So/Mo 25./26. Mrz. 2018
Nach Befragung mehrerer Einheimischer und reiflicher Überlegung, beschließen wir, es zu riskieren und nach Cizre und von dort aus entlang der türkisch-syrischen Grenze nach Nusaybin zu fahren.
wir haben wirklich lange hin und her überlegt, uns gefragt: sind wir noch verrückt oder schon wahnsinnig. aber dann siegt die neugier und bei mir auch das gefühl, feige zu sein, wenn wir diese möglichkeit nicht wahrnehmen würden. all die menschen in diyarbakir/amed riskieren tag für tag ins gefängnis zu wandern, indem sie sich für ihre landsleute einsetzen und gegen die vernichtung ihrer kultur und indentität kämpfen. da werden wir es ja wohl auf die offizielle straße an der grenze nach syrien wagen! so locker-flockig, wie wir letztes jahr bei antiochia an den grenzübergang gefahren sind und lustig fotos gemacht haben, sind wir jetzt nicht mehr unterwegs. die 24-stunden-notfalltelefonnummer der deutschen botschaft ist im handy eingespeichert und im notizbuch notiert.
Cizre: Phosphorbomben auf Zivilsten
Zwar gibt es an jedem Ortseingang Kontrollposten mit Panzern, Sandsäcken, verbunkertem Kontainern, Schießscharten und Soldaten mit Kalaschnikow im Anschlag, an denen Autos rausgewunken werden. Doch normalerweise werden wir als Freaks einfach durchgewunken. Der Kontrollposten am Ortseingang von Cizre ist deutlich solider und es wird offensichtlich wirklich jeder kontrolliert. Was insofern erklärlich ist, als Cizre wirklich direkt an der türkisch-syrischen Grenze liegt und die türkische Armee im Städtekrieg 2015/16 hier besonders heftig gewütet hat.
Zum Glück haben wir einen Anhalter mitgenommen, den wir am Kreisverkehr vor dem Checkpoint rauslassen. So haben wir kurz Zeit, die Situation einzuschätzen. Da wir keine glaubwürdige Touristenstory haben, warum wir nach Cizre wollen, entscheiden wir uns für die Umgehungsstraße.
Von der Umgehungsstraße ist das Einzige, was einem an Cizre auffällt die selbst für hiesige Verhältnisse ernome Anzahl von Neubauten, die Bautätigkeit und das absolute Fehlen einer wie auch immer gearteten Altstadt.
Im von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen Magazin “Aus Politik und Zeitgeschichte “ von 27. Februar 2017 (also kaum ein Jahr alt) steht dazu:
“Bis heute verweigert die Regierung Menschenrechts- und Nichtregierungsorganisationen sowie dem Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte den Zugang in die von Ausgangssperren und Sperrzonen betroffenen mehr als 20 Städte, um Menschenrechtsverletzungen bei Militäraktionen nachzugehen. Ungeklärt sind vor allem die schweren Vorfälle in Cizre während der Ausganssperre zwischen Dezember 2015 und März 2016. Nach Augenzeugenberichten sollen mehr als 100 Menschen – darunter Zivilisten und verletzte Kämpfer – von Sicherheitskräften bei lebendigerm Leib in Häuserkellern verbrannt worden sein, wo sie sich verschanzt hatten. Human Rights Watch dokumentierte die Tötung von acht Zivilisten in Cizre als widerrechtliche Tötungen durch Sicherheitskräfte, darunter ein 11- und ein 13-jähriges Kind und ein drei Monate altes Baby.”
Grenze: Deutschland finanziert Mauertote
Als wir am Ende der Umgehungsstraße auf die Straße nach Nusaybin und Mardin einbiegen kommt der nächste Kontrollposten. Aber hier sind sie entspannter. Vermutlich, weil sie glauben auf der Strecke weniger zu verbergen zu haben. Unsere Geschichte, dass wir zwei Freaks auf Weltreise sind, uns das berühmte Kloster bei Midyat angesehen haben und nun zum noch berühmteren Mardin wollen, wird geglaubt. – In sowas sind wir inzwischen ziemlich gut.
