen Stadtteils Anata aufgenommen. Den Namen des anderen mit eingemauerten Stadtteils haben wir vergessen.
Blick über das Tal. Nein, das ist nicht das Flüchtlingslager, dass ist ein regulärer arabischer Stadteil. Und nein, es ist nicht das Westjordanland, sondern ein Teil Jerusalems.
Die Häuser und Balkone, deren israelisch-jüdische Bewohner diesen Blick genießen dürfen.

der spanier unserer gruppe stellt eine frage, die wir uns auch so oft schon stellten:

wie können die siedler gemütlich auf ihrer terrasse sitzen, wenn ihr ausblick auf den nächsten hügel ein flüchtlingslager ist? was geht in ihren köpfen vor? wer hat ihnen nur das gehirn gewaschen?

Abu-Hassan vermutet, dass die Bewohner dieser Häuser ihre Menschlichkeit verloren haben. Unser „Palästina Reisehandbuch“ gibt uns später noch eine weitere Anwort: „Die Einwohner dieser Siedlung [Pisgat Zeev] behaupten, dass der Wert ihrer Anwesen durch den Anblick eines neuen palästinensischen Hauses sinke und beschweren sich bei den Behörden. Eine Besichtigung des Lagers [Shuafat] wird besonders den Besuchern empfohlen, welche die Unterschiede zwischen Erster und Dritter Welt kennenlernen möchten.“ – Das Flüchtlingslager und die beiden arabische Stadtteile sind übrigens älter als die Siedlung.

Es gibt übrigens (grob vereinfacht) zwei Arten von Siedlern, die zionistischen und die ökonomischen. Hier haben wir es mit ökonomischen Siedlern zu tun. Denn der Staat Israel tut einiges, um Juden zum Umzug nach Ostjerusalem und in die Westbank zu bewegen. So kostet ein Haus in einer Siedlung in Ostjerusalem etwa ein Viertel (25%!) von dem, was es in Westjerusalem kostet. Der Kaufpreis kann darüberhinaus über 25 Jahre in zinsfreien Raten abgestottert werden, und das Haus ist für 5 Jahre von allen Steuern und Abgaben (die hier beträchtlich sind) befreit. Auch für eine gute Infrastruktur an öffentlichen Bädern, Parks und Schulen wird gesorgt.

In den arabischen Stadtteilen Ostjerusalems gibt es hingegen kein einziges öffentliches Bad und keinen einzigen Park. Auch Schulen dürfen die Palästinenser in Ostjerusalem seit 1967 so gut wie nicht bauen oder renovieren. Das ist über die Bildungsfrage hinaus auch deshalb ein Problem, weil sie zwar in der „Hauptstadt Israels“ leben, aber keine Staatsbürger Israels sind. Sie sind nur „Residenten von Jerusalem“. Und wenn ihre Kinder nicht lückenlos jedes Jahr nachweisen können, dass sie in eine Jerusalemer Schule gehen, dann verlieren diese Kinder ihren Aufenthaltsstatus sobald sie 16 Jahre alt sind und werden ins Westjordanland abgeschoben. Derzeit betreiben die ostjerusalemer Palästinenser ihre Schulen im Schichtbetrieb. Die einen Kinder gehen vormittags zur Schule, die anderen nachmittags.

Zwischenstopp an der Mauer in Beit Hanina.

Hier zerschneidet die Mauer den arabischen Stadtteil Beit Hanina. Beiderseits der Mauer ist Beit Hanina und beiderseits der Mauer ist Jerusalem. Man erkennt arabische Stadteile übrigens unter anderem an den großen Wassertanks auf den Dächern. Die jüdischen Israelis haben nur kleine Wassertanks für Warmwasser auf dem Dach. Die Palästinenser zusätzlich große Tanks. Denn bei ihnen wird immer dann, wenn das Wasser knapp wird, das Wasser abgestellt. Was jeden Sommer der Fall ist. Und zwar auch innerhalb der international anerkannten Grenzen Israels. Auch dort gibt es palästinensische Dörfer und Städte und man erkennt sie (neben den Moscheen und anderem) an den großen Wassertanks auf den Dächern.

Innerstädtischer Checkpoint in Beit Hanina, Ostjerusalem.
Kurz vor dem Checkpoint Qalandia.

