Auf der falschen Demo

Fr. 22.12

diesmal soll eine demo nach dem freitagsgebet am stadion losgehen.

schon beim warten auf das ende des gebets vor der moschee fällt uns auf, das irgend etwas anders ist.

es gibt keine musik wie letzten dienstag, es warten mit uns keine frauen und kinder. nur ein paar jugendliche und ein vermummter knabe mit grüner hamas-fahne und junge erwachsene stehen an der straßenecke. dazu ein paar beobachter von verschiedenen ngos und und nationale presse. irgendwann tauchen auch die ersten gelben und orangenen fatah-fahnen auf.

aber dann ist das gebet zuende und wir sehen die schwarzen fahnen mit goldener schrift.

Demobeginn.
Hier ist das Emblem des Islamischen Dschihad gut zu sehen.

ich frage einen pressemenschen. es ist der islamische dschihad palästinas.

wir haben es später noch mal recherchiert. sie sind es tatsächlich.

Mir sagt ein einheimischer Reporter auf Nachfrage, das sei zwar „Dshihad Islami“ aber nicht DER(!) Islamische Dschihad, den ich aus den Medien aus Syrien und so kenne. Die hier seien lokal von hier und liberaler als die Hamas (Was immer das auch für eine Meßlatte für Liberalität ist!), eher so wie Fatah. – Es fühlt sich zwar trotzdem nicht richtig an. Aber erstmal sehen, was passiert. Mit wem wir es hier wirklich zu tun haben, wird mir erst klar, als ich nach der Demo im Candy-Q sitze und auf Wikipedia nachsehe. Hier der Link:

Wikipediabeitrag Islamischer Dschihad in Palästina

mir wird flau im magen. am liebsten würd ich mich umdrehen und gehen. mit dem dschihad möchte ich nichts zu tun haben. aber schaun wir mal, was passiert. vorerst werden wir nicht im zug gehen, sondern ihn nur begleiten. die parolen, die gerufen werden, können wir leider nicht verstehen. ich hätte so gern den genauen wortlaut erfahren, aber wen wir auch fragen, wir erfahren nur, daß es sich wieder um trump und jerusalem als hauptstadt von israel handelt. soviel verstehen wir mittlerweile aber auch. (‚allah u akhbar‘ (also ‚gott ist groß‘) und al’kuds‘ (der arabische name von jerusalem) hören wir oft in diesen tagen.

die demonstranten sind teils vermummt, ein kleiner junge trägt schon ein hamas-stirnband und läuft an der hand seines vaters mit. und voller eifer werden die fahnen geschwenkt.

Um es ganz klar zu sagen: Es war ein Junge mit grünem Hamas-Stirnband und Fahne. Wären es mehrere Erwachsene gewesen, wären wir sofort weg gewesen.

ein pressemensch stolpert im eifer des photographierens und verknackst sich den fuß. in mir schlägt die altenpflegerin durch und wir gehen helfen. diese demo ist ohnehin nicht das, was wir mittragen wollen.

Bina im Sanitäterinnenmodus.

und doch laufen wir der demo hinterher und schauen in dies freundliche gesicht. was für ein lichtblick an diesem tag.

Eine Hochzeit steht an und am Straßenrand wird der Wagen vom Blumenhändler geschmückt.

den eheleuten von hier aus alles gute!

als wir zum checkpoint kommen, sind die älteren demonstranten schon gegangen. fahnen sind nur vereinzelt zu sehen und die läden sind ringsherum geschlossen. auch die händler an der straßenecke haben ihre stände diesmal abgedeckt. nur ein pferd steht noch vor seinem karren und dann aber aus der gefahrenzone geholt. wir stellen uns zu der presse, die sich unter den vordächern der läden außer reichweite der jugendlichen postiert haben.

in den straßen schmeißen ca. 40 jugendliche steine. mit davidschleudern versuchen sie, die soldaten auf dem dach neben dem checkpoint zu treffen. meist landen die brocken aber auf der straße und treffen höchstens die autos, die vereinzelt noch fahren. eine brennende mülltonne steht auf der straße, viel zu weit entfernt, daß die armee sie überhaupt sehen könnte und im prinzip zu nichts nutze.

die soldaten machen es gar nicht so ungeschickt. nur wenige haben auf dem dach stellung bezogen, können notfalls auf ein dach nebenan wechseln und haben die direkte umgebung des checkpoints gut im blick.

Die Situation ist absurd. Die Demo hat sich in Luft aufgelöst. Es bleiben ca. 40 Krawalljugendliche und über 40 Reporter sowie jeweils ein Dutzend internationaler Beobachter und israelische Soldaten. Da die meisten vermummten Jugendlichen versuchen, sich außerhalb der Reichweite der Gewehre zu halten, bleibt ihnen nur, von der Parallelstraße aus zu versuchen, die Soldaten über die Dächer hinweg mit Steinen zu bewerfen. Was ihnen so vorhersehbar wie gründlich mißlingt.

Geradeauszu der Checkpoint. Rechts oben Soldaten auf dem Dach. Darunter wartet ein Pferd brav darauf, aus diesem Chaos abgeholt zu werden. Das „normale“ Leben geht noch weiter, obwohl schon seit etwa einer Viertelstunde Steine fliegen.
Dieser Soldat jongliert die ganze Zeit mit seinen Sound Granades.
Scharfschütze und Kameramann.

mit „sound granades“ (extra lauten knallgranaten) halten sie sich die demonstranten auf abstand und warten ansonsten ab.

Die Soldaten werfen mehrere Sound Granades zwischen die Presse.

 

Sagten wir schon, dass sie sehr laut sind?
Irgendwann bekommen die Soldaten mit, dass jemand versucht, sie aus der Parallelstraße über die Häuser hinweg mit Steinen zu bewerfen. Und sie werfen genauso ungezielt und erfolglos mit ihren Riesen Sylvesterknallern zurück.

dies katz- und mausspiel finden wir komplett unsinnig. diese knallgranaten sind einfach nur laut und machen ansonsten nichts. die soldaten halten mit wenigen leuten auf dem dach die stellung und die demonstranten rennen mit steinen dagegen an. irgendwann sind wir es leid und gehen.

wir brauchen leider eine weile, vielleicht eine zu lange weile, um für uns eine meinung zu bilden. Aber unser beschluß steht fest:

wir werden auf keiner demonstration mehr mitgehen, wenn da auch nur eine schwarze dschihadfahne auftaucht. und auch hinter einer grünen hamasfahne laufen wir nicht hinterher.

wir würden nicht auf einer demo von nazis mitgehen, selbst wenn sie für etwas auf der straße sind, das wir eigentlich gut finden. dann fangen wir hier auch nicht damit an. erdogan wettert auch gegen trump und wir halten ihn nach wie vor für einen nicht tragbaren, egomanischen despoten.

mit diesen fanatikern machen wir uns nicht gemein, in dem wir der demo beiwohnen oder auch nur an der seite beobachtend mitgehen. ihnen wollen wir keine bühne für ihre ansinnen bieten. abgesehen davon wären wir wahrscheinlich mit die ersten, die sie auf dem kieker hätten.

wir könnten unseren syrischen freunden nie mehr in die augen schauen, wenn wir beim nächsten mal nicht auf dem absatz kehrt machten, sobald wir sie sehen.

mit dem steinewerfen ist das so eine sache.

es ist zwar außerordentlich dumm und sinnlos, aber offentsichtlich gehört das hier zum normalen demonstrationsgeschehen. wenn ich mich in diesem land so umschaue, das immer voller steine liegt, wo felder nicht einfach nur umgegraben werden müssen, damit etwas wachsen kann. immer müssen erst tagelang steine gelesen werden und so wundert es mich nicht, daß das steinigen hier eine alte tradition hat. im moor bei uns im norden wäre diese tradition eher unpraktisch. dafür funktioniert das versenken im moor hier nicht so gut.

was ich an der steinewerferei nicht mag ist die tatsache, daß es den geist verklebt und verhindert, sich etwas phantasievolles oder wirkungsvolles auszudenken. es ist so schön einfach, steine liegen überall herum, auch in der stadt. man kann sich als held fühlen und sich vor seinen freunden dick tun.

die presse freut sich natürlich auch, kriegt sie doch die bilder, auf die alle gewartet haben. aber es regt niemanden zum nachdenken an, die eigenen leute nicht und die soldaten oder siedler schon gar nicht.

Dazu, wie genau wir zum Steinewerfen stehen, sind wir immer noch in der Diskussion und im Denkprozess.