Wir sind stark an die ehemalige innerdeutsche Grenze erinnert. Eine hunderte Kilometer lange Mauer, Wärmebildkameras, Hinterlandzaun, Wachposten und Schießbefehl. Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte starben von September bis März mindestens 42 Menschen bei dem Versuch, denn Grenzwall zu überwinden.
Das Ganze wurde von uns, Deutschland und der Europäischen Union, mit bezahlt. Laut dem Magazin “Der Spiegel” vom 24. März diesen Jahres haben wir der türkischen Regierung für über 80 Millonen Euro Überwachungstechnologie geliefert. Außerdem haben wir gepanzerte Militärfahrzeuge für 35,6 Millionen Euro (im “Spiegel” steht Milliarden, was wir für einen Druckfehler halten) bei der türkischen Firma OTOKAR und für 30 Millionen bei der türkischen Rüstungskonzern Aselan in Auftrag gegeben. (Wir fördern also noch nicht einmal unsere eigene Rüstungsindustrie, sondern die der Türkei!) Und wo wir schon dabei waren, schenkten wir Erdogan noch sechs niederländische Patrouillenboote für 18 Millionen Euro.
Der Spiegel kommentiert dies: “Es sterben nun weniger Menschen in der Ägäis, wo die Zahl der Bootsüberfahrten nach Griechenland nach Abschluß des Deals zurückgegangen ist. Sie sterben an der türkisch-syrischen Grenze”
Verlassene Dörfer
Über die Hälfte der Dörfer, auf der türkischen Seite der Grenze sehen, sind verlassen. Eines davon sehen wir uns genauer an.
Die Häuser stehen offensichtlich schon länger leer. Aber warum? Normale Landflucht? Wir wissen, dass die Türkei in den 80er und 90er Jahren viele Döfer evakuiert hat, um die PKK zu bekämpfen, indem sie ihr die unterstützende Bevölkerung entzieht. Das ist eine klassische Methode der Guerrillabekämpfung: Da die Guerrilla sich, wie Che Guevara sagt, im Volk bewegt, wie der Fisch im Wasser, muß man das Wasser ablassen. Dann zappelt der Fisch auf dem Trockenen. – Risiken und Nebenwirkungen? Die tragen die Menschen, nicht das Militär. – Wir fragen uns, ob das hier ein Teil der betreffenden Dörfer ist?
Nusaybin
Am Ortseingang von Nusaybin gibt es die gründlichste Kontrolle, die wir bisher auf dieser Fahrt erlebt haben. Nachdem die Typen vom Checkpoint die Daten unserer Personalausweise per Funk durchgegeben haben, eilen sogar extra irgendwelche Spezialisten herbei. Geheimdienst? Ausländerpolizei? Keine Ahnung. Auf jeden Fall serviert uns die Chekpointbesatzung Tee, während wir warten. Sie sind halt doch Türken und somit eigentlich supernette, gastfreundliche Kerle. Die Spezialisten lassen sich das Auto so gründlich zeigen wie kein anderer vor oder nach ihnen. Doch auch sie gehen nach Lehrbuch und Schema-F vor: Kofferraum aufmachen, Rückbank hochklappen und so weiter. Das Entscheidende übersehen sie aber, genau wie alle anderen: Zwischen Rückbank und Kofferraum (also dem Schrank hinten am Bulli) befindet sich unter unserem Bettzeug die sogenannte “Grube”, die so groß ist, dass wir problemlos einen Menschen schmuggeln könnten und in der wir alles Wichtige und Verdächtige verstaut haben. Vom Laptop, über Literatur, bis zu Tüchern in kurdisch-rot-gelb-grün.