Die Häuser hinter der Mauer gehören nicht, wie viele hier glauben, zu Ramallah. Es handelt sich um Kufr Aqab, einen Stadteil Jerusalems. Dieser Stadteil ist in den letzen Jahren massiv gewachsen. Weil eine Wohnung, die sowohl östlich der Mauer als auch in Jerusalem liegt, für viele Palästinenser die einzige Option ist. Palästinenser erhalten in Jerusalem fast prinzipiell keine Baugenehmigungen. Es bleibt ihnen also nur übrig, schwarz zu bauen und einen Abriß zu riskieren. Östlich der Mauer stehen die Chancen für eine Duldung deutlich besser. Außerdem sind Wohnungen in Kufr Aqab die einzige Möglichkeit für „gemischte Ehen“. Denn wenn ein arabischer Mann aus Ostjerusalem eine Frau aus dem Westjordanland heiraten will, so darf er sie nicht nach Jerusalem holen. Die Palästinenser in Kufr Aqab und anderen jerusalemer Stadtteilen östlich der Mauer zahlen volle Steuern und Abgaben, erhalten dafür aber keinerlei öffentliche Dienstleistungen wie Müllabfuhr, Straßenreinigung und ähnliches. – Derzeit droht übrigens mehreren Häusern in Kufr Aqab übrigens der Abriß, weil sie angeblich zu dicht an der Mauer stehen.

es geht weiter durch die sperranlagen von qalandia. im westjordanland machen wir einen zwischenstop an einem gemüseladen. abu-hassan kauft für die familie ein und wir haben auch gelegenheit dazu. wir fahren östlich um jerusalem herum und über einen anderen checkpoint wieder zurück, der nicht so streng kontrolliert wird. die spannende frage für abu-hassan ist hier immer, ob er für die wachhabenden soldaten jüdisch oder arabisch aussieht. er nennt das „to look shlomo or hassan“. heute sieht er „shlomo“ aus, also jüdisch, und wir können ohne kontrolle passieren. hätte er hassan ausgesehen, hätten sie uns rausgewunken und kontrolliert.

Auf dem Ölberg haben sich zionistische Siedler mitten in einem arabischen Stadtteil niedergelassen. – Methode und Auswirkungen kennen wir aus Hebron.

es geht nach sheik jarrah zu dem haus der alten dame, deren vorderhaus von siedlern aus brooklyn besetzt wurde. wir kennen sie noch von vor sechs jahren. dort höre ich, daß sie noch lebt, was mich freut, aber ihre beiden töchter sind gestorben. die dauerpräsenz zum schutz der familie vor den siedlern mußte leider aufgegeben werden, weil es für die unterstützer zu gefährlich geworden war.

In diesem Durchgang haben wir vor 6 Jahren ausgeharrt, um die arabische Familie im Hinterhaus vor den Siedlern im Vorderhaus zu beschützen.
Einer der Siedler aus dem Vorderhaus.

In Sheikh Jarrah haben Siedler aus Brooklyn behauptet, dass sie die Häuser gekauft hätten. In solchen Fällen müssen nach hiesigem Recht nicht die jüdischen Siedler beweisen, dass und von wem sie die Häuser rechtmäßig gekauft haben. Sondern die palästinensischen Bewohner müssen lückenlos bis zurück in osmanische Zeit beweisen, dass die Häuser wirklich ihnen gehören. In Sheikh Jarrah gelang ihnen das erst mit einiger Verspätung, weil das Archiv in Istanbul ihnen zuerst nur Kopien der Unterlagen aushändigte, die das israelische Gericht nicht anerkannte, und die Originale erst nachreichte. Als sie vor Gericht endlich Recht bekamen, waren viele palästinensische Häuser schon geräumt und viele Siedler schon eingezogen.

Der Standpunkt der israelischen Behörden ist jetzt folgender: Liebe Palästinenser, ihr habt zwar vor Gericht recht bekommen, aber leider zu spät! Da die Siedler nach israelischen Rechtsverständnis nicht unrechtmäßig eingezogen sind, könnt ihr, die Hauseigentümer, sie auch nicht räumen lassen.

Dass die Siedler aus dem Vorderhaus des von uns bewachten Hauses vor 6 Jahren mit ihrem Kampfhund auf palästinensische Grundschulkinder losgingen, die israelische Polizei sich anschließend auf ihre (der Siedler) Seite stellte, und ich (Michel) schnell das weite suchen mußte, weil ich versucht hatte das ganze zu photographieren, haben wir, glaube ich, schon Mal geschrieben. – Aber es ist eine so himmelschreiende Ungerechtigkeit, dass ich es nicht oft genug schreien (den Freudschen-Vertipper lasse ich jetzt stehen) kann.

ich frage abu-hassan nach seiner einschätzung der ausgebliebenen intifada und dem generalstreik, der auch nicht wirklich stattgefunden hat.