In Deutschland ist die Sache klar: Es ist mit unserer Gewaltfreiheit unvereinbar, sowas in irgendeiner Weise zu unterstützen. Zumal wir in einer leidlich gut funktionierenden parlamentarischen Demokratie leben.

In Palästina ist das schwieriger: Die Palästineser können ihre Beherrscher nicht abwählen. Sie haben in israelischen Wahlen keine Stimme. Auch ist es so, dass ein Steinewerfer hier Gefahr läuft erschossen zu werden, ohne Verfahren in Administrativhaft genommen zu werden, oder dass nachts seine Tür aufgebrochen und die halbe Wohnung verwüstet wird. Alles Drei kann auch passieren, wenn er sich überhaupt nicht an Demonstrationen beteiligt! – Und spätestens bei der völlig überzogenen (Re?)-Aktion der israelischen Armee sind wir mit dem Palästinenser solidarisch. Egal, ob er vorher Steine geworfen hat, oder nicht. Jeder unbewaffnete Mensch, der gezielt erschossen wird und jeder Mensch, der ohne Verfahren im Knast sitzt, verdient unsere volle Solidarität.

Etwa anderthalb Stunden, nachdem wir die Szene vorm Checkpoint verlassen haben, schießt ein Soldat einem der Jugendlichen mit scharfer Munition ins Bein.  Der internationale Beobachter, der uns das erzählt, sagt der Jugendliche hätte nicht aufgehört, die Soldaten zu provozieren und sei immer weiter an sie und den Checkpoint herangegangen.

Abends sitzen wir noch auf der Terasse von YAS (Youth Against Settlements) in der Geisterstadt. Zu YAS haben wir vertrauen, weil sie mit der KURVE Wustrow zusammenarbeiten. Einem auf Trainings in Gewaltfreiheit spezialisierten Tagungshaus, mit dem Michel zu Zeiten der Castor-Transporte nach Gorleben viel zu tun hatte.

Das Haus von YAS wird gut bewacht. Blick durch die Büsche.
Die Aktivisten von YAS stellen sich für ein Facebookfoto auf. Ahed Tamimi ist ein 16-jähriges Mädchen aus dem für seinen gewaltfreien Widerstand bekannten Dorf Nabi Salih, die in Administrativhaft sitzt.

Weihnachten in Bethlehem

Sa.-So 23.-24. Dez. 2017

Geburtskirche

Eingang der Geburtskirche.

Dazu, warum der ursprünglich größere Eingang der Geburtskirche so stark verkleinert wurde, kenne wir drei Geschichten. Erstens, um die Besucher der Kirche zu einer demütigen Haltung zu zwingen. Zweitens, um Überfälle und Raub zu erschweren. Drittens, damit die Kreuzritter nicht mehr zu Pferde in die Kirche reiten.

Griechisch orthodoxer Altarraum. (Ihnen gehört das Hauptkirchenschiff.)
Unterhalb des heutigen Kirchenbodens befindet sich ein Mosaik aus der Zeit der heiligen Helena.
Ausgang der Geburtsgrotte mit der Geburtsnische. Wir haben uns nicht angestellt, die Schlange vorm Grotteneingang war einfach zu lang.

Die Katholiken legen Wert darauf, zu betonen, dass sie zwar überirdisch nur eine Kirche neben der eigentlichen Geburtskirche haben, ihnen unterirdisch aber der größere Teil der Geburtsgrotte gehört. Zu ihrem Leidwesen liegt die Geburtsnische aber im orthodoxen Grottenteil.

Kreuzritterkritzelei im katholischen Grottenteil. Ja, dieses Gekritzel steht hinter Plexiglas, weil es über 800 Jahre alt ist.
Das „heilige Spannerloch“ katholische Mönche haben dieses Loch in die Absperrwand zwischen katholischem und orthodoxen Grottenteil gebohrt, durch die man die Geburtsnische sehen kann. – Die Schlange hier war deutlich kürzer.
Nebengrotten des katholischen Grottenteils.

Nette Gespräche mit Einheimischen

In der Touristeninformation treffen wir auf eine ältere Dame aus Berlin und eine palästinensische rheinische Frohnatur, die länger in Köln gelebt hat. Das Gespräch ist sehr sehr nett.

Am Abend des 23. Dezember bittet uns ein Angestellter des Hotels, auf dessen Parkplatz wir unwissentlich stehen, zum Direktor. Wir rechnen mit Ärger, werden aber stattdessen aufs überfreundlichste begrüßt und zum Kaffee eingeladen. Die Schwester des Direktors wohnt in Hamburg. Zwei Punkte des Gesprächs liegen uns allerdings anschließend wie Steine im Magen:

Unser Gastgeber kennt die Umgebung Hamburgs besser als die seiner Heimatstadt Betlehem. In Hamburg könne man sich einfach aufs Fahrrad setzen und losradeln schwärmt er. Kein Soldat wolle einen Passierschein sehen oder frage nach dem Grund des Ausflugs.

Seine Kinder, die zum Teil volljährig sind, haben noch nie das Meer gesehen. Er selber hat einen Passierschein für den Checkpoint nach Jerusalem, der gerade einmal 500m von seinem Haus entfernt liegt, weil er ein registrierter Geschäftsführer ist. Aber seine Frau und seine Kinder haben keinen Passierschein. Also bleiben sie im Westjordanland gefangen. – Laßt es euch auf dem Herzen zergehen: Noch nie das Meer gesehen! – Dabei liegt Betlehem nur halb so weit vom Mittelmeer entfernt, wie Hamburg von der Nordsee.

Gemeinsame Erklärung der christlichen Oberhäupter

Die Oberhäpter der verschiedenen christlichen Konfessionen unterzeichneten am 23. Dezember öffentlich eine Erklärung für Palästina und gegen Trump. – Man muß Trump lassen, dass er die sonst chronisch zerstrittenen Christen des Heiligen Landes geeint hat. Auch eine Leistung.

Kurzform der Erklärung auf einer Tafel vorm Betlehmer Weihnachtsbaum.
Tanzende Aktivisten mit Weihnachtsmannmützen.
Erzbischof Theodosius, der orthodoxe Patriarch von Jerusalem.
Bruder Tack – ach ne das war Sherwood Forrest.
Bina schreibt auf die offene Wand.

Im Shouk

Bestimmen in der Geburtskirche und auf dem Vorplatz Pilger aus aller Welt das Bild, ist sind wir wenige Dutzend Schritte weiter, im Shouk schon wieder die einzigen Ausländer und werden wie üblich neugierig angestarrt.

Überall in Palästina gibt es rothaarige Araber. Im Volksmund heißen sie „Kreuzritter“, weil sie der Legende nach von zum Islam konvertierten Kreuzrittern abstammen.
Wie bei Aale-Dieter auf dem Hamburger Fischmarkt…
Bina hat vorher gefragt, ob sie photographieren darf. Vermutlich hat sie die Erlaubnis erhalten, weil das Angebot für hiesige Verhältnisse regelrecht züchtig ist.

Empfang des lateinischen Patriarchen

Das letzte Türchen im Adventskalender öffnet sich.

Dieses Tor in der Mauer zwischen Jerusalem und Betlehem öffnet sich nur einmal im Jahr, um den lateinischen Patriarchen (also den katholischen Bischof) von Jerusalem und den ihn begleitenden Autokonvoi durchzulassen.

Das Auto des Patriarchen mit Diplomatenfähnchen.
Auch der Weihnachtsmann fährt im Konvoi mit.
Passendes Graffito neben dem Tor.
In die Altstadt Betlehems ziehen Patriarch und Gefolge zu Fuß ein.
Der Patriarch segnet ein Kind.
Er wird von den christlichen Pfadfindern aller Konfessionen mit lauten Dudelsäcken empfangen.
Und die einheimischen Christen folgen ihm…
… bis zur Geburtskirche,…
… wo die Weihnachtskrippe steht, die letztes Jahr vorm Petersdom im Vatikan stand.
Das ganze ist eher Karneval als „Stille Nacht – Heilige Nacht“.
Die Pfadfinder ziehen genauso lautstark wieder ab wie sie aufgezogen sind.
Müdigkeit schlägt Lärm.
Der syrisch orthodoxe Patriarch und der Leiter seiner Pfadfinder scheinen beide weltlichen Genüssen nicht abgeneigt zu sein, zumindest den kulinarischen Genüssen.