Nusaybin ragt wie eine Nase nach Syrien hinein und ist im Städtekrieg 2015/16 sehr schwer beschädigt worden. Auf dem Satellitenbild von Google-Maps sieht man oben rechts und unten links graue Bereiche, wo Google-Maps zwar Straßen einzeichnet, aber keine Straßen und Häuser sind. Diese Stadtviertel wurden im Städtekrieg 2015/16 von Panzern, schwerer Artillerie und Bomben wortwörtlich ausradiert.
Wobei Einladung das falsche Wort ist. Sie hatten uns eine Falle gestellt! Nachdem die Einladung unserer Stellplatznachbarn zum Abendessen zwar höflich aber klar, eindeutig und wiederholt ausgeschlagen haben, laden sie uns zum Tee ein. Das können wir nicht ausschlagen, ohne ihre Ehre als Gastgeber zu verletzen. Also nehmen wir an. Doch sobald sie uns ins Haus gelockt haben, setzen sie uns das Abendessen vor.
Es gibt noch schönere Bilder von diesem Abend, auf dem auch unsere Gastgeber zu sehen sind. Aber wie bei all den anderen schönen, persönlichen Begegnungen in Kurdistan gilt: Um unsere Gastgeber in noch größere Gefahr zu bringen, als sie sich ohnehin schon begeben, indem sie uns eingeladen haben, verzichten wir darauf, Bilder von ihnen hochzuladen. – Und, ja, es reicht in diesem Land aus, Ausländer zu sich nach Hause eingeladen zu haben, um von der Polizei die Tür eingetreten zu bekommen.
Da wir unsere Chancen, im oder vorm Bulli zu frühstücken ohne von irgendwelchen Nachbarn eingeladen zu werden, auf 0% einschätzen, gehen wir zum Frühstück in ein Cafe direkt an der Grenze. Als das Frühstück aufgetragen wird, denken wir erst, es habe ein Mißverständnis bei er Bestellung gegeben. Aber nein, das ist hier tatsächlich ein Frühstück für zwei. Inklusive mehrer kurdischer Kaffees, Tees und Trinkgeld zahlen wir am Ende gerade einmal umgerechnet 10€.
Bitte vergrößert das Bild mal durch draufklicken: Oberhalb der Ketchupflasche sieht man im Hintergrund einen Radpanzer vor einer Mauer. Das ist die Grenze, dahinter ist Syrien. Rechts neben binas Schulter sieht man oberhalb des Autos einen türkischen Wachturm.
es berührt immer wieder, wie sehr sich die leute freuen, uns zu sehen. in diyarbakir/amed war das schon auffällig, aber da waren wir auch in offizieller mission unterwegs. hier in nusaybin wissen wir uns gar nicht zu retten. wir werden nie belagert oder bedrängt, wir werden auch nicht mit offenem mund angestarrt. aber die augen, die die unseren treffen beim vorübergehen auf der straße, leuchten und der mund zeigt ein ehrliches lächeln. in einer winzigen drogerie, nur ein paar quadratmeter groß, die erstaunlicherweise voller männer ist, will ich nur meinen gewohnten deostift kaufen. ich muß mir erst mal ein paar lustige sprüche anhören, die ich nicht verstehe (aber ich verstehe das fröhliche gelächter) und mir eine wohl ausgesuchte parfümprobe auf die arme sprühen lassen. michel, der draußen wartet, kann sich nur mit mühe gegen das parfüm wehren, das für ihn ausgesucht wurde. noch tagelang hab ich das parfüm an meinem kleid und erinnert mich an die leute
beim frühstück spricht die bediehnung michel mit ‘brother’ an und es kommen leute vorbei, die uns einfach nur guten tag sagen wollen und uns dann aber wieder in ruhe essen lassen. als wir uns verabschieden, bekommen wir einen alten stadtplan von nusaybin geschenkt und alberne sonnenschirme an einem stirnband. letztere brauchen wir nun wirklich nicht, aber die geste ist bezaubernd
aber als wir in sichtweite der mauer in einem kleinen park spazieren gehen und offentsichtliich zu lange stehen bleiben, um zu schauen, schreit uns einer der soldaten von einem wachturm an, daß wir weiter gehen sollen.