er sagt: „wir wollen unsere ruhe haben. wir haben genug. wir möchten endlich ein friedliches leben führen, ohne ständig von den siedlern angegriffen und und vom israelischen staat gedemütigt zu werden. ich möchte endlich hinfahren dürfen, wohin ich will. ich möchte nicht ständig um alles kämpfen müssen.“

ich kann ihn gut verstehen.

was ich auch gut verstehe, ist seine wut auf die europäische gemeinschaft, die auf der einen seite palästina hier und da unterstützt, aber trotz klarer verletzungen der menschenrechte und UN-konventionen israel in so großem umfang finanziert.

auf deutschland schimpft er in diesem zusammenhang sehr. und da unterbreche ich ihn, aus deutschland kommend und es diesmal wirklich besser wissend.

ich habe nämlich den eindruck, daß sich die stimmung in der bevölkerung langsam dreht. ich sehe, daß immer mehr menschen der meinung sind, daß der von unseren großeltern im 3. reich verübte holocaust kein grund dafür sein kann, dass wir heute apartheid unterstützten. auch nicht im staate israel.

ich erzähle ihm, daß ich in deutschland immer mehr menschen treffe, die israels umgang mit den palästinensern in frage stellen.

das dies nicht unbedingt nur junge menschen sind, sondern durchaus auch solche, die den 2. weltkrieg mit erlebt haben und das thema noch anders anschauen. das es viele kleine (hilfs-)aktionen gibt, die auf die apartheid in diesem staat aufmerksam machen, von denen man hier in palästina nicht unbedingt etwas mitbekommt. er solle bitte die hoffnung nicht aufgeben.

auch seine einschätzung zur hilfe durch das ausland finde ich interessant.

abu-hassan sagt: „dadurch, daß sich internationale organisationen und länder wie UNHCR, USA und EU in den flüchtlingslagern innerhalb und außerhalb israels und palästina engagieren, und z.B. schulen und krankenhäuser unterhalten, unterstützen sie die besatzung durch israel nur.“

israel kann weiter menschenrechte verletzen, menschen vertreiben und land besetzen und braucht sich nicht um die vertriebenen zu kümmern. das erledigen die oben genannten und israel ist weitgehenst aus dem schneider. sowohl finanziell als auch moralisch.

beim anschließenden beisammensein nebst einem guten taibeh in einem schönen restaurant sitzt abu-hassan bei seiner nargila, während er letzte fragen beantwortet und die diskussion unter uns teilnehmern verfolgt. dabei kaut er an seinen fingernägeln, so angespannt ist er.

ich wünsche mir, er hört es nicht nur mit den ohren sondern auch mit dem herzen, als ich ihm sage, daß seine schilderungen vor sechs jahren uns die augen geöffnet haben, wir darum nie aufhörten, uns mit der besatzung zu beschäftigen und das wir deshalb heute wieder hier sind.

 

Gleichgesinnte

Fr. 5. Jan. 2018

am freitag besuchen wir wieder unseren spannend-schönen workshop im jerusalemer house of pride and toleranz. da es vermutlich unser letzter besuch sein wird, weil wir anfang nächsten monats unsere zelte hier abbrechen müssen, werden wir mit einer kleinen ansprache und einem herzlichen dankeschön für unser einbringen sehr warm verabschiedet. anschließend sitzen wir noch mit den veranstaltern des workshops, d… und f…, bei einem tee zusammen und klönen über gott und die welt.

als wir über die situation im land, die besatzung und besonders über hebron sprechen, merken wir, daß wir in den beiden gleichgesinnte haben. f… überrascht mich sehr. sie sagt klipp und klar, daß sie es schrecklich findet, in diesem apartheidsstaat zu leben. das aus dem mund einer israelin…chapeau!

ich erinnere mich daran, daß michel und ich vor sechs jahren an einem unserer letzten tage hier die friedrich-ebert-stiftung in jerusalem besucht haben, mit einem mitarbeiter sprachen und er unsere meinung teilte, das man in israel von apartheid sprechen kann, vielleicht sogar muß.

er sagte aber auch, daß man damit nicht zu laut in deutschland sein dürfe, das käme gar nicht gut an und müsse erst lange erklärt werden.

heute treffen wir immer öfter menschen, die diese wahrheit offen aussprechen. abu-hassan kann zuversichtlich sein.

und ich hoffe, d… und f… nehmen unsere einladung, uns in deutschland zu besuchen, an. ich würde sie zu gern wieder sehen.