Wer jetzt glaubt, dass die Pfadfinder damit ihren großen Auftritt gehabt haben, der irrt. Ihren richtig großen Auftritt haben sie beim orthodoxen Weihnachtsfest am 6. Januar. Da empfangen sie um 9 Uhr den syrisch orthodoxen Patriarchen, um 9.30 den koptischen Patriarchen, um 13 Uhr den griechisch orthodoxen Patriarchen und um 15.00 Uhr den äthiopisch orthodoxen Patriarchen. Ein paar Tage später, am 18. Januar, ist dann das armenische Weihnachtsfest, zu dem der armenische Patriarch mit einer Prozession Dudelsack spielender Pfadfinder empfangen wird.

Nur die Fahrt durch das Tor am Grab der Rahel ist und bleibt ein Vorrecht des katholischen Patriarchen. Wer ja auch zu schön, wenn die Israelis da jeden durchließen!

es macht mich fertig, dies offene tor zu sehen. ich bin heilfroh, daß es michel genau so geht und wir mit dem zug des patriarchen zur geburtskirche mitgehen, bevor sich das tor wieder schließt. das schließen des tores hätte ich emotional nicht ausgehalten.

aber dann in der altstadt die vielen menschen, die fröhlich hinter den dudelsäcken hergehen, miteinander plaudern und aus ganz palästina gekommen sind. das ist wunderbar.

British High Tea im Walled Off

Bei Dunkelwerden begehen wir unser ganz persönliches Weihnachten mit einem British High Tea im Walled Off Hotel.

Frohes Fest! Und Friede auf Erden!

Beobachtungsschnipsel:

  • das ausgelobte bier hat unsere freundin nina gewonnen. sie indentifizierte unseren wüstenwopertinger als klippschliefer. das verwunderte uns ein wenig, vermuteten wir ihn doch als endemische art auf dem kilimandscharo. herzlichen glückwunsch, nina.
  • fanta hat hier eindeutig mehr farb- und geschmacksstoffe. dafür ist der arabische Schriftzug schöner.
  • es gibt erstaunlich viele rothaarige jungen in hebron. regelrecht irisch-rotirisch-rot.
  • einige bäume bekommen tatsächlich gelbe blätter, obwohl es hier nie so kalt wird, dass es nötig wäre. frage: brauche sie es noch für etwas anderes?
  • ein besonderer lieferservice in hebron: morgens, kurz vor ladenöffnung stehen vor vielen, noch geschlossenen eingängen termoskannen, sorgfältig in tüten verpackt. so hat der ladenbesitzer gleich heißen tee oder kaffee, wenn er seinen tag beginnt. abends sieht man dann jungen mit einkaufswagen die läden abklappern, um die kannen wieder ein zu sammeln.
  • am köstlichsten ist das essen an den ständen, die es in jeder altstadt oder shouk gibt. wagen mit irgendwas gekochten in pfannen oder töpfen, kleine läden mit einem rauchenden grill davor. drei köfte im pita-brot, ein bisschen gegrillte tomaten und zwiebeln dazu. Oder schnell ein bisschen gekochtes irgendwas aus dem topf geholt, mit frischen kräutern durchgehackt, ebenfalls in pita geschoben und uns für kleines geld in die hand gedrückt. es schmeckt nach innereien. jeder deutsche amtsarzt würde hintenüber fallen, sähe er, daß der mensch am stand sich schnell die hände an der schürze abwischt, um das geld entgegen zu nehmen, um dann wieder das köfte-fleisch um die spieße zu kneten, die auf einem alten stück pappe liegen.
  • wir sehen den ganzen müll überall in den straßen und ecken nicht mehr und regen uns auch nicht mehr über die freizügige interpretation von verkehrsregeln auf. anscheinend passen wir uns mehr und mehr unserer umwelt an.

Verstörendes Gespräch mit H… und s…

Mo, 25.12.17

wir hatten H… und s… auf dem stammstisch in tel aviv kennengelernt, auf dem wir vor zwei wochen waren. ich hatte mit s… Ein sehr interessantes gespräch und so kam die einladung zustande.

was für ein gegensatz: letzte woche politik, gestern heiligabend und heute ein besuch bei chassidischen juden religiösester sorte.

endlich kann ich jemandem ein paar fragen zum leben einer orthodoxen jüdin stellen, die mich schon lange interessieren. s… lebt zwar mit H… zusammen, ist aber selber, was die religiösität anbelangt, relativ entspannt. sie trägt nur dann die übliche weiße bluse mit schwarzem rock und schwarzen strümpfen und die haare unter einem tuch versteckt, wenn sie mit der familie H…’s zusammen ist.

wie sie es an pessah macht, wenn sich kein krümel gesäuerten brotes im haus befinden darf und besonders strenge ernährungssvorschriften gelten, frage ich sie. dafür hat sie einen zweiten satz geschirr, besteck, töpfe und einen ofen im keller. die schränke in der küche werden ausgewaschen, alles gründlich gefegt und gewischt, auf den tisch in der küche wird alufolie gelegt und der alltags-herd wird nicht benutzt.

sie ist dabei noch relativ entspannt. es gibt zwar familien, die essen der einfachheit halber während der pessah-woche von plastikgeschirr. es gibt aber auch welche, die räumen die halbe wohnung um und streichen sogar die wände.

immer wieder kommt bei s… die frage auf, wo gott in meiner beziehung zu finden ist. ein interessanter gedanke, aber ich habe keine lust, mein verhältnis zu michel in dieser hinsicht ständig zu hinterfragen.

ich mag auch nicht alles, was ich tue, auf gott beziehen, so, wie s… es tut. ja, es mag die gedanken aufräumen, wenn man das chaos im schrank aufräumt. das mache ich dann aber für mich und nicht für gott. ich glaub, dem ist das ziemlich egal. und fußboden fegen ist einfach nur fußboden fegen.

Nach dem Essen verzieht s… sich mit bina in Richtung Küche, während H… mit mir am Eßtisch sitzen bleibt. H… ist ein chassidischer Rabbiner und sieht auch genau so aus, wie man ihn sich vorstellt. Wie er sich da vor mir in seinem Stuhl fläzt, etwas zu kurz und zu dick geraten, mit den Armen gestikulierend, wirkt er auf mich wie Reich-Ranicki im literarischen Quartett. Vor allem wenn er vom Englischen ins Jiddische verfällt, was er in zeitweise in jedem zweiten Satz tut. Das Gespräch ist sowohl interessant, als auch anstrengend und verstörend.

Der erste Teil ist interessant anstrengend: Er will wissen, ob ich an Gott glaube. Normalerweise geben sich die Leute mit meiner Antwort, „ich sei Agnostiker“, zufrieden. Nicht so ein chassidischer Rabbi. Es folgt Nachfrage auf Nachfrage. Punktgenau und gezielt. Der Mann macht das nicht zum ersten Mal. Gelernt ist eben gelernt. Ich finde die rabbinische Fragetechnik hochinteressant und spiele gerne mit. Später geht es um meine Beziehung zu bina. Auch bei mir die Frage, wo Gott in unserer Beziehung ist.

Irgendwann kommen bina und s… wieder dazu.

Der zweite Teil ist anstrengend verstörend: Irgendwie bekomme ich ihn dazu, auch von seinen Beziehungen zu erzählen. Er ist mit s… in dritter Ehe verheiratet, hatte mehrere heimliche Geliebte. Und er hat 9 (ja, neun!) Kinder aus den ersten beiden Ehen und mindestens ein uneheliches Kind mit einer Geliebten. Er erzählt, dass er seine Gemeinde in New York verloren habe, weil er einen großen Fehler gemacht habe und auf einer Homepage für übergriffige Rabbiner geoutet wurde. Was er sonst erzählt will ich hier nicht wiedergeben, aber es paßt sehr gut zu den erschreckenden Zeilen, die ich am nächsten Tag im Netz über ihn finde:

Rabbi W… has been accused of utilizing a mixture of kabbalah, hypno-eroticism and other manipulative techniques to enagage his potential victims prior to sexually assaulting them.

There have been allegations that Reb H… creates a cult-like devotion to himself utilizing trance-like-states, guided meditation, hypnosis; all under the guise of kabbalah teachings. Allegedly his MO (modus operandi) has been to use such techniques on women with histories of childhood abuse[…].

