HDP & parteinahe Organisationen

Di 20. Mrz 2018

Wir bleiben den ganzen Tag im Büro der HDP und hören Vorträge.

Aber bevor es losgeht, nutzt Michel die Gelegenheit mal an einem angemessenen Chefschreibtisch zu sitzen. – Das kleine Tischchen davor ist vermutlich nicht für die Sekretärin, sondern für Tee und Kaffee.

HDP

Es beginnt mit einem Vortrag von Hisyar Aksoy, der für die HDP im Parlament sitzt.

Die HDP wird in der Türkei als politischer Arm der PKK wahrgenommen. Was unserer Wahrnehmung nach weder wirklich richtig noch komplett falsch ist. Auf jeden Fall ist sie der parlamentarische Arm des kurdischen Widerstandes (was nicht das Selbe wie die PKK ist). Und es gelingt ihr nicht, sich glaubwürdig von der PKK zu distanzieren. – Das ist, wenn man hier ist, erstaunlich nachvollziehbar: “Während die türkische Armee die kurdischen Städte in der Türkei in Schutt und Asche bombt, verteidigen die PKK-Ableger YPG und YPJ die Kurden in Syrien gegen Daesch (IS), der sie sonst ausrotten würde.” Die HDP erhält im kurdischen Südosten der Türkei bei Wahlen durchgehend 65% bis 95% der Wählerstimmen.

Was uns an den HDPlern am meisten beeindruckt ist ihr Mut. Derzeit sitzen der Parteivorstand, mehrere Parlamentsabgeordnete und 6.000 bis 7.000 Parteimitglieder im Knast (grob die Hälfte der Partei). Trotzdem machen sie weiter. Eine Frau sagt, “Wir landen sowieso alle im Gefängnis!”, und lacht dabei befreiend.

Der Parlamentsabgeordnete redet vor allem über Rojava (also den kurdischen Teil Syriens). Er sagt, dass Afrin zwar ein schwerer Schlag sei. Aber 2018 sei nicht 1920. Die Kurden würden am Ende einen Platz im Nahen Osten haben. Es sei diesmal nicht möglich, sie unter den Teppich zu kehren, wo sie dann 100 Jahr bleiben werden.

Zur Strategie der Kurden in Syrien sagt er:

  • Weder Assad noch die Freie Syrische Armee sind vertretbare Alliierte.
  • Die Kurden versuchen sich aus dem Bürgerkrieg rauszuhalten. Sie greifen keinen an, solange sie nicht angegriffen werden.
  • Sie wollen keinen eigenen Staat, sondern wollen eine Autonomie innerhalb Syriens erreichen.

DBP

Die DBP ist quasi die regionale Version der HDP. Bei Kommunalwahlen tritt nicht die HDP an, sondern die DBP. Während die HDP versucht, eine in der ganzen Türkei wählbare Partei zu sein, ist die DBP eine ganz klare Kurdenpartei.

Die meisten gewählten Bürgermeister in der Südosttürkei gehörten der DBP an. Ich schreibe “gehörten”, weil seit 2016 über hundert Bürgermeister suspendiert und die Gemeinden von staatlich eingesetzten AKP-nahen Treuhändern übernommen wurden. Über 90 Bürgermeister wurden festgenommen. Etwa 65 davon sitzen derzeit noch im Knast. – Das alles geht, weil Erdogan nach Notstandsrecht per Dekret regiert.

Kurdische  Frauenbewegung

Was die drei Frauen vom “Democratic Free Womens Movement” uns erzählt klingt zu gut um wahr zu sein. Was uns kritisch macht. Es klingt, als ob die antipatriarchalen Träume der Frauenbewegung ausgerechnet im Nahen Osten wahr geworden seien.

Andererseits müssen wir zugeben, dass die kurdischen Frauen (also nicht nur die politisch aktiven) offensichtlich gleichberechtigter sind als alle, die wir auf unserer Reise bisher im Nahen Osten getroffen haben. Die HDP und die ihr nahestehnden Organisationen sind, was Gleichberechtigung angeht, soweit wir das beurteilen können, tatsächlich weiter, als vieles, was wir aus Deutschland kennen.

ich versuche die unterschiede zu benennen, was die kurdischen frauen anders als die anderen frauen im nahen osten. das ist nicht leicht. sie strahlen ein anders selbstbewußtsein aus. egal, ob sie religiös sind oder nicht. der blick ist klarer und grader. Die körperhaltung und -sprache auch. das gilt nicht nur für die frauen, die politisch aktiv sind, sondern auch für die, die ich auf der straße treffe. vielleicht ist es kein wunder, das man so wird, wenn man in kurdistan lebt. ich habe den eindruck, kurdische frauen haben eine meinung, äußern diese und ich habe das gefühl, männer hören auch auf sie.