Diese Erfahrung haben wir vor 6 Jahren übrigens nicht nur mit der Friedrich-Ebert-Stiftung der SPD gemacht. Auch wenn das Gespräch mit denen das längste und tiefste war. Aber im Kern lief es auch bei den Mitarbeitern der Konrad-Adenauer-Stiftung der CDU und des Goethe-Instituts auf das Gleiche hinaus. Sie alle stimmten in der Analyse der Situation weitgehend überein: Die Besatzung ist ein völkerrechtliches und menschliches Unrecht, und Israel ist dabei, ein Apartheidsstaat zu werden. (Ob es schon einer sei, oder Gefahr laufe, einer zu werden, da gingen die Meinungen auseinander.) Sie alle waren ratlos, wie sie Situation ihren Entsendeorganisationen oder den Delegationen, die nur eine Woche im Land sind, begreiflich machen sollten. Die Gespräche liefen immer auf die Frage hinaus: „Wie können wir das hier denen zu Hause begreiflich machen?“

Ich weiß noch, wie bina und ich mit Mitarbeitern von der Konrad-Adenauer und dem Goethe-Institut gemeinsam im Sammeltaxi von Ramallah nach Jerusalem saßen und zusammenarbeiteten, um unsere „Heiße Ware“ ungesehen durch den Checkpoint zu bekommen. (Jeder hatte was dabei, von dem er befürchtete, dass es ihm Ärger mit den Israelis bringen könnte.) – Ungewöhnliche Umstände bringen ungewöhnliche Bündnisse hervor.

Siedlerausflug in die Kasbah

Sa. 6. Jan. 18

Jeden Samstag machen Siedler einen Spaziergang aus der von ihnen geschaffenen Geisterstadt heraus in die lebendige arabische Altstadt Hebrons.

letzte woche haben wir sie verpasst, da waren sie schon morgens unterwegs gewesen. heute streifen wir rechtzeitig in den straßen herum und warten. die bewohnerin eines der wohntürme in der kasbah erkennt uns wieder und lädt uns ein, auf ihr dach zu steigen. oben stellen wieder einmal fest, wie toll die kasbah ist. enge, verwinkelte treppenhäuser. gassen, die erst hinter schmalen torbögen anfangen, durchgänge hinter denen sich eine moschee, ein schöner innenhof oder (ja! tatsächlich!!!) ein dromedargehege befindet, auch wenn sich unsere vorstellung von artgerechter haltung von der des besitzers unterscheidet. jetzt wird uns klar, warum hebron keine stadtmauer brauchte und trotzdem uneinnehmbar war.

Dromedare mitten in der Altstadt vom Dach aus gesehen. – Wenn man es nicht weiß, klingen sie fast wie Kühe.
Über drei Stockwerke geht es auf die Gasse hinunter.
Die Nachbarn zur anderen Seite sind Siedler, gesichert durch Natodraht und Militärposten auf dem Dach in ihrem Neubau.
Wegen der Siedlernachbarn endet das Treppenhaus oben wie in einem Netz zum Schutz vor dem Müll, Unrat und Steinen, die die Siedler schmeißen.

ja, es soll jedem erlaubt sein, die kasbah zu besuchen. sie ist wirklich großartig und nicht umsonst UNESCO-weltkulturerbe. aber die siedler sind nicht einfach gäste. sie gehen dort spazieren, um ihren besitzanspruch zu demonstrieren. sie sind der grund, warum die UNESCO die kasbah zum bedrohten(!) weltkulturerbe erklärt hat. sie sind es, die ihre existenz bedrohen.

Am späten Nachmittag ist es dann soweit. Erst kommt ein Voraustrupp der Armee, sichtet die Lage, fordert den einen oder anderen Händler auf, seine Auslagen einzupacken um Platz für die Siedler zu machen, und besetzt einige Dächer. Dann kommen mit massiver Soldatenbegleitung die Siedler. – Sobald die Siedler erscheinen, verbieten die Soldaten uns das photographieren. Daher können wir manches nur von hinten zeigen.

Das Tor an der ehemaligen Osama-Grundschule, die jetzt eine Jeshive ist, wird aufgeschlossen.
Die Vorhut der Armee kommt heraus. Im Hintergrund warten schon die ersten Siedler.
Der Voraustrupp sondiert die Lage in der Kasbah. – Der Geflügelhändler rechts hat weiter geöffnet. Aber es wird erst einmal niemand kommen, um ein seinen Sonntagsbraten (oder was auch immer die hiesige Entsprechung dazu ist) zu kaufen.
Ein Teil des Voraustrupps riegelt eine Seitengasse der Kasbah ab (der schmale Durchgang links hinter dem Soldaten mit der Brille.), da ihre Kameraden von dieser Gasse aus einige Dächer besetzten.

dann erst ist der weg für die siedler frei. es wird englisch und hebräisch gesprochen. wäre die situation nicht so prekär, könnte man denken, es ist ein netter familienausflug. aber die anwesenheit der soldaten verhindern diese illusion. und die gesten der gäste, die uns und den bewohnern den stinkefinger zeigen und andere obszöne gesten in unsere richtung machen, zeugen auch von etwas anderem.