During this time both his behaviour and demeanour with his female students were consistently predatory, manipulative and abusive. He proactively sought ‚romantic‘ and sexual relationships wtih many many women, specifically targeting those who were emotionally vulnerable and fostering acute dependency. He consistently used his role as counselor to make sexual advances towards those who came to him in need. He had ‚romantic‘ sexual relationships with married and unmarried women who ranged in age from 20 to 50.“

Dieses Bild konnten wir uns aus seinen Erzählsplittern nicht machen, obwohl sie wie Puzzlestücke genau in dieses Bild hineinpassen und darin erwähnt werden.

H…’s Handeln widerspricht jedem Moralkodex, der mir in diesem Zusammenhang einfällt. Sowohl dem für Lehrer, als auch für Geistliche und Therapeuten, für Beziehungen und überhaupt! Am meisten verstört mich und uns, dass er weder strafrechtlich belangt wird, noch ein wirkliches Einsehen oder Schuldgefühle zu haben scheint.

Warum hat er uns zumindest teilweise ins Vertrauen gezogen? Zu große Selbstsicherheit? Weil wir weder Juden noch Israelis sind und bald wieder weg sein werden? Die anderen Stammtischteilnehmer waren ihm gegenüber offensichtlich arglos. – Zumindest wissen wir, mit wem wir reden müssen, weil er dabei ist, H… ein Forum mit einer Art Tantra- und Hypnoseseminaren zu geben.

auch mir hat H… ein paar fragen gestellt, als ich wieder mit am tisch saß. es war interessant, weil er mich tatsächlich dazu brachte, über dinge nachzudenken, über die ich sonst nicht in dieser weise nachgedacht hätte.

aber seit ich gelesen hab, wer er eigentlich ist, frage ich mich, wie er das später mal seinem gott erklärt, wie er sein leben geführt hat. ich frage mich auch, wie manipuliert s… ist, daß sie mit ihm noch zusammenleben mag und mit ihren fragen ja durchaus in die selbe kerbe haut. ich denke darüber nach, inwiefern sie sich mitschuldig macht.

Hebronschnipsel

Di-Do 26.-28.12.

Nach einem weiteren Tag in Tel Aviv, den wir mit Wäschewaschen, Strandspaziergang und einem Besuch in unserem hiesigen irischen Stammpub „Molly Blooms“ verbringen, fahren wir wieder nach Hebron.

Michel vor dem jüdischen Zugang am Patriarchengrab.

Ansonsten wird in der sterilen Zone nach Volkszugehörigkeit und Pass separiert. Hier nach Religion. Antworten wie Atheist oder Agnostiker lassen die Soldaten nicht gelten. (Wir haben es ausprobiert.) Sie kennen nur Juden, Christen und Muslime, von denen Letztere sich hier nicht aufhalten dürfen. – Als ein Soldat (der neu zu sein scheint) sich wundert, warum in deutschen Pässen keine Religionszgehörigkeit eingetragen ist, erzählen wir ihm, dass wir das letzte Mal, als wir das gemacht hätten, ein „J“ für „Jude“ eingestempelt hätten. Er sieht den Zusammenhang nicht.

Das Grab Baruch Goldsteins, der 1994 im Massaker in der Ibrahim Moschee 29 Menschen erschossen hat, hat einen Ehrenplatz gleich am Eingang der Siedlung Kiriyat Arba mit Blick über Hebron. Es ist ein Pilgerort radikaler Siedler, die nach jüdischer Tradition Steine darauf ablegen.
Ein sogenannter „Außenposten“ auf der Rückseite Kiriyat Arbats.

Die Wohncontainer liegen zwar außerhalb des Zauns, der die Siedlung hermetisch abschließt. Haben aber ein eigenes Zugangstor Siedlung, sind an die Infrastruktur angeschlossen, werden von der israelischen Armee bewacht und offensichtlich wird auch gebaut (ganz rechts).

Checkpoints

Die internationalen Beobachterorganisationen haben offensichtlich zu viele Vorfallberichte zu den Checkpoints 29/Salayme (der nicht von uns photographiert werden wollte und wo wir die Soldaten beim Schikanieren der Durchgehenden beobachtet haben) und 209/Qeitun an die UN geschickt. Die israelische Armee hat reagiert, und vorerst die Beobachtung dieser beiden Checkpoints verboten. Und zumindest das Christian Peaceteam (CPT) hat vorläufig seine Beobachter abgezogen.

Die Frau im Vordergrund, wartet 40 Minuten darauf, dass der Mann im Käfig (soweit wir verstanden haben, ihr Schwager) durchgelassen wird.

Der Vorfallbericht, den wir für EAPPI an die UN, hierzu geschrieben haben.

„Am Mittwoch, dem 27.12.2017, um 19.50 Uhr kamen wir […] von „israelischer Seite“ zum Checkpoint 56. Eine Frau stand mit zwei Mädchen vor dem Checkpoint und sprach mit den Soldaten und einem Mann, der sich im „Käfig“ zwischen den beiden Drehtüren auf dem Weg zur „israelischen Seite“ befand. Auf Nachfrage erklärten uns einer der Soldaten, dass der Mann nicht registriert sei, weil er nicht in „dieser Zone“ wohne. Er wolle nur die Familie seiner Frau besuchen. Der Mann im Käfig gab an, dass er sehr wohl registriert sei und jede Woche die Familie seiner Frau besuche. Die Soldaten forderten uns auf, wegzugehen, was wir nicht taten. Etwas mehr als 10 Minuten, nachdem wir angekommen waren, machte oder bekam einer der Soldaten einen Anruf mit dem Handy, woraufhin er sagte, der Mann im Käfig dürfe doch passieren. Er verließ den Käfig um 20.04 Uhr.

Auf unsere Nachfrage, wie lange er haben warten müssen, schaute der Palästinenser auf die Liste seiner Handyanrufe und antwortete: „Seit 19.24 Uhr. Also genau 40 Minuten.“ Er könne das so genau sagen, weil er zu Beginn einen Anruf getätigt hätte.“ – Es folgen unsere Personalien und Kontaktdaten. Und die UN hat mehr Photos bekommen.

Die Palästinenser hatten uns schon erzählt, dass die Soldaten erstaunlich oft Fehler in ihren Registrierungslisten haben. Aufwand und Ärger haben dann die Palästinenser.

„Bitte Warten! Wir unterhalten uns gerade!“

Nächster Tag, selber Checkpoint. Als wir von „palästinensischer Seite“ am Checkpoint ankommen, stehen dort eine palästinensische Familie und ein einzelner Mann. Trotzdem dauert es über 10 Minuten, bis wir dran sind. Wir sehen die Soldaten quatschen und rauchen. Etwa alle 2 Minuten wird die Drehtür per Knopfdruck freigegeben und eine Person durchgelassen. Weder bei uns, noch bei den Palästinensern sehen die Soldaten überhaupt auf, um die Pässe eines Blickes zu würdigen. Als wir „drinnen“ sind, stehen draußen schon neue Menschen an. Wir fragen die Soldaten warum sie die Menschen warten lassen. Erst sind sie etwas irritiert. Sie waren so unaufmerksam, dass sie nicht gemerkt haben, dass sie gerade zwei Deutsche durchgelassen haben. Dann antworten sie halb empört, halb ertappt: „Because we’re talking here!“ – Ja, das sehen wir!

Soldaten besetzen kurzzeitig die Innenstadt

Fr. 29.Dez.

Die Freitagsdemo geht (wie üblich) am Ibn Rushd-Square los. Diesmal sehen wir nur Palästina-Fahnen und ein paar einzelne von der Fatah. Nach einem gemeinsamen öffentlichen Freitagsgebet, das wir höflich am Rand abwarten, geht es (wie üblich) die Hauptstraße einen Kilometer weit zum Checkpoint runter. Dort löst sich die Demo auf und die Jugendlichen schmeißen Steine (wie üblich).
Wir ziehen uns zusammen mit TIPH (den offiziellen UN-Beobachtern) ins oberste Stockwerk eines höheren Hauses zurück, wo wir einen Logenplatz haben.

Israelischer Soldat auf einem Dach am Checkpoint wirft eine „Sound Granate“. (Das rote Ding.)
Diese Siedlerin ist allgemein unter dem Spitznamen „die Filmerin“ bekannt. Und befindet sich gerade auf einem Palästinensischen Hausdach.

Auch uns hat sie schon gefilmt. Als wir an Chekpoint 55 standen. Und der Soldat am Checkpoint hatte sich viel Zeit gelassen und unsere Pässe schön hoch gehalten, damit sie auch ja alles drauf kriegt.
Die Jugendlichen sind heute zahlreicher, aggressiver und mutiger als letzte Woche. Die Soldaten werfen Soundgranaten halbdutzendweise und müssen wortwörtlich kistenweise Nachschub auf’s Dach schleppen.

