Tel Aviv

Donnerstag bis Samstag, 9.–11.11.2017

Nachdem ich zwei Probleme am Bulli behoben habe, geht es auf nach Tel Aviv. (Es mußte die Glühlampe Abblendlicht Beifahrerseite ausgewechselt werden und der Motor verlor etwas Diesel. – Ein paar Schrauben hatten sich gelockert. Nachziehen und gut.)

Auf der Fahrt von Haifa nach Tel Aviv sehe ich zum ersten Mal im Leben wilde Pelikane. Im Flug sehen sie von weitem wirklich aus wie Flugsaurier.

Ansonsten erinnert mich die Gegend zwischen Haifa und Tel Aviv stark an die Niederlande: Intensivste Landwirtschaft; eine gigantische Infrastruktur von Autobahnen, Stromleitungen, Zugtrassen und so weiter; Firmengebäude, die aussehen wie notgelandete Ufos; und Städtchen, die offensichtlich am Reißbrett geplant wurden. Klar, die Niederländer haben ihr leeres Land dem Meer abgerungen, die Israelis den Palästinensern.

Was wirklich unglaublich ist, ist die Art wie hier Baustellen betrieben werden. Da kommen auf 200m Autobahnbaustelle 20 Baustellenfahrzeuge, die alle in Betrieb sind und mindestens 50 aktive Arbeiter. Auf diese Weise wird eine Baustelle, die bei uns monatelang die Autobahn verengt, in wenigen Tagen abgearbeitet. – Wir fahren durch eine solche Turbobaustelle, und ich weiß von vor sechs Jahren noch, was die in wenigen Tagen schaffen. Damals hatten sie in drei Wochen etwa 20km Autobahn komplett erneuert. Und ich meine komplett! Warum geht das bei uns nicht?

tel aviv hat kaum parkplätze und in 90% der fälle auch nur gegen entgelt. selbst über einen solchen parkplatz nur drüberzufahren kostet  5nis (neue israelische schekel). in einer seitenstraße finden wir einen stellplatz, werden aber weggebeten, weil der nur für anwohner ist. doch etwas außerhalb gibt es einen umsonstparkplatz, wo wir die nächsten drei tage stehen bleiben. die bromptis (unsere falträder) spreche ich irgendwann heilig.

tel aviv ist ohnehin die stadt der klapp- und falträder. fast alle haben einen e-motor und flitzen mit gefühlt 50 sachen über die fahrradwege. und es ist die stadt der jogger und fitnessbegeisterten. überall wird gejoggt, es gibt am strand sehr viele außensport-anlagen, die von allen generationen und geschlechtern genutzt werden. man macht yoga am strand, dehnübungen auf dem bürgersteig. soviel sport wird noch nicht einmal im sommer an der alster getrieben.

Novembertag in Tel Aviv

am nächsten tag (freitag) ist michel nicht wohl und bleibt lieber im bett.
ich erkunde die stadt.

grau ist die weiße stadt geworden. etwas morbide. nur wenige bauhaus-gebäude sind renoviert und werden dem namen der stadt gerecht. der berühmte „carmel-market“ ist tatsächlich auf den ersten blick schön. einerseits kunsthandwerk edelster güte, dann der lebensmittelmarkt wie ich ihn in antiochia sah. aber die stände werden meist von israelis betrieben. zuweilen gibt es arabische stände, einer sogar mit meinem geliebten künefe, aber nur wenige. mir kommen sie wie ein alibi vor. es ist gestohlene kultur.

nein, ich hab nichts dagegen, wenn man schöne dinge aus anderen kulturen oder von anderen völkern übernimmt. ich spiele ja auch die bodhran, obwohl ich weder irin bin noch dort lebe.
aber ich behaupte nicht, die iren würde es nicht geben oder die bodhran sei ein deutsches schlaginstrument.

diese haltung erlebt man in israel immer wieder. hummus wird als israelische nationalkost bezeichnet. selbst studierte menschen wie der mann in haifa, den wir wegen der kippa fragten und der anwalt ist, sagt ohne arg: ‚dies land wurde uns von gott gegeben.‘ als hätten hier nie palästinenser gelebt. so fühlt es sich auch auf diesem markt an und ich verlasse ihn mit einem flauen gefühl im bauch.