Gleich unterhalb der ehemaligen Grundschule, heute eine Siedlung, werden Erläuterungen abgegeben. Die Soldaten sichern die Siedler gegen die Passanten auf der Straße. Immer das Gewehr im Anschlag und immer ein wachsames Auge auf uns und die Bewohner. – Da etwa die Hälfte der Siedlergruppe kein Hebräisch spricht, werden die Erläuterungen auch auf Englisch übersetzt. Dem Akzent nach kommen sie aus den USA.
Diese Drei sind während der Ansprache damit beschäftigt uns und die Anwohner mit obszönen Gesten zu beleidigen. Würden die Palästinenser reagieren so würden die Soldaten vermutlich gegen sie (die Palästinenser) vorgehen.
Ein paar Händler wahren ihre Standhaftigkeit. Dieser hat nur seine Tische drinnen stehen gelassen, aber backt weiter seine Pfannkuchen, die in der Stadt außerordentlich beliebt sind.
Gut abgeschottet und gesichert geht es zu weiteren Häusern, wo auch Erklärungen abgegeben werden. Der blonde Soldat mit Brille ganz links ist der Truppführer und störte sich besonders am Photogaphieren. – Tut uns leid, eine Besatzung produziert nun einmal unschöne Bilder, wir nehmen sie nur auf.
Auf diesem Dach haben wir vorher selber gestanden und haben herunterphotographiert. Aber diese Herren sind sicherlich nicht so freundlich eingeladen wollen.

die siedler flanieren noch ein bischen und kehren dann um.

das tor wird wieder zugeschlossen und die bewohner und händler können mit ihrem alltag weiter machen. diesmal bleibt es friedlich. aber manchmal gibt es ärger.

Unter massiver Soldatenpräsenz geht es wieder zurück zum Ausgangspunkt. Man beachte ganz rechts den Siedler mit dem weißen Hut und dem privaten Maschinengewehr. Es ist ganz normal, daß Siedler mit privaten Gewehren offen durch die Gegend laufen.
Und nächsten Samstag geht das Spiel wieder von vorne los.

Lagerfreuerromantik an der Apartheidstraße

So. 7.Jan 18

Alte und neue Apartheidstraße

Nein, wir sind nicht in Südafrika. Wir sind mitten in der Geisterstadt Hebrons. Aber es ist genau so wie damals in Pretoria oder Kapstadt. Es gibt hier in Hebron die alte und die neue Apartheidsstraße. Also eine Straße, die nur von Siedlern (und Ausländern) betreten werden darf. Palästinenser werden auf den schmalen Seiternstreifen verbannt. Die Soldaten an den Checkpoints passen darauf auf, dass sich die Palästinenser daran halten.

Die alte Apartheidstraße, wie wir sie 2011 erlebt haben.

Die Mauer stand bis ins Jahr 2012 auf der A Sahla-Street. Sie begann am Checkpoint gegenüber der Souvenierläden und endete, wie man sieht, nach kaum hundert Metern. Dort mußten Palästinenser links abbiegen, geradeaus weiter ging es nur für Israelis und Ausländer. Der Teil links der Mauer ist breiter und asphalitert denn Siedler dürfen hier im Gegensatz zu palästinensern Autos fahren.

Detailaufnahme: Was für eine Perfidie. Welch ein Sarkasmus!

Als im Jahr 2012 ein Fernsehsender einen Bericht über die Apartheidstraße brachte und sich daraufhin weitere Presse ankündigte, lösten sich die Sicherheitsgründe wortwörtlich von heute auf morgen in Luft auf, und die Mauer verschwand über Nacht.

Dafür wurde im selben Jahr auf der anderen Seite des Patriachengrabes, wo es die Touristen nicht so sehen, diese neue Apartheidsstraße eingerichtet.

Sie ist ein Teilstück der sogenannten Prayer-Road, auf der Siedler der Siedlung Kiriya Arba freitags zum Shabbatgebet in die Geisterstadt kommen. Rechts der asphaltierte breitere Teil für die Siedler. Die Sperre wird bei Bedarf geöffnet. Für die Siedler. Nur die Katzen dürfen kommen und gehen wie sie wollen.

Die Würde des Menschen ist unantastbar. [Art. 1 GG]
Das Viertel hinter Apartheidsstraße gehört zum UNESCO Weltkulturerbe und wartet mit so manchem Juwel auf.
Am unteren Ende der Apartheidstraße befindet sich auf der palästinensischen Straßenseite, also im Käfig, ein kleiner Lebensmittelladen.
Die Straße ist etwa 200m lang, und am unteren Ende der Straße beim Lebensmittelladen müssen die Palästinenser durch diese Gittertür hindurch.