Hier sieht man einen Stein im Flug. (Über dem mittleren Soldat vor dem Fenster.)
Nach einer dreiviertel Stunde Stein- und Knall-Granaten-Geschmeiße machen die Soldaten einen Ausfall.
Wir beschließen das Haus über den rückwärtigen Ausgang verlassen, und stellen fest, dass auch diese Parallelstraße von ihnen besetzt wird.

Wir befinden uns in H1, also dem Teil von Hebron, der theoretisch komplett unter Kontrolle der palästinensischen Autonomiebehörde steht und den die israelische Armee offiziell gar nicht betreten darf.

Da die jugendlichen Steinewerfer sofort abgehauen sind, bleibt nur die Konfrontation mit der Presse.

Die Presse wird nach und nach abgedrängt. Leider habe ich zu spät abgedrückt, als ein Soldat einen Kameramann, der nicht schnell genug weg ging, getreten hat. (So richtig Chuck Norris mäßig!) Wir setzen uns seitlich auf einen Treppenabsatz und tun so, als ginge uns das alles nichts an. Bald sind wir alleine auf diesem Straßenstück. Manchmal betreten Bewohner der umliegenden Häuser das Straßenstück und wollen raus oder nach Hause. Wir haben das Gefühl, ein gewisser Schutz für sie zu sein.

Irgendwann tauchen gepanzerte Fahrzeuge auf und verschwinden im Shouk.
Als alles gesäubert ist, posieren die Soldaten für Erinnerungsphotos.

Nachdem sie das Viertel eine dreiviertel Stunde lang besetzt haben, ziehen die Soldaten sich wieder zurück. Und ehe wir es uns versehen, ist das normale Leben wieder da. Die Marktstände öffnen, die Marktschreier rufen, die Kunden kaufen und die Autos stehen hupend im Stau. Die Geschwindigkeit, mit der das pralle Leben zurückkommt, ist fast noch unheimlicher als die Stille des besetzten Viertels. – „Normalität“ ist eben das, was im Leben der Menschen „normal“ ist!

Dieses Photo haben nicht wir gemacht, sondern Issa Amro von YAS. Die Soldaten haben diesen Jungen festgenommen, der laut Issa einfach nur am Straßenrand stand und Chips gegessen hat. Er hält die Chipstüte noch in der Hand. Hoffentlich kommt er schnell frei.

Walking Tours in Hebron

3. Jan. 2018

Erstmal ein Frohes Neues Jahr allen Freunden, Bekannten, Verwandten, Kollegen, Nachbarn, Schülern, Patienten und sonstigen Menschen, die diesen Blog lesen.

Walking Tour auf den Dächern der Casbah

Am Samstag, den 30. Dezember patrouillieren wir nachmittags durch die Altstadt, weil die Siedler jeden Shabbat von einem solidem Armeeaufgebot geschützt einen Ausflug aus ihrer sterilen Zone in die arabische Altstadt machen. Normalerweise kommen sie nachmittags, aber diesmal waren sie am Vormittag da und alles rechnet damit, dass sie am Nachmittag nochmal kommen. – Was sie aber nicht tun.

Beim Patrouillieren schauen wir neugierig in Seitengassen und Hinterhöfe, an denen wir sonst achtlos vorbeigehen. Dabei sind wir vorsichtig, um nicht in die Privatsphäre der Einheimischen einzudringen. Irgendwann passiert es aber doch. Anstatt uns wegzuschicken, werden wir eingeladen mit aufs Dach zu kommen und entdecken eine komplette neue Welt. Für uns ist es eine zweite Casbah oben auf der ersten. (Vermutlich hätten wir, Einladung auf Einladung folgend, die gesamte Altstadt durchqueren können, ohne eine öffentliche Straße zu betreten.)

Im Hintergrund israelische Siedlungen.
Das Dach als Spielplatz. (Findest du das zweite Kind?)
Nein, das ist keine öffentliche Straße – glauben wir zumindest.
Dicht an (oder in?) der sterilen Zone. Was muß das mal für ein schöner Serail gewesen sein.
Was für ein Labyrinth.

Walking-Tour mit ‚Breaking the Silence‘

‚breaking the silence‘ ist eine organisation ehemaliger israelischer soldaten, die nach ihrem militärdienst öffentlich machen, was ihre befehle während ihrer armee-zeit beinhalteten und wie sie sie ausführten.

mehrmals die woche führen mitglieder von breaking the silence gruppen durch hebron und kiriyat arba und erzählen von der situation der Palästinenser in der stadt, wie die armee hier agiert . interessant ist dabei die langfristige strategie und methode, mit der die siedlungen und die sterile zone um sie herum ausgeweitet werden. jeder schritt ist klein genug, um keine internationale aufmerksamkeit zu erregen, und groß genug, um vor ort tatsachen zu schaffen. ethnische säuberung in zeitlupe.

Der Fleischmarkt.

der fleischmarkt wurde 1994 geschlossen, weil die siedler einen geschützten platz haben wollten, auf dem sie sich versammeln können. die läden wurden geschlossen und etliche gebäude zerstört. einen solchen platz gibt es auch innerhalb des siedlungsblocks nebenan, der sogar besser geschützt ist. das eigentliche ziel scheint es gewesen zu sein, mehr raum einzunehmen.

Der Mann mit Bart und Mütze ist Judah, einer der Mitbegründer von Breaking the Silence. Er war während der zweiten Intifada zweimal für mehrere Monate in Hebron stationiert. Einmal am Anfang seiner Militärzeit als einfacher Soldat und einmal am Ende als Offizier.

Mich beeindruckt am meisten, wie er erzählt, wie die israelische Armee während seiner ersten Einsatzrunde gegen vereinzeltes nächtliches Gewehrfeuer von den umliegenden höherliegenden Stadteilen auf die Siedlungen vorgegangen ist. Da es nicht möglich ist, vereinzeltes Gewehrfeuer in einer nächtlichen Stadt zu orten haben sie nacheinander drei Dinge getan:

Zuerst haben sie drei Häuser auf drei Hügelkuppen innerhalb der Stadt besetzt und immer, wenn nachts mit Gewehren auf die Siedlungen geschossen wurde, haben sie auf irgendwelche Häuser in der Stadt zurückgeschossen. Und zwar nicht nur mit Gewehren und Maschinengewehren, sondern auch mit Granatwerfern und Panzern. Er selber war Schütze an einem Maschinen-Granaten-Gewehr, das statt Gewehrkugeln Granaten verschießt, die in unbebautem Gelände alles in 8m Umkreis töten. Und damit hat er auf dicht bewohnte Gebiete geschossen. Dies führte aber selbst nach einigen Wochen nicht dazu, dass der nächtliche Gewehrbeschuß der Siedlungen nachließ.

Also haben sie als Zweites die Stadt zusätzlich präventiv beschossen. (Wörtlich: „preemptive fire“.) Sie haben die dicht bevölkerte arabische Stadt jeden Abend eine halbe Stunde lang mit Maschinengewehren und Granaten beschossen. Und dabei Häuser und Straßen besser ins Visier nehmen können, weil es noch hell war. Trotzdem wurden die Siedlungen auch nach Wochen weiterhin nachts mit Gewehren beschossen.

Daher haben sie jeden Tag eine vorsorgliche Straf- und Abschreckungsexpedition gestartet. Sie sind jeden Tag mit Mannschaftspanzern in einen Stadtteil gefahren und haben auf alles geschossen. Einer seiner Kameraden habe sich darauf spezialisiert, mit seinem Gewehr Lampen zu zerschießen. Ein anderer habe mit Vorliebe Granaten in Geschäfte geschossen, so dass sie ganz hinten landeten und das gesamte Inventar auf die Straße geblasen wurde. Es sei wie ein Videospiel gewesen.

In diesem Haus wohnten einmal etwa ein Dutzend Familien – jetzt nur noch eine.

die übrigen familien haben die ewigen schikanen und übergriffe nicht mehr ausgehalten. eine gute methode von palästinensern bewohnte häuser in der geisterstadt zu erkennen ist, nach vergitterten fenstern ausschau zu halten. alle palästinenser hier haben solide gitter vor ihren fenstern, weil siedler regelmäßig steine an die scheiben werfen.

