Ahed Tamimi

Ahed Tamimi ist ein 16 Jähriges Mädchen aus dem Dorf Nabi Saleh im Westjordanland, das Mitte Dezember im Rahmen einer nächtlichen Razzia verhaftet wurde nachdem ein Youtubevideo, das zeigt wie sie einen israelischen Soldaten schlägt und tritt, viral geworden war. Nun drohen ihr 10 Jahre Haft.

Auch in Deutschland haben die viele Zeitungen und Onlinemedien das Thema zumindest kurz aufgenommen, den Vorfall aber so behandelt, als ob es keine Vorgeschichte und keine Hintergründe gäbe. Und das ist in diesem Fall mehr als fatal. Deshalb hat uns die hebroner Gruppe YAS (Youth Against Settlements) gebeten einen Hintergrundartikel für eine deutschsprachige Onlineplattform zu schreiben, mit der sie zusammenarbeiten.

Wir haben im Jahr 2011 selbst an einer der Freitagsdemonstrationen in Nabi Saleh teilgenommen und erlebt, wie die Soldaten das Dorf stundenlang mit Tränengas einnebelten und wie sie, als nach über anderthalb Stunden Tränengaseinsatz einige Steine flogen, das Dorf einnahmen, Türen eintraten und Dächer besetzten. – (Wie gesagt, die Steine flogen erst NACH anderthalb Stunden Tränengaseinsatz!)

Hier der Link zum Spiegel-Online-Artikel und Video zu Ahed Tamimi: LINK!

Und hier unser Hintergrundartikel:

Ahed Tamimi Hintergründe:

Ja, das Internet ist kein Medium für längere Hintergrundtexte, eher für Katzenphotos mit lustiger Bildunterschrift.

Aber die Geschichte Ahed Tamimis läßt sich nicht reduzieren auf ein einminütiges Youtube-Video, das zeigt, wie ein unbewaffnetes Mädchen einen bewaffneten Soldaten schlägt und tritt, sowie ein Bild, des selben Mädchens in Handschellen im Gerichtssaal. – Unwissen um die Hintergründe und Vorgeschichte ist hier gefährlich.

Nimm Dir bitte die Zeit, diesen Text zu lesen.

Dorf, Quelle und Demonstrationen

Ahed Tamimis Dorf Nabi Saleh hat etwa 600 Einwohner und liegt 20km westlich von Ramallah sowie 10km östlich der Grünen Line im Westjordanland. Es hat einige Bekanntheit durch die wöchentlichen Demonstrationen erlangt, die die Dorfbewohner seit 2010 durchführen, gegen die Konfiszierung eines Teils ihres Landes, die Übernahme ihrer Wasserqelle durch die benachbarte israelischen Siedlung Halamish, den fortgesetzen Ausbau der Siedlung und Siedlerübergriffe, wie zum Beispiel das Anzünden von Zitrusbäumen und Bienenstöcken im Jahr 2009.

Eine Quelle ist im trockenen Westjordanland wesentlich wichtiger als im verregneten Deutschland. Während die Dorfbewohner und ihre Landwirtschaft auf dem Trockenen saßen, nutzten Siedler und israelische Soldaten die Wasserbecken der Quelle gemeinsam als Freibad und stellten Bänke, Picknicktische und Lauben auf. – Zwar erreichten die Dorfbewohner 2012 eine Anordnung zum Abriß dieser Anlagen, doch diese wurde nicht umgesetzt.

Im Zusammenhang mit den wöchentlichen Demonstrationen, wurden alleine im ersten Jahr (konkret bis Ende März 2011) 64 Dorfbewohner festgenommen und inhaftiert. (Insgesamt wurden bis heute mehr als 140 Dorfbewohner verhaftet. Dazu, wieviel mehr es sind, ist dem Autor keine zuverlässige Zahl bekannt.) Etwa 350 Dorfbewohner wurden verwundet. Um die Demonstrationen aufzulösen, setzt die israelische Armee unter anderem Tränengas, Sound-Granades (eine Art extralauter Knallkörper), Skunk-Water (eine sehr, sehr eklig stinkende, überall haftende Flüssigkeit), sogenannte Gummigeschosse (gummiummantelte Stahlmunition) und scharfe Munition ein. Einige der Palästinenser antworten mit Steinwürfen. Regelmäßig besetzt die Armee das Dorf, postiert Soldaten auf Hausdächern oder tritt Türen ein, wenn sie nachts ohne konkreten Grund oder Anlass Häuser durchsucht.