der umgang unter männern und frauen im alltag kommt mir, im gegensatz zu palästina, sehr entspannt und weniger mit regeln behaftet vor. Sie mag zwar in der küche stehen und kochen, aber der mann trägt auch die schüsseln ins zimmer oder beschäftigt, solange die mutter zu tun hat, die kinder. im ökoprojekt vorgestern servierten die männer den tee und die frauen kümmerten sich um die besucher. auf der straße gehen männer und frauen neben- und miteinander und nicht, wie ich es oft in hebron sah, in geschlechtergruppen getrennt.

Demokratic Society Congress – DTK

Ebenso geht es uns beim Democratic Society Congress. Es klingt zu gut, um wahr zu sein. Sie bauen eine basisdemokratische Struktur für alle Bereich des Lebens auf, die den Staat ergänzen oder ersetzen soll.

In jeder Nachbaschaft werden per Wahl Komitees gegründet, die sich zum Beispiel um Bildung, Lebensmittel oder Verkehr kümmern. Diese Nachbarschaftskomitees schließen sich von unten nach oben zu Koordinierungskomitees für Stadtviertel, Städte, Regionen und Provinzen zusammen. Derzeit stehen diese Komitees unter starkem staatlichen Repressionsdruck.

Was daran extrem stutzig macht ist, dass Basisstrukturen unserer Erfahrung nach nicht so reibungslos von unten nach oben wachsen, wie das hier beschrieben wird. Das Ganze klingt irgendwie nach sowietischem Rätesystem. Sieht zwar demokratisch aus, wird aber durch das Zentralkomitee der Partei kontrolliert und sie sagen auch ganz klar, dass das Konzept von Abdullah Öcalan stammt.

Anderseits ist es genau das, was die Kurden in den von ihnen kontrollierten Teilen von Syrien machen. Das nennt selbst die Bundeszentrale für politische Bildung in einer Veröffentlichung von 2016 ein “radikaldemokratisches Experiment”!

Ich zitiere: “Mit Beginn des syrischen Aufstands wurden dort bereits Jahre zuvor vorbereitete politische und Soziale Strukturen gebildet, die eine Selbstverwaltung in politischer, wirtschaftlicher und auch militärischer Hinsicht ermöglichen. Es wurden im Verborgenen Räte und provisorische Verwaltungen gebildet, Selbstverteidigungskräfte aufgestellt und Wirtschaftskooperativen gegründet. […] Die PKK sieht diese Autonomieentwicklung in der “Rojava” genannten Region als ein Modell auch für die Türkei an. […] Inwieweit sich dieses “Experiment”, das sich durch “multiethnische und multireligiöse Selbstverwaltungsstrukturen” auszeichen soll, aber durchsetzen beziehungsweise für den demokratischen Aufbau Syriens eine Modellfunktion haben wird, ist völlig offen.”

Bei aller Skepsis klingt das, selbst wenn es nur zur Hälfte wahr sein sollte, faszinierend. Vor allem wenn man bedenkt, was von Assad, über Erdogan bis Daesch (IS) die Alternativen sind.

Vorm Cafe gegenüber lungert die Zivilpolizei rum.

was für ein tag! e… prophezeite schon, daß heute der anstrengenste tag von allen sei. ich bewundere zum wiederholten male ihren eifer, ihren organisationswillen und das was anschließend dabei heraus kommt. anstrengend ist es tatsächlich sehr. aber im erdgeschoß gibt es eine teeküche. dort braucht man nur die nase hinein zu stecken und jemand kommt an und drückt einem einen vollen becher in die hand. ein anderer steht an der tür neben der großen zuckerdose und erinnert einen daran, ja den zucker nicht zu vergessen. in dem moment, wo wir dringend eine pause brauchen, steht e… am pult und bittet uns in die kantine, wo es einen wie immer guten und reichhaltigen schnellen lunch gibt. als nachmittags die batterien wieder alle sind, warten vor der tür kaffee und kuchen.

unsere energie reicht abends nur noch zu einem schnellen gang zum kleinen laden gegenüber des hotels, wo wir uns mit cola, efes (bier), chips und süßigkeiten eindecken und im hotel und bett verschwinden.