abends spiele ich dann endlich im „molly blooms“ in der session. ich werde herzlich aufgenommen.

die regeln sind etwas anders als ich sie kenne. sets bestehen aus 4 bis 5 tunes, wenn ein tune zuende geht, sagt einer kurz den nächsten an und spielt ihn an. nicht wie im irish rover in hamburg, wo einer ein set anführt und es auch in tempo und wiederholungen zuende leitet. hier sortieren sie nur nach reels und jigs, polkas u.s.w. wir sind drei bodhrani und wir alle spielen fröhlich und gleichzeitig drauflos. ich versuche, mich im spielmuster den anderen etwas anzupassen (das gelingt mir nur zeitweise). und als wir alle drei mal päuschen machen, gibt‘s gleich beschwerde von der fiddle: ‚wo seit ihr? ich kann ohne euch nicht spielen!‘

die jigs haben noch gemäßigtes tempo, die reels und polkas sind gradezu rasant. ich verziehe mich oft aufs halbe tempo und hoffe, ich bremse die session nicht zu sehr aus. na, immerhin werde ich später gefragt, ob ich nächsten freitag wieder dabei bin.

Im Molly Blooms

dann ist am nächsten tag erst mal sabbath. aber wir wären nicht in tel aviv, wenn man das sonderlich merken würde. die ultra-orthodoxen juden bleiben zu hause und die busse fahren weniger bis gar nicht. aber der säkulare teil der bevölkerung genießt den sonnigen novembertag am strand, macht mit der familie ausflüge, geht bummeln. am hafen haben auch die geschäfte geöffnet.

wir lümmeln ebenso am strand, im queerteil selbstverständlich, der am ende der bucht liegt. lustigerweise gleich neben dem abgesperrten teil für die orthodoxen juden, der völlig sichtgeschützt ist und am sabbath für alle offen, weil die orthodoxen samstags eh nicht an den strand gehen.

Der orthodoxe Strandabschnitt ist mit Palisaden vom übrigen Strand abgegrenzt und abwechselnd je einen Tag nur für Männer und einen nur für Frauen geöffnet. Da der Strand hier die Form eines „U“ hat, kann man vom schwulen Strand direkt zu den orthodoxen rübersehen. Wie man auf die Idee kam, den orthodoxen Strand ausgerechnet zwischen den schwulen Strand und den FKK-Strand zu legen ist mir ein Rätsel. Der FKK-Strand heißt hier übrigens tatsächlich ganz offiziell „Spanner-Strand“. Ist das nun Humor oder Realitätssinn?

der strand ist toll organisiert. alle paar hundert meter gibt es einen stand mit toiletten, süßwasserduschen für nach dem baden, günstigem essen und trinken, eventuell einem surfbrett-verleih oder einen büchertausch-wagen. strandliegen kann man für wenig geld mieten, muß man aber nicht. wer trotzdem nicht im sand liegen will, hockt sich einfach auf die treppe, die stellenweise auch rundungen wie liegen hat.

ab und zu ertönt eine lautsprecherdurchsage in vier bis fünf sprachen, daß das baden verboten ist, weil die life-guards nur von april bis oktober arbeiten. es hält sich aber keiner dran und als ich im molly blooms danach gefragt habe, lachten alle auch nur.

Tel Aviv und der zugehörige Strand sind echt toll. Kein Wunder, dass die Immobilienpreise hier mit die höchsten der Welt sind. Der Strand ist feinsandig und die Infrastruktur (wie Duschen, Klos und Fitnessgeräte) ist gut und kostenlos. Für wichtige Produkte gibt es einheitliche Sozialpeise. So kostet eine Pita mit Hummus überall am Strand 12 Schekel (also etwa 3€). Wir liegen in der Sonne und sehen den Schwulen zu, die sich gegenseitig beim Workout an den Fitnessgeräten zusehen. Zwischendrin gehen wir ins Wasser oder lesen in unseren Büchern. Das einzige, was mir die Idylle trübt ist, dass ich in der Ferne Jaffa sehe. Heute ein Stadtteil von Tel Aviv, bis 1948 eine Palästinensische Stadt, deren Bewohner ins Meer getrieben wurden. Sie mußten sich mit Booten aus ihrer belagerten Stadt evakuieren. Viele ihrer Nachkommen leben heute im Gazastreifen.