Ahed Tamimis Familie

Aheds Onkel Mustafa Tamimi war das erste Todesopfer der wöchentlichen Demonstrationen. Er wurde am 9. Dezember 2011 auf kurze Distanz von einer Tränengasgranate tödlich am Kopf getroffen. Ein zweiter Verwandter starb kaum ein Jahr später. Ruschdi Tamimi wurde am 17. November 2012 mit scharfer Munition getroffen und erlag zwei Tage später seinen Verletzungen. Beide Todesschützen wurden nicht verurteilt, da sie zum Tatzeitpunkt von Demonstranten mit Steine beworfen wurden.

Ihr Vater Bassem wurde 1967 geboren, dem Jahr in dem Israel das Westjordanland eroberte. Weder er noch seine Kinder haben je ein Leben ohne Besatzung kennengelernt, also ohne Checkpoints, Hausabriße, Festnahmen, Demütigungen und Gewalt. Er gilt als einer der Organisatoren der wöchentlichen Demonstrationen in Nabi Saleh, wurde mindestens 12 Mal verhaftet und hat einmal mehr als 3 Jahre am Stück ohne Verfahren in Administrativhaft verbracht. (Die israelische Armee kann Palästinenser im Westjordanland ohne Anklage oder Verfahren in „administrative detention“ nehmen.)

Bassem Tamimis Widerstands- und Verhaftungsgeschichte geht weit bis vor die wöchentlichen Demonstrationen oder Aheds Geburt zurück. 1993 fiel er für 8 Tage ins Koma, nachdem er beim Verhör dem sogenannten „Schütteln“ ausgesetzt war und mußte wegen eines Aneurysma operiert werden, einem zwischen Schädeldecke und Gehirn sitzenden Bluterguss, der typischerweise mit einem Schädel-Hirn-Trauma in Zusammenhang gebracht wird.

Auch Aheds Mutter wurde mehrfach festgenommen, das letzte Mal als sie wegen Ihrer Tochter bei der Militärverwaltung vorstellig wurde.

Für das Haus der Familie Tamimi gibt es eine Abrißverfügung. Das heißt, es kann jederzeit und ohne weitere Vorwarnung abgerissen werden. (Das ist im Westjordanland ein durchaus übliches Damoklesschwert.)

In diesem Umfeld von Unrecht ist Ahed Tamimi aufgewachsen. Sie kann nicht mehr zählen, wie oft sie schon Tränengas eingeatmet hat und vermutlich auch nicht, wie oft ihre Haus gestürmt und durchsucht wurde. – Bitte stell Dir kurz vor, Du oder Dein Kind sei so aufgewachsen.

Das Video und die Situation, in der es entstand

Die im Video zu sehenden Soldaten stehen auf dem Grundstück von Ahed Tamimis Familie. Kurz vorher haben ihre Kameraden Aheds Cousin mit einem gummi-ummantelten Stahlgeschoss ins Gesicht getroffen und durch die splitternden Fensterscheiben Tränengas in ihr Haus geschossen.

Nun sehen wir im Video das 16-jährige Mädchen Ahed Tamimi, wie sie versucht die Soldaten mit Schlägen und Tritten von ihrem Grundstück zu vertreiben.

Sicher, dass ist keine lupenreine Gewaltfreie Aktion im Sinne Mahatma Gandhis. Aber es ist verständlich und nachvollziehbar. Und wenn die israelische Armee das Mädchen dafür in einer nächtlichen Razzia aus seinem Bett holt und mit 10 Jahren Gefängnis bedroht, gibt es darauf nur eine moralisch richtige Reaktion:

Solidarität mit Ahed Tamimi!

Freiheit für Ahed Tamimi!

(Stell Dir bitte kurz vor, Ahed sei Dein Kind!)