Jedes Mal, wenn sie geöffnet wird, ertönt ein gellend lauter Piepton, den auch die ganze palästinensische Nachbarschaft hört. Angeblich, damit die Soldaten am unteren Checkpoint informiert werden. Manchmal kleben die Anwohner den Schalter ab, damit es nicht so piept und nervt.

Nachbarschaftsfeuer als Widerstand

Es ist kalt. Hinter dem Zaun an der Apartheidstraße haben sich Anwohner des dahinter liegenden Viertels um eine Feuertonne versammelt. Kinder spielen, der Laden hat geöffnet, der Inhaber verteilt umsonst Saft und Nüsse. Ein ganz normaler Januarabend in Hebron?

Nein, friedlicher Widerstand gegen Zaun, Apartheidsstraße und Beschränkung der Bewegungsfreiheit. Zusammenkünfte dieser Art sind hier eigentlich verboten. Beziehungsweise: sie müssen genemigt werden – was nicht geschieht. Das heißt zuende gedacht, daß jede Hochzeit, jede Geburtstagsfeier illegal ist.

Hinter dem Absperrgitter der Apartheidsstraße kommen die Nachbarn zusammen, um nicht in ihren Häusern allein zu sitzen.Damit ihnen nicht die Decke auf den Kopf fällt. Und um zu zeigen: Dies ist unsere Nachbarschaft, dies sind unsere Häuser und wir nehmen uns unseren Platz zurück. Wir sind so frei, ihn zu pflegen und zu nutzen.
Auf der anderen Seite des Zauns bewachen die Soldaten vom Checkpoint ihre Geisterstraße und die Nachbarschaft. Jederzeit können sie eingreifen und die gemütliche Runde auflösen. – Was auch schon geschehen ist. – Deshalb sind die Jungs von YAS und internationale Unterstützer zum Schutz dazu gekommen.
Dieser schöne Platz liegt etwas tiefer im Viertel. Früher war er sicher belebter, mit Marktständen, Passanten, Straßenfesten und Nachbarschaftstreffen. Aber wer darf hier noch passieren? Und von wo nach wo sollte er gehen?
Öffentliche politische Diskussionen und Aktionen sind auch verboten. Selbstgemalte Plakate für eine Weile hochzuhalten mag in unseren europäischen Augen ein Witz sein, aber hier in der Geisterstadt Hebrons, wo Militärrecht herrscht, ist es ein Akt zivilen Ungehorsams, ein Wagnis, das Mut erfordert.
Lebenslust mitten in der Geisterstadt.
Spätabends: Der Mond über Hebron vom Somod (dem Zentrum von YAS) aus gesehen.

So friedlich sieht die Stadt von oben aus. Rechts am Bildrand neben der Abrahamsmoschee liegt die Apartheidstraße und im Viertel dahinter sitzen hoffentlich Menschen um eine Feuertonne – unbehelligt von Soldaten und Siedlern. In den nächsten Wochen werden sie abends immer wieder zusammen kommen, Feuer machen, erzählen, die Gemeinschaft genießen und demonstrieren.

An der Form des abnehmenden Mondes sieht man, wie weit südlich wir uns hier befinden. In Hamburg sieht der selbe Mond wie ein spiegelverkehrtes D aus – zur Seite geöffnet. Hier ist er nach oben geöffnet.

Beobachtungsschniepsel

wir hatten mittlerweile mal wieder einen richtig heftigen regentag, den wir zum ausruhen im bett verbracht haben. am nächsten tag ist hebron irgendwie verändert. frischer, sauberer. wir brauchen eine weile, bis wir herausfinden, was es genau ist: die stadt ist plötzlich so grün! in den kleinsten nicht-betonierten ecken sprießt es plötzlich. in den vorgärten leuchten rasen, rosen und andere büsche in grün, rot und pink. selbst beim blick über die stadt fällt das auge auf grüne hänge. nach dem ewigen braun und grau ist das ein moment des aufatmens.

In allen Ecken grünt und sprießt es.

dieser hund lungert immer an einem wachposten in der shuhada-straße herum. jedes mal fallen wir auf ihn rein, wenn er mitten auf der straße in der sonne liegt.

wenn wir vorüber gehen oder mit dem soldaten am posten plaudern, hebt er vielleicht mal müde den kopf. aber das wars dann auch. ich bin immer erleichtert, wenn er sich – noch – bewegt.

