Newroz Piroz Be

Mi. 21. Mrz. 2018

Nächtliche “Festnahmen”

In der Nacht haben die Delegationen aus Norwegen und Schweden noch Streß mit der Polizei gehabt.

Die Norweger: Saßen abends noch zu fünft vorm Hotel, als sie gegen 22.00 Uhr von Zivilpolizisten festgenommen wurden. Anlass war, dass sich einer von ihnen das rot-gelb-grüne Tuch, welches wir alle gestern geschenkt bekommen haben, ums Handgelenk gewickelt hatte. Nun sind die kurdischen Farben Rot-Gelb-Grün im Gegensatz zur kurdischen Fahne offiziell nicht verboten. Aber die Polizei geht gegen jeden vor, der es wagt, sie zu zeigen oder zu tragen.

Die fünf Norweger wurden mit einem gepanzerten Fahrzeug erst zum Krankenhaus gefahren, wo sie unterschreiben mußten, dass man sie nicht geschlagen habe und dann auf die Polizeiwache, wo man sie über 4 Stunden festhielt. Ich gebe aus dem Gedächtnisprotokoll eines der Norweger wieder, wie es auf der Polzeiwache ablief:

  • “Nein, ihr seid nicht festgenommen, aber wenn ihr weiter danach fragt, gehen zu dürfen, werden wir euch festnehmen.”
  • Polizisten machen das Zeichen der Grauen Wölfe. (Eine Art türkisch nationalistischer Nazis.)
  • “In den USA erschießen sie Leute auf der Straße einfach so.” (Dazu spielt der Polizist mit seiner Waffe rum.)
  • “Es liegt was gegen euch vor!”
  • Später: “Nein, es liegt nichts gegen euch vor!”
  • Unklare Drohungen und systhematisches im Unklaren lassen über die Situation.
  • “Ihr dürft in einer halben Stunde gehen.”
  • Eine Stunde später: “Nein, ihr dürft nicht gehen.”
  • “Dies war keine Festnahme, weil ihr nichts Illegales gemacht habt. Ihr müßt nur dieses Papier unterschreiben, dann könnt ihr gehen.”
  • Das Papier ist auf Türkisch, so dass sie nicht lesen können, was sie da unterschreiben, und es wird ihnen auch nicht erklärt. Aber danach können sie tatsächlich gehen.

Rechtsstaat geht anders!

Die Schweden: Haben noch mit einigen Kurden gefeiert (immerhin ist Newroz), wobei traditionelle kurdische Trommel gespielt wurden. Die Zivilpolizei tauchte auf und verbot das Trommeln. Als darauf gesungen und getanzt wurde, wurde auch das verboten.

Am Ende der Feier wurde dann einer der Kurden beim Verlassen des Lokals festgenommen. Die offizielle Begründung war, dass die Polizei gefilmt habe, wie er ein verbotenes Lied gesungen hat.

Die anderen Kurden, die gesungen haben, werden über Hinterausgänge, über Dächer und Mauern rausgeschmuggelt.

Früher waren die kurdische Sprache und Musik komplett verboten. Erst 1994 wurden sie erlaubt. Aber alle Lieder, die irgendwie als subversiv interpretiert werden können, werden einzeln verboten. Wenn man in Deutschland genauso vorgehen würde, wären die “Auf einem Baum ein Kukuck saß.” und “Was wollen wir trinken, sieben Tage lang?” verboten. Denn beides sind eigentlich alte Rebellenlieder.

ein einziges kurdisches newroz lied wurde nicht verboten (kein witz! alle anderen sind verboten! – ich habe gefragt.) und das lief vor der HDP-zentrale den ganzen tag. der ohrwurm war perfekt.

Newroz Piroz Be

Newroz ist das uralte Neujahrsfest in Mesopotamien. Es wird zu Frühlingsanfang, am Tag der Tag-und-Nacht-Gleiche gefeiert, dem 21. März. In Kurdistan hat es eine große politische Bedeutung. Nicht nur, weil es lange verboten war. Auch weil die Newrozfeuer mit der Legende von “Kaveh dem Schmied” verbunden sind. Dieser soll in mythologischer Vorzeit am Tag der Tag-und-Nacht-Gleiche den Tyrannen erschlagen und auf dem höchten Turm der Tyrannenburg ein Feuer entzündet haben, um allen das Ende der Tyrannei zu verkünden.