Während der Tour werden Mitglieder von Breaking the Silence von einem Siedler (links mit Kippa) bedrängt, der der Gruppe eine ganze Weile folgt.

er filmt und beleidigt sie, während sie versuchen, ihm aus dem weg zu gehen. die Soldaten dürfen ihn nicht anfassen, denn für solche vorfälle ist nicht die israelische armee zuständig, sondern die polizei. die siedler scheinen sich über dem gesetz stehend zu fühlen und benehmen sich auch so.

Die Straße auf der die Beiden und die Soldaten stehen ist der alte Gewürzmarkt und seit dem Goldsteinmassaker von 1994 steril, also für Palästinenser verboten, damit die Siedler ungestört zum Patriarchengrab gehen können. Die Parallelstraße war aber noch bis 2001 ein lebendiger arabischer Markt. Dann beschlossen die Siedler, dass es uninteressant ist, eine sterile Straße zu nehmen, wenn sie stattdessen durch einen lebendigen Markt gehen und Leute provizieren könnten. Das taten sie und vorhersehbar wehrten sich die Händler, als ihnen ihre Auslagen umgeschmissen wurden. Daraufhin sterilisierte die israelische Armee auch diese Straße, um die Siedler auf ihrem neuen Weg zu schützen.

Geschlossene palästinensische Läden neben dem Siedlungsblock Avraham Avinu. Sie sehen leer aus, sind es aber nicht. Die Siedler haben von innen die Wände durchbrochen die Räume illegal besetzt.
Aktuell versuchen die Siedler diesen Weg unterhalb ihrer Siedlung Tel Rumeida zu ihrer privaten Einfahrt zu machen. Als wir hier ankamen war es noch ein als solches ausgezeichneter Weg, und sogar Teil eines offiziellen Wanderwegs.

Walking-Tour mit Youth Against Settlements

am 2. januar zeigen issa amro und seine Kollegen von youth against settlements einer gruppe von ‚assopace palestina‘ aus italien die situation in der shuhada street, in der geisterstadt und in der altstadt.

Wir treffen die Italiener bei Checkpoint 56.

issa erzählt, wie die shuhada street vor 1994 ausgesehen hat, mit offenen geschäften und voller leben. es sei so ein gewimmel auf der straße gewesen, daß sein vater ihn als kind zur schule gebracht habe, damit er im markt-gewirr nicht verloren ging.

später hat er erlebt, wie die läden „aus sicherheitsgründen“ geschlossen und ihre türen zugeschweißt wurden, wie die siedler alle arabischen straßenschilder entfernten und dafür eigene schilder aufstellten.

Am Checkpoint 55 ist für Issa und seine Kollegen Schluss.

sie dürfen nicht hindurch, auch nicht als veranstalter dieser walking-tour. sie sind palästinenser und für sie ist die weitere straße verboten – aus sicherheitsgründen. sie werden einen weiteren umweg gehen und die gruppe am ausgang des ausgestorbenen gewürzmarktes wieder in empfang nehmen müssen.

Das Haus im Hintergrund war früher die Grundschule der Gegend.

jetzt gehört die schule zur siedlung beit romano und ist eine thora-schule (jeshive). das tor nebenan trennt die siedlung vom palästinensischen teil der altstadt. jeden samstag öffnet es sich für die siedler, die mit massiver soldatenbegleitung einen spaziergang durch den markt machen, um ihre ansprüche an die gegend zu bekräftigen.

Dieses Haus darf von den Palästinensern nicht renoviert werden.

offiziell natürlich aus sicherheitsgründen (für die siedler). provisorisch wurde es mit eisenstützen stabilisiert, damit es nicht über den passanten des marktes zusammenstürzt (deren sicherheit vermutlich nicht so relevant ist).

Dieses Haus war einmal ein vornehmes Hotel. Es wurde geschlossen. – Ja, genau: Aus Sicherheitsgründen!

Der junge Mann mit Bart, rechts auf dem Bild ist Mohannad, eine Hauptperson des nächsten Abschnitts.

Vorfallbericht Checkpoint 56 (mal wieder!)

Lieber Leser: Möglicherweise nerven und langweilen unsere Vorfallberichte zu Checkpoint 56 Dich inzwischen. Nun gut, dann überblättere ihn. Aber die Menschen, die hier leben und täglich durch diesen Checkpoint müssen, können ihn nicht nicht einfach überblättern. Dies sind nur die Vorfälle, die wir in den wenigen Wochen, die wir hier sind zufällig mitbekommen. Rechne das auf ein Leben hoch. – Hier also unser Bericht:

„Am Dienstag, dem 2. Januar 2018, haben wir gesehen, wie der Palästinenser, den wir als Mohannad kennen, zusammen mit einer Reisegruppe aus Italien unbehelligt und ohne Verzögerung Checkoint 56 von der „palästinensischen Seite“ zur „israelischen Seite“ passiert hat.

Am selben Tag betrat er den selben Checkpoint um 17.07 Uhr noch einmal, um wiederum von der „palästinensischen Seite“ auf die „israelische Seite“ zu gelangen. Wir befanden uns in der Schlange vor dem Checkpoint direkt hinter ihm. Er wurde nicht durchgelassen. Wir hingegen wurden an ihm vorbei ohne weitere Fragen durchgelassen, nachdem wir unsere deutschen Reisepässe ungeöffnet hochgehalten hatten. Sobald wir auf „israelische Seite“ waren, fragten wir bei den Soldaten nach, warum Mohannad nicht durchgelassen würde. Einer der Soldaten erkläre uns, dass er nicht registriert sei. Mohannad sagte, dass er sehr wohl registriert sei. Und dass der Soldat seinen Vorgesetzten anrufen solle.

Gegen 17.20 Uhr verlangten die Soldaten, dass wir aufhören zu fotografieren und die schon gemachten Fotos von ihnen löschen und drohten uns mit der Polizei. Anschließend verdeckten sie das rückwärtige Fenster ihrer Wachstube mit zwei Schnellheftern und einer Plastitüte, um den Blick ins Innere zu blockieren.

Um 18.05 erschien die Ablösung der Soldaten. Sofort nach der Wachübergabe, also gegen 18.15 konnte Mohannad passieren, da er sowohl bekannt, als auch registriert sei.“ – Es folgen unsere Personalien und Kontaktdaten.

Mohannad spricht durch das Käfiggitter mit dem Soldaten. Dieses Bild haben wir wohl versehentlich nicht gelöscht…
Das mit zwei Schnellheftern und einer gelben Plastiktüte verdeckte rückwärtige Fenster der Wachstube.

Beobachtungsschniepsel

  • im obst- und gemüsemarkt gibt es etliche jungen mit einkaufswagen, die geld damit verdienen, kunden darin ihre einkäufe nach hause zu fahren. wir wundern uns, wo diese einkaufswagen herkommen. in den gesamten palästinensischen gebieten haben wir bisher keinen supermarkt entdeckt, der so groß wäre, daß sich wagen lohnen würden. selbst in israel wüßten wir spontan keinen solchen supermarkt. wo kommen also die einkaufswagen her?
Einkaufswagenkind im Obst- und Gemüsemarkt.
  • fast jedes haus hat einen antennenmasten auf dem dach. meist eine mehr oder weniger improvisierte konstruktion aus metall. erstaunlich viele (also etwa 5%) sind kleine kopien des eifelturms.
  • grade junge frauen sind oft an eleganz nicht zu überbieten. sie tragen diese langen, schwingenden mäntel, gürtel, handtasche, schuhe und vor allem das kopftuch farblich passend und letzteres in jeder hinsicht elegant gefaltet. die stickerei daran apart drapiert und mit farblich passender nadel fest gesteckt. wir fragten s… eine junge studentin danach, die wir öfter im candyq trafen. sie sagte, daß es diese mode noch gar so lange gäbe. noch vor sechs jahren seien hier alle grau in grau herumgelaufen. aber dann seien smartphones und das internet billig und für alle erreichbar geworden. daher gibt es jetzt auf dem bekannten filmchenkanal auch arabische versionen von ‚bibis beauty palace‘ mit bestelladressen für die neuste mode. und so entsteht ein neues modebewußtsein und immer wieder ein augenschmaus auf der straße.
  • in den schaufenstern der schlachtereien hängen meist ganze kälber. teilweise sind sie so groß, daß wir uns schon fragten, ob das nicht auch kamele sein könnten. so unwahrscheinlich wärs ja nicht. unsere vermutung stimmt. hier ist der beweis:
Kamelhals im Schaufenster.
  • der müll auf den straßen hat auch seinen vorteil. neulich rutschte mir eine grad gekaufte tube zahnpasta unbemerkt aus der tüte. bis ich es bemerkte, zurück ging und sie zwischen alten plastiktüten, orangenschalen, pappbechern und sonstigem müll fand, hatte sie auch niemand anderes entdeckt. zu hause hätte sie schon jemand genommen.
  • die hiesigen chipstüten sind genau so groß, wie bei uns. aber wenn man sie öffnet, stellt man fest, daß sie viel weniger enthalten als die unsrigen. michel stellt sich immer wieder die frage, ob nicht schon jemand daraus gegessen hat.

