So. 18. Mrz 2018
E… und E… von HDP haben für uns ein strammes Programm ausgearbeitet, da sie uns in den Tagen bis Newroz einen möglichst breiten Einblick in den kurdischen zivilgesellschaftlichen Widerstand geben wollen. Der heutige Tag steht für uns, die 6 Deutschen sowie die Delegationen aus Schweden und dem Baskenland, unter dem Motto Ökologie und Kultur.
Das Ökolandbauprojekt
Zuerst fahren wir zu einem Ökolandbauprojekt etwas außerhalb der Stadt. Auf dem Weg haben wir Gelegenheit die weite Landschaft und den aktuellen Stand der Polizei-, Militär- und Überwachungstechnik zu bewundern.



Ich frage mich, ob so ein bißchen Ökolandbau, Lehmhaus selber Bauen und basisdemokratische Strukturen Einüben tatsächlich eine sinnvolle Beschäftigung ist, angesichts der fühlbaren Gewalt ringsum, der Zerstörung der alten Städte und der schnell wachsenden seelenlosen Vorstädte aus Betonhochhäusern und komme nach einigem Nachdenken und Nachfühlen zu dem Schluß: Ja, das ist es tatsächlich! – Die gelebte Utopie ist Widerstand. Ein selbstgebautes Lehmhaus (so klein es auch sei), ist in seiner Indivitalität und Kreativität eine richtige Antwort auf die erdoganschen Betonwohnwüsten.
die frau, die uns alles zeigt, erzählt, daß früher die meisten häuser in kurdistan aus lehm gemacht waren. es gibt hier in der gegend noch etliche dörfer, in denen welche stehen.
ich freue mich sehr, daß jemand fragt, ob es welche gibt, die lust haben, auf im knoblauchfeld unkraut zu hacken. ich bin sofort dabei. das gemüse wird ökologisch angebaut und es werden samen gezogen. diese werden an interessenten in der umgebung und in diyarbarkir/amed verschenkt, damit eigenes gemüse gezogen werden kann und die menschen unabhängiger vom eingeführten gemüse aus anderen teilen der türkei sind. eigenhändig gezogenes gemüse aus der gegend ist qualitativ hochwertiger und hilft, kurdische indentität zu wahren, die doch an so vielen stellen unterdrückt wird. da helf ich doch gern beim unkraut jäten.

Der Mann, der im Bild oben mit bina zusammen hackt, ist eigentlich Lehrer er wurde im Zuge der “Säuberungen im gesamten politischen und zivilgesellschaftlichen Spektrum der Kurden” [bdb] entlassen. “Bis zu 14.000 Lehrerinnen und Lehrer im Südosten wurden suspendiert.” [bpb] Er sagte, dass die praktische Arbeit hier für ihn auch eine Art Arbeitstherapie sei.
Eine anwesende Biolehrerin, die noch nicht entlassen wurde, erzählte mir, wie sie heimlich ausgewählten Schülern die aus den Lehrplänen verbannte Evolutionslehre beibringe. – Eine unbesungene Heldin der Wissenschaft und Aufklärung.
Bedrohte Gärten am Tigrisufer
Anschließend geht es in die Hevsel-Gärten unterhalb der Altstadtmauer am Tigrisufer. Die Hevsel-Gärten sind oder waren zusammen mit der 2015/16 im Städtekrieg zerstörten Altstadt Diyarbakirs/Ameds UNESCO-Weltkulturerbe. Hier leben über 100 endemische Tier- und Pflanzenarten. Unter anderem die durch die großen türkischen Staudammprojekte (dazu in ein paar Tagen mehr) bedrohte Tigrisschildkröte.
Jetzt sollen die Hevsel-Gärten einer Flanier- und Restaurantmeile mit Picknickareal weichen. Vermutlich für die Bewohner der Apartementhäuser, welche die Altstadthäuser ersetzen sollen. Da natürliche Flußufer in der Türkei auf 500m Breite geschützt sind, hat die Regierung den Tigris hierzu offiziell zum Bach degradiert. (Klar! Die kleinen Bäche dieser Welt: Euphrat, Tigris, Nil, Amazonas, …)
Die Frau von der Umweltini erklärt, wie sie um die Gärten kämpfen. Sie versuchen gegen die Degradierung des Tigris zum Bach zu klagen. Da die Zeitungen nicht über das Problem berichten (dürfen?), machen sie jede Sonntag Spaziergänge mit Picknick und Infovortrag in die Gärten. Jedes Mal mit einer anderen Gruppe. So wollen sie möglichst viele Menschen aufklären.