Keine Ahnung, warum Erdogan nach der Eroberung von Afrin als Erstes das Denkmal von Kaveh dem Schmied niederreißen ließ.

Früh morgens treffen wir uns am HDP-Haus, von dort aus geht es im Konvoi zum

Der Bus der den Konvoi anführt.

Das Newrozfest ist auf einen Platz zwischen noch nicht bezogenen Hochausneubauten am Rande der Stadt verlegt worden. Da wir VIPs sind, und ein Teil der internationalen Presse im Konvoi mitfährt, werden wir erst kurz vorm Festplatz das erste Mal kontrolliert und müssen auch “nur” durch drei Chekpoints.

Der erste Kontrollpunkt, hinter dem es nur zu Fuß weitergeht.

Am ersten Checkpoint werden unsere Reisepässe von 3 verschiedenen Polizisten abphotographiert. (Ich vermute Politische Polizei, Ausländerpolizei und eine Art Geheimdienst.) Bei den beiden folgenden Checkpoints reicht es ihnen dann, unser Daten durchzutelephonieren. Körperabtasten und Taschenkontrolle gehört bei allen drei Checkpoints zum Programm. Wobei es beim zweiten und dritten Checkpoint offensichtlich nur um Machtdemonstration geht. Denn alle drei Checkpoints liegen hintereinander auf einer zu beiden Seiten mit hohen Gittern abgesperrten Straße.

Bina bei der Taschenkontrolle am zweiten Checkpoint.

An den Checkpoints werden völlig willkürlich Sachen beschlagnahmt. Einigen nehmen sie am ersten Checkpoint ihr rot-gelb-grünes Tuch weg, anderen (wie bina) am zweiten Checkpoint, wieder anderen (wie mir) gar nicht. Bei Frauen beschlagnahmen sie Kugelschreiber, bei Männern nicht. Einigen nehmen sie die Wasserflaschen weg, anderen nicht.

Binas rot-gelb-grünes Tuch haben sie am zweiten Chekpoint beschlagnahmt. Aber dieses Band hat sie durchgschmuggelt.

diese tücher haben wir gestern geschenkt bekommen und es ist mir wichtig wie nur irgendwas, am heutigen tag die farben kurdistans zu tragen. das band bekam ich heute morgen bei der HDP von einer der peace mothers, die für ihr wunderschönes kleid ein großes kompliment von mir bekam. es ist einfach ein geflochtenes band aus rot-gelb-grünen wollfäden, aber ich tüdele es in meine haare, worauf sich die alte frau unbändig freut.

das soll ich am checkpoint jetzt abgeben? niemals. schon bei der ersten kontrolle wollen sie tuch und band von mir haben. als ich mich weigere, sind die uniformierten noch einverstanden, daß ich beides im rucksack verstaue. bei der nächsten kontrolle werd ichs dann doch los und bin stinkwütend. aber das band finden sie zum glück nicht.

Mit bina als Ablenkung photographierter Panzerwagen der Polizei.

Den dritten Checkpoint konnte ich leider nicht photographieren. Aber es war wieder das Gleiche: Ausweiskontrolle, Abtasten, Taschenkontrolle, willkürliche Beschlagnahmungen. Zum Glück waren wir VIPs, sonst wärs wohl heftiger gewesen.

Als Mitglieder der deutschen Delegation haben wir Plätze im VIP-Bereich neben der Bühne.
Der gesamte Festplatz ist doppelt umzäunt. Zwischen innerem und äußerem Zaun patrouillieren Polizei und Militär (oder gilt das hier noch als Polizei?) mit Wasserwerfern, Radpanzern und Maschienengewehren.
Bühne und VIP-Bereich sind noch einmal extra umzäunt. Damit die Polizei die Bühne im Griff hat.
Wir verstehen kein Kurdisch, aber das Viktoryzeichen ist international.

Wir haben das Victoryzeichen schon oft in der Stadt gesehen. Dort machen sie es heimlich und vor der Polizei versteckt, um uns und sich gegenseitig zu zeigen, dass sie noch da sind. Hier machen sie es massenhaft und offen.

Das Newrozfeuer wird entzündet.
Zwischen VIP-Bereich und Bühne befindet sich dieser Graben, durch den man das Klo und die Pressetribüne erreicht und in dem Zivilpolizisten rumlungern (die Typen mit den Sonnenbrillen).