Ahed Tamimi

Ahed Tamimi ist ein 16 Jähriges Mädchen aus dem Dorf Nabi Saleh im Westjordanland, das Mitte Dezember im Rahmen einer nächtlichen Razzia verhaftet wurde nachdem ein Youtubevideo, das zeigt wie sie einen israelischen Soldaten schlägt und tritt, viral geworden war. Nun drohen ihr 10 Jahre Haft.

Auch in Deutschland haben die viele Zeitungen und Onlinemedien das Thema zumindest kurz aufgenommen, den Vorfall aber so behandelt, als ob es keine Vorgeschichte und keine Hintergründe gäbe. Und das ist in diesem Fall mehr als fatal. Deshalb hat uns die hebroner Gruppe YAS (Youth Against Settlements) gebeten einen Hintergrundartikel für eine deutschsprachige Onlineplattform zu schreiben, mit der sie zusammenarbeiten.

Wir haben im Jahr 2011 selbst an einer der Freitagsdemonstrationen in Nabi Saleh teilgenommen und erlebt, wie die Soldaten das Dorf stundenlang mit Tränengas einnebelten und wie sie, als nach über anderthalb Stunden Tränengaseinsatz einige Steine flogen, das Dorf einnahmen, Türen eintraten und Dächer besetzten. – (Wie gesagt, die Steine flogen erst NACH anderthalb Stunden Tränengaseinsatz!)

Hier der Link zum Spiegel-Online-Artikel und Video zu Ahed Tamimi: LINK!

Und hier unser Hintergrundartikel:

Ahed Tamimi Hintergründe:

Ja, das Internet ist kein Medium für längere Hintergrundtexte, eher für Katzenphotos mit lustiger Bildunterschrift.

Aber die Geschichte Ahed Tamimis läßt sich nicht reduzieren auf ein einminütiges Youtube-Video, das zeigt, wie ein unbewaffnetes Mädchen einen bewaffneten Soldaten schlägt und tritt, sowie ein Bild, des selben Mädchens in Handschellen im Gerichtssaal. – Unwissen um die Hintergründe und Vorgeschichte ist hier gefährlich.

Nimm Dir bitte die Zeit, diesen Text zu lesen.

Dorf, Quelle und Demonstrationen

Ahed Tamimis Dorf Nabi Saleh hat etwa 600 Einwohner und liegt 20km westlich von Ramallah sowie 10km östlich der Grünen Line im Westjordanland. Es hat einige Bekanntheit durch die wöchentlichen Demonstrationen erlangt, die die Dorfbewohner seit 2010 durchführen, gegen die Konfiszierung eines Teils ihres Landes, die Übernahme ihrer Wasserqelle durch die benachbarte israelischen Siedlung Halamish, den fortgesetzen Ausbau der Siedlung und Siedlerübergriffe, wie zum Beispiel das Anzünden von Zitrusbäumen und Bienenstöcken im Jahr 2009.

Eine Quelle ist im trockenen Westjordanland wesentlich wichtiger als im verregneten Deutschland. Während die Dorfbewohner und ihre Landwirtschaft auf dem Trockenen saßen, nutzten Siedler und israelische Soldaten die Wasserbecken der Quelle gemeinsam als Freibad und stellten Bänke, Picknicktische und Lauben auf. – Zwar erreichten die Dorfbewohner 2012 eine Anordnung zum Abriß dieser Anlagen, doch diese wurde nicht umgesetzt.

Im Zusammenhang mit den wöchentlichen Demonstrationen, wurden alleine im ersten Jahr (konkret bis Ende März 2011) 64 Dorfbewohner festgenommen und inhaftiert. (Insgesamt wurden bis heute mehr als 140 Dorfbewohner verhaftet. Dazu, wieviel mehr es sind, ist dem Autor keine zuverlässige Zahl bekannt.) Etwa 350 Dorfbewohner wurden verwundet. Um die Demonstrationen aufzulösen, setzt die israelische Armee unter anderem Tränengas, Sound-Granades (eine Art extralauter Knallkörper), Skunk-Water (eine sehr, sehr eklig stinkende, überall haftende Flüssigkeit), sogenannte Gummigeschosse (gummiummantelte Stahlmunition) und scharfe Munition ein. Einige der Palästinenser antworten mit Steinwürfen. Regelmäßig besetzt die Armee das Dorf, postiert Soldaten auf Hausdächern oder tritt Türen ein, wenn sie nachts ohne konkreten Grund oder Anlass Häuser durchsucht.

Ahed Tamimis Familie

Aheds Onkel Mustafa Tamimi war das erste Todesopfer der wöchentlichen Demonstrationen. Er wurde am 9. Dezember 2011 auf kurze Distanz von einer Tränengasgranate tödlich am Kopf getroffen. Ein zweiter Verwandter starb kaum ein Jahr später. Ruschdi Tamimi wurde am 17. November 2012 mit scharfer Munition getroffen und erlag zwei Tage später seinen Verletzungen. Beide Todesschützen wurden nicht verurteilt, da sie zum Tatzeitpunkt von Demonstranten mit Steine beworfen wurden.

Ihr Vater Bassem wurde 1967 geboren, dem Jahr in dem Israel das Westjordanland eroberte. Weder er noch seine Kinder haben je ein Leben ohne Besatzung kennengelernt, also ohne Checkpoints, Hausabriße, Festnahmen, Demütigungen und Gewalt. Er gilt als einer der Organisatoren der wöchentlichen Demonstrationen in Nabi Saleh, wurde mindestens 12 Mal verhaftet und hat einmal mehr als 3 Jahre am Stück ohne Verfahren in Administrativhaft verbracht. (Die israelische Armee kann Palästinenser im Westjordanland ohne Anklage oder Verfahren in „administrative detention“ nehmen.)

Bassem Tamimis Widerstands- und Verhaftungsgeschichte geht weit bis vor die wöchentlichen Demonstrationen oder Aheds Geburt zurück. 1993 fiel er für 8 Tage ins Koma, nachdem er beim Verhör dem sogenannten „Schütteln“ ausgesetzt war und mußte wegen eines Aneurysma operiert werden, einem zwischen Schädeldecke und Gehirn sitzenden Bluterguss, der typischerweise mit einem Schädel-Hirn-Trauma in Zusammenhang gebracht wird.

Auch Aheds Mutter wurde mehrfach festgenommen, das letzte Mal als sie wegen Ihrer Tochter bei der Militärverwaltung vorstellig wurde.

Für das Haus der Familie Tamimi gibt es eine Abrißverfügung. Das heißt, es kann jederzeit und ohne weitere Vorwarnung abgerissen werden. (Das ist im Westjordanland ein durchaus übliches Damoklesschwert.)

In diesem Umfeld von Unrecht ist Ahed Tamimi aufgewachsen. Sie kann nicht mehr zählen, wie oft sie schon Tränengas eingeatmet hat und vermutlich auch nicht, wie oft ihre Haus gestürmt und durchsucht wurde. – Bitte stell Dir kurz vor, Du oder Dein Kind sei so aufgewachsen.

Das Video und die Situation, in der es entstand

Die im Video zu sehenden Soldaten stehen auf dem Grundstück von Ahed Tamimis Familie. Kurz vorher haben ihre Kameraden Aheds Cousin mit einem gummi-ummantelten Stahlgeschoss ins Gesicht getroffen und durch die splitternden Fensterscheiben Tränengas in ihr Haus geschossen.

Nun sehen wir im Video das 16-jährige Mädchen Ahed Tamimi, wie sie versucht die Soldaten mit Schlägen und Tritten von ihrem Grundstück zu vertreiben.

Sicher, dass ist keine lupenreine Gewaltfreie Aktion im Sinne Mahatma Gandhis. Aber es ist verständlich und nachvollziehbar. Und wenn die israelische Armee das Mädchen dafür in einer nächtlichen Razzia aus seinem Bett holt und mit 10 Jahren Gefängnis bedroht, gibt es darauf nur eine moralisch richtige Reaktion:

Solidarität mit Ahed Tamimi!