Tot? Zum Glück nicht. Nur tiefenentspannt. Wenigstens einer in dieser Stadt!
Heimlicher Schnappschuß im Innern von Checkpoint 209.

Der 100-Millionen-Dollar-Mann

Mo. 08. Jan 18

Ahbed ist ein reicher Mann und hat doch kaum Geld.

Denn er hat ein 100 Millionen Dollar Angebot des australischen Milliardärs Joseph Gutnick für sein Haus und seinen Laden abgelehnt. – Vermutlich wirkt er deshalb so gelassen in sich ruhend. Er hat sich weder durch Gewalt und Schikane vertreiben, noch kaufen lassen. Er hat seine Entscheidung getroffen und ist zufrieden mit ihr.

Sein Haus, das diese zwei Läden und drei dahinter liegende Apartements beherbergt, liegt am strategisch wichtigsten Punkt Hebrons.

Das Haus liegt gleich gegenüber der Abrahmsmoschee, die das Patriarchengrab beherbergt. Mit seinen beiden Nachbarn links und rechts ist er das sichtbarste Zeichen palästinensischen Lebens in der Geisterstadt. Jeder Siedler und jeder Tourist kommt an ihm vorbei. Und Ahbed lädt jeden Touristen auf einen Kaffee ein, ohne zu versuchen, ihm etwas aufzuschwatzen oder zu verkaufen. Bei ihm machen alle Walking-Touren Zwischenstation und so macht er die Veranda seines Ladens zu einer Oase in der sterilen Wüste der Geisterstadt.

Auch jeder Palästinenser sieht diese Oase beim Betreten des Checkpoints, der den Zugang zur Moschee kontrolliert. – Er darf zwar nicht hingehen, aber er sieht, dass es dort in der Geisterstadt noch palästinensisches Leben gibt, dass jemand aushält.

Den Siedlern ist Ahbed mit seinem Laden somit ein permanenter Dorn im Auge. Und da sie ihn weder mit Gewalt noch mit Schikane (wie z.B. jahrelanger allnächtlicher Musikbeschallung) los werden, hat der australische Milliardär Joseph Gutnick ihm ein Angebot gemacht, dass er eigentlich nicht ablehnen konnte: 100 Millonen Dollar, sowie US-Pässe für ihn und seine ganze Familie. Aber Ahbed hat abgelehnt.

Das Gutnick Center auf der anderen Straßenseite.

Gutnick hat sein Vermögen mit Gold- und Diamantminen in Australien gemacht. Er hat Millionen Dollar für Netanyahus Wahlkampf gespendet und war der finanzkräftigste Unterstützter der Siedler in Hebron. Ihm gehörte auch das im obigen Bild zu sehende Gutnick-Center, direkt gegenüber von Ahmeds Laden. Ja, „gehörte“ – in der Vergangenheitsform: Denn Gutnick mußte 2016 Konkurs anmelden. Manchmal gibt es doch Gerechtigkeit in der Welt.

Wenn ihr nach Hebron kommt, nehmt Ahbeds Einladung an und trinkt einen Kaffee auf seiner Ladenveranda. – Es ist gemütlich zwischen seiner Ware und man findet immer jemandem zum Plaudern.

Beobachtungsschniepsel:

Mit über 50 km/h, Trittbrettfahrern und Kind auf dem Arm!

Abends begegnet uns mitten in Hebron plötzlich ein laut hupender Autokorso mit Fahnen der PFLP – „Peoples Front for Liberlation of Palestein“ oder auf Deutsch der „Volksfront zur Befreiung Palästinas“. Für uns klingt das ein wenig wie die „Volksfront von Judäa“ (VVJ) oder die „Kampagne für ein Freies Galiläa“ aus Monty Pythons „Leben des Brian“. Aber ganz im Ernst: Mit einem solchen hupenden Autokorso wird hier ein politischer Gefangener aus dem Gefängnis abgeholt.

In Deutschland wären bei dieser Aktion vermutlich sowohl Führerscheine als auch Sorgerechte weg: Trittbrettfahren mit Kind auf dem Arm bei Geschwindigkeitsüberschreitung. – Andere Länder, andere Sitten.

Das (zum Teil) besetzte Haus

Do., 11. Jan 18

Dieses Haus steht zwischen der Apartheidstraße und Checkpoint 209. Unten und oben Siedler, in der Mitte eine palästinensische Familie und die Garage eine Militärbasis.

Anhand dieses Hauses läßt sich gut erklären, wie schleichend eine Siedlung entsteht.