Beobachtungen in der Stadt

Durch ein offenes Tor in der Sichtschutzwand gelingt mir dieser Schnappschuß:

Hier sollen natürlich nicht die alten Bewohner der Gegend einziehen. Die sind (wie ich später im Gespräch erfahre) in einem Neubaugebiet mit Hochhäusern etwa eine Stunde Busfahrt entfernt untergebracht worden. – Im selben Gespräch erfahre ich übrigens, dass die kurdischen Farben Rot-Gelb-Grün im Gegensatz zur kurdischen Fahne zwar nicht offiziell, aber faktisch verboten sind. Was (kein Witz!) sogar so weit geht, dass sie ernsthaft die Ampelfarben ändern wollten.

Dass hier in den 90er Jahren gefoltert wurde, ist von Amnesty International belegt. Während des Friedensprozesses zwischen türkischem Staat und PKK hörte es auf. Aber jetzt mehren sich die Gerüchte und (noch nicht?) belegten Berichte wieder.



Zwei Prinzipien beim Wiederaufbau scheinen zu sein:
- -Straßen müssen breit genug für Fahrzeuge, Hauptstraßen breit genug für jeden Panzer sein. Schon Haussmann ließ in Paris nach der Niederschlagung der Kommune die heute so beliebten Boulevards anlegen, damit man das Volk mit Kanonen niederkartätschen konnte.
- Der traditionelle schwarze Basalt, der für Diyarbakir/Amed so typisch ist, und die verwinkelte Häuser, in denen sowohl gewohnt als auch gearbeitet wurde, sind zu ersetzen durch weiße Häuser mit großzügigen Appartements oder Geschäften.
Der Tag findet seinen Abschluß in einem sehr alten Cafehaus, das in den 40% nicht zerstörter Altstadt liegt. Der Eingang zum Innenhof ist im letzten Bild oben zu sehen. Es ist das Hauptquartier eines Kulturprojekts.



Hier führen wir auch gute Gespräche mit Menschen, die nicht der HDP oder einer der Initativen angehören. Wobei wir und vor allem die Einheimischen sehr wohlbedacht auswählen. Man kann hier ja nicht alles direkt an- und aussprechen. Offen zu sagen, wie die türkische Armee hier gewütet hat, oder was man über den türkischen Einmarsch in Afrin denkt, würde vermutlich die Straftatbestände “Verächtlichmachung des Türkentums”, “Distanzierung vom Militär” und “Beleidigung des Präsidenten” erfüllen, sowie entweder “unbewaffneter Terrorismus” oder “Werbung für eine terroristische Vereinigung”. Also spielen wir eine Art Gesellschaftsspiel: Wer kann die Wahrheit am besten umschreiben, ohne sie direkt auszusprechen?
Afrin ist gefallen
Man sieht zwar keine Plakate und Demonstationen zum Einmarsch der türkischen Armee in die bisher vom Krieg verschonte syrisch-kurdische Provinz Afrin. Aber jeder hier spricht uns innerhalb der ersten fünf Minuten (durch die Blume) darauf an. Und sie sind sich der deutschen Panzer und Waffen, die dort zum Einsatz kommen, sehr bewußt.
Eigentlich sollten wir Internationalen heute Abend zum Schutz einem Treffen verschiedener zivilgesellschaftlicher Organisationen beiwohnen, auf dem diese eine Resolution zu Afrin verabschieden wollten. Doch da Afrin heute gefallen ist, ist die Resolution gegenstandslos geworden.
afrin ist gefallen. das klingt widerlich pathetisch. wir denken darüber nach, welches andere wort passender wäre. aber uns stockt der atem, als wir die kampflugzeuge am himmel sehen. wir kennen menschen, die aus dieser stadt kommen und noch mehr menschen, die angehörige dort haben und die würden es auch nicht anders sagen. deshalb bleibt es bei dieser wortwahl.