Es fühlt sich seltsam an, wenn ein Zivilpolizist mit Sonnenbrille neben dem Pissoir steht und einem beim Pinkeln zuguckt!

Es sind über 100.000 (in Worten hunderttausend) Menschen gekommen. Unglaublich, wenn man bedenkt, wieviel Zivilcourage das erfordert.
Als die Band Bandista (die wirklich toll sind) spielt, flippen die Jugendlichen aus. Sie überwinden den Trennzaun ihres Käfigs und stürmen die Bühne.
Für kurze Zeit ist Newroz tatsächlich ein ausgelassenes Fest!
Während die Überwachungspolizisten in den umliegeneden Häusern mit ihren Teleobjektiven filmen und photographieren, was das Zeug hält.

Nach etwas über einer Viertelstunde ist dann Schluß mit Lustig. Über die Lautsprecheranlage wird mitgeteilt, dass die Polizei die Veranstaltung wegen des Bühnensturms für beendet erklärt und alle schnell den Platz verlassen sollen, da die Polizei sonst eingreift. Es ist erstaunlich wie schnell die hunterttausend Menschen abziehen. Innerhalb weniger Minuten ist der Platz menschenleer.

Auf dem Rückweg gelingt es bina tatsächlich, ihr rot-gelb-grünes Tuch zurückzubekommen.

es wird gefeiert und getanzt, was das zeug hält. viele haben sich fein gemacht. all diese bunten prächtigen kleider der frauen, männer in feinen pluderhosen (ich hab den richtigen namen vergessen), dazu ein weißes hemd, eine farblich passende bauchbinde und ein jackett. so elegant! alte und junge und die kinder dazwischen. wir auf der tribüne haben zum glück auch etwas von der party, weil niemand erwartet, daß wir stocksteif auf unseren stühlen sitzen. selbst die großkopferten, die man daran erkennt, daß sie in der mitte der tribüne hocken und einen tisch mit blumen vor sich haben, laufen herum. die alte von den peace mothers muß mich immer wieder drücken und küssen, wenn wir uns begegnen. ich habe keine ahnung, warum sie mich so liebt, aber ich finde es schön.

oben auf der bühne werden reden geschwungen. die frau von der sur-plattform hält auch eine und läßt sich vorher von mir mut zusprechen, denn sie ist ziemlich nervös. das ist auch so eine besonderheit bei kurden. frauen sprechen wie männer von der bühne herunter, lautstark, wütend, anfeuernd und die zuhörer schenken ihr genau so viel aufmerksamkeit wie dem männlichen redner vorher. nicht aus höflichkeit, sondern weil sie interessiert, was sie zu sagen hat.

ein älterer kurdischer starsänger bringt das betagtere publikum zum schmelzen und die band bandista mit ihren ska-rhythmen heizt den jungen leuten ein.

dann wird der vorplatz gestürmt. ich krieg ein bischen muffensausen, weil ich nicht einschätzen kann, was jetzt passiert. ich schaue nach den friedensmüttern, nach e… und anderen mir bekannten gesichtern, aber die bleiben alle ganz gelassen. bandista spielt auch weiter, nachdem jemand eine durchsage gemacht hat, also besteht wohl keine gefahr. bei dem aufgebot an polizei und militär mit all ihren waffen weiß man nie. und dann verlassen alle geordnet den platz. ohne protest. sie wissen was sonst käme. festnahmen, vielleicht schießereien. das fest ist zuende.

zum grund der beendigung höre ich noch eine andere version. die polizei hat den veranstaltern ein festgelegtes zeitfenster gegeben. wer innerhalb dessen nicht gesprochen hat oder aufgetreten ist, hat halt pech gehabt.

auf dem rückweg zum bus liegen am mittleren checkpoint noch die tüten mit den einkassierten tüchern. ich verlange das meine zurück. tatsächlich darf ich es wiederhaben und die welt ist wieder in ordnung.

Abends gibt es noch ein Abschlußessen mit der HDP und allen Delegationen.
Während der Parlamentsabgeordnete uns “Newroz Piroz Be” wünscht und für unser Kommen dankt, laufen hinter ihm türkische Jubelbilder aus Afrin im Fernsehen. Surreal!