Es läßt sich kein konkretes Datum festmachen, an dem die Besetzung begann:
Erst tanzen und feierten die Siedler öfters vor dem Haus. Dann schliefen sie mal 2-3 Nächte davor. Irgendwann versuchten sie in das Haus zu gelangen. Die ersten Male vergeblich. Als es ihnen gelang, blieben sie zunächst nur ein paar Tage und zogen dann wieder ab. Dieser Prozeß zog sich über Monate hin. Aber irgendwann im Jahr 2012 waren sie richtig eingezogen.

Einige Monate später, im Jahr 2013 entschied Israels Oberster Gerichtshof, daß die Siedler geräumt werden und die Wohnungen ihren eigentlichen Besitzern zurückgegeben werden müssen. Die Gerichtsentscheidung wurde aber nur zur Hälfte umgesetzt. Die Siedler wurden zwar geräumt, aber die Wohnungen nicht zurückzugeben. Statt dessen richtete die Armee sich für die nächsten 4 Jahre mit einer Militärbasis darin ein.

Die Armeebasis in der Garage.

Im Sommer letzten Jahres warf dann der Konflikt um den Tempelberg in Jerusalem seinen Schatten auf das Haus: Im Juni 2017 wurden am Tempelberg zwei Grenzpolizisten bei einer Messerattacke getötet. Als Reaktion stattete die Armee den Zugang zu der Heiligen Stätte mit Kameras und Metalldetektoren aus. Nach friedlichen Massenprotesten, in denen die Palästinenser sich weigerten, den Tempelberg zu betreten und statt dessen öffentlich auf den Straßen beteten, wurden die Anlagen wieder abgebaut. Das war im Juli. Und im August 2017 ließ die Armee die Siedler wieder in das Haus in Hebron einziehen. Vermutlich als eine Art Rache dafür, dass sie sich am Tempelberg nicht durchsetzen konnte.

Derzeit steht eine erneute Entscheidung des Obersten Gerichtshofes darüber, ob die Siedler wieder geräumt werden müssen, aus.

Sowohl Siedlerhäuser als auch Militärbasen erkennt man unter anderem an Hanukka-Leuchtern und Videokameras.
Und die palästinensische Familie in der Mittleren Etage? Sie war und bleibt standhaft. Siedlerpartys vorm Haus? Siedler über und unter ihnen? Ein Militärposten um sie herum? Schikanen ohne Ende? Sie weigern sich einfach, sich vertreiben zu lassen.

Kann das Alltag sein?

Sa, 13. Jan 18

Wir haben die letzten Tage weniger geschrieben, weil sich eigentlich alles wiederholt: Checkpoints, Soldaten mit der Waffe im Anschlag, Siedler, Willkür, kleine Gemeinheiten, Apartheid. Der Ausnahmezustand ist hier Alltag. Trotzdem – oder gerade deshalb zehrt es an unseren Nerven, an unseren Ressourcen und unserer Gesundheit.

wir hatten zwischendrin eine phase, wo wir emotional zusammengebrochen sind. ich war zeitweise viel zu dicht am wasser gebaut und auch michel wirkte oft gedankenverloren und unausgeglichen. gespräche haben geholfen und ein bischen vorausplanung für die nächsten wochen und monate auch.

wir denken uns aber auch, daß so viele leute, die mittlerweile freunde sind wie issa, e…, ahbed und alle nachbarn hier diese situation auch aushalten und versuchen, den verstand nicht zu verlieren.

dann werden wir das die letzten tage wohl auch hinkriegen!!!!

ich nehme mir hier und da die freiheit und gehe schon mal nach hause, während michel noch bei YAS sitzt und wir sorgen für das eine oder andere leckerli. eine gute portion falafel z.b., mit eingelegtem und/oder gebratenem gemüse. crepe oder süß-stückle im candyQ oder nebenan im karamello.

und wir halten ausschau nach schönen, lustigen oder erstaunlichen dingen: die geschenkte mandarine, der ladenbesitzer, an dem ich immer ins karamello vorbeigehe und der immer fragt, wies mir geht, wenn wir uns sehen.

heute war, wie jeden samstag, wieder ein siedlerspaziergang durch die kasbah, den wir begleitet haben.

abgesehen davon, daß m… von EAPPI wieder in der stadt war, der uns freudestrahlend umarmte, was richtig gut tat, gingen wir durch den teil der altstadt, den wir neulich schon mal von oben gesehen hatten. nicht nur, daß uns die arbeiter dort herzlich willkommen hießen, es entstand auch dieses schöne foto:

In solchen 3-D-Labyrinthen haben wir früher Schwarzes Auge gespielt. – Das war aber lange bevor wir uns kennenlernten, und die Labyrinthe und Monster waren nur ausgedacht.

auf dem weg zum YAS sorgte dies für lacher:

Habemus Papam!… Ach nee, falsche Religion!