Freiheit für Ahed Tamimi!

(Stell Dir bitte kurz vor, Ahed sei Dein Kind!)

Jerusaelm Political Tour

Do: 4. Jan. 2018

die „jerusalem political tour and ramallah“ mit abu-hassan von alternative tours haben wir schon vor sechs jahren mal mitgemacht, und ich freue mich sehr, ihn wiederzusehen. er hatte uns damals derart die augen zum israel-palästina-konflikt geöffnet, daß wir sie danach nicht mehr verschließen konnten und wollten. Und darum sind wir jetzt wieder hier.

es geht wie damals am jerusalem-hotel hinter dem damaskustor los, dessen terasse immernoch so gemütlich ist, wie damals.

Bina auf der Terasse des Jerusalem Hotel.

es sind diesmal drei weitere teilnehmer dabei. ein katalane mit seiner irischen ehefrau, die aus kilkenny stammt (ja, sie bekommt von uns erst mal die irische nationalhymne vorgesungen!) und ein spanier. alle drei sind neugierig, voller interesse und fragen; was sie zu spannenden tourteilnehmern macht.

abu-hassan ist mit einer deutschen aus kiel verheiratet, hat drei töchter und lebt mit seiner familie in ost-jerusalem.

er spricht nicht von siedlern oder siedlungen, sondern von kolonisation und kolonien:

wenn ich siedler und siedlungen sage,“ erklärt er, „spreche ich von etwas bleibendem. ich will aber, daß sie verschwinden. kolonien sind nicht dauerhaft und kolonisten gehen wieder.“

er erzählt von den schwierigkeiten, die ein palästinenser in jerusalem hat. und als erstes zeigt er uns den blick von der siedlung pisgat zeef auf dem hügel gegenüber: zwei arabische stadtteile und ein flüchtlingslager, insgeamt 70.000 menschen auf 2 quadratkilometern, umgeben von einer mauer mit nur einem tor.

Wir befinden uns keine 4km von den Pilgern in der Altstadt entfernt. Und doch liegen Welten zwischen uns: „Wahrlich ich sage euch: Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ [Matthaeus 25:40]

Die folgenden beiden Photos sind von der Siedlung Pisgat Zeef aus in Richtung des zusammen mit dem Shuafat-Flüchtlingslagers eingemauerten des arabischen Stadtteils Anata aufgenommen. Den Namen des anderen mit eingemauerten Stadtteils haben wir vergessen.
Blick über das Tal. Nein, das ist nicht das Flüchtlingslager, dass ist ein regulärer arabischer Stadteil. Und nein, es ist nicht das Westjordanland, sondern ein Teil Jerusalems.
Die Häuser und Balkone, deren israelisch-jüdische Bewohner diesen Blick genießen dürfen.

der spanier unserer gruppe stellt eine frage, die wir uns auch so oft schon stellten:

wie können die siedler gemütlich auf ihrer terrasse sitzen, wenn ihr ausblick auf den nächsten hügel ein flüchtlingslager ist? was geht in ihren köpfen vor? wer hat ihnen nur das gehirn gewaschen?

Abu-Hassan vermutet, dass die Bewohner dieser Häuser ihre Menschlichkeit verloren haben. Unser „Palästina Reisehandbuch“ gibt uns später noch eine weitere Anwort: „Die Einwohner dieser Siedlung [Pisgat Zeev] behaupten, dass der Wert ihrer Anwesen durch den Anblick eines neuen palästinensischen Hauses sinke und beschweren sich bei den Behörden. Eine Besichtigung des Lagers [Shuafat] wird besonders den Besuchern empfohlen, welche die Unterschiede zwischen Erster und Dritter Welt kennenlernen möchten.“ – Das Flüchtlingslager und die beiden arabische Stadtteile sind übrigens älter als die Siedlung.

Es gibt übrigens (grob vereinfacht) zwei Arten von Siedlern, die zionistischen und die ökonomischen. Hier haben wir es mit ökonomischen Siedlern zu tun. Denn der Staat Israel tut einiges, um Juden zum Umzug nach Ostjerusalem und in die Westbank zu bewegen. So kostet ein Haus in einer Siedlung in Ostjerusalem etwa ein Viertel (25%!) von dem, was es in Westjerusalem kostet. Der Kaufpreis kann darüberhinaus über 25 Jahre in zinsfreien Raten abgestottert werden, und das Haus ist für 5 Jahre von allen Steuern und Abgaben (die hier beträchtlich sind) befreit. Auch für eine gute Infrastruktur an öffentlichen Bädern, Parks und Schulen wird gesorgt.

In den arabischen Stadtteilen Ostjerusalems gibt es hingegen kein einziges öffentliches Bad und keinen einzigen Park. Auch Schulen dürfen die Palästinenser in Ostjerusalem seit 1967 so gut wie nicht bauen oder renovieren. Das ist über die Bildungsfrage hinaus auch deshalb ein Problem, weil sie zwar in der „Hauptstadt Israels“ leben, aber keine Staatsbürger Israels sind. Sie sind nur „Residenten von Jerusalem“. Und wenn ihre Kinder nicht lückenlos jedes Jahr nachweisen können, dass sie in eine Jerusalemer Schule gehen, dann verlieren diese Kinder ihren Aufenthaltsstatus sobald sie 16 Jahre alt sind und werden ins Westjordanland abgeschoben. Derzeit betreiben die ostjerusalemer Palästinenser ihre Schulen im Schichtbetrieb. Die einen Kinder gehen vormittags zur Schule, die anderen nachmittags.

Zwischenstopp an der Mauer in Beit Hanina.

Hier zerschneidet die Mauer den arabischen Stadtteil Beit Hanina. Beiderseits der Mauer ist Beit Hanina und beiderseits der Mauer ist Jerusalem. Man erkennt arabische Stadteile übrigens unter anderem an den großen Wassertanks auf den Dächern. Die jüdischen Israelis haben nur kleine Wassertanks für Warmwasser auf dem Dach. Die Palästinenser zusätzlich große Tanks. Denn bei ihnen wird immer dann, wenn das Wasser knapp wird, das Wasser abgestellt. Was jeden Sommer der Fall ist. Und zwar auch innerhalb der international anerkannten Grenzen Israels. Auch dort gibt es palästinensische Dörfer und Städte und man erkennt sie (neben den Moscheen und anderem) an den großen Wassertanks auf den Dächern.

Innerstädtischer Checkpoint in Beit Hanina, Ostjerusalem.
Kurz vor dem Checkpoint Qalandia.

Die Häuser hinter der Mauer gehören nicht, wie viele hier glauben, zu Ramallah. Es handelt sich um Kufr Aqab, einen Stadteil Jerusalems. Dieser Stadteil ist in den letzen Jahren massiv gewachsen. Weil eine Wohnung, die sowohl östlich der Mauer als auch in Jerusalem liegt, für viele Palästinenser die einzige Option ist. Palästinenser erhalten in Jerusalem fast prinzipiell keine Baugenehmigungen. Es bleibt ihnen also nur übrig, schwarz zu bauen und einen Abriß zu riskieren. Östlich der Mauer stehen die Chancen für eine Duldung deutlich besser. Außerdem sind Wohnungen in Kufr Aqab die einzige Möglichkeit für „gemischte Ehen“. Denn wenn ein arabischer Mann aus Ostjerusalem eine Frau aus dem Westjordanland heiraten will, so darf er sie nicht nach Jerusalem holen. Die Palästinenser in Kufr Aqab und anderen jerusalemer Stadtteilen östlich der Mauer zahlen volle Steuern und Abgaben, erhalten dafür aber keinerlei öffentliche Dienstleistungen wie Müllabfuhr, Straßenreinigung und ähnliches. – Derzeit droht übrigens mehreren Häusern in Kufr Aqab übrigens der Abriß, weil sie angeblich zu dicht an der Mauer stehen.

es geht weiter durch die sperranlagen von qalandia. im westjordanland machen wir einen zwischenstop an einem gemüseladen. abu-hassan kauft für die familie ein und wir haben auch gelegenheit dazu. wir fahren östlich um jerusalem herum und über einen anderen checkpoint wieder zurück, der nicht so streng kontrolliert wird. die spannende frage für abu-hassan ist hier immer, ob er für die wachhabenden soldaten jüdisch oder arabisch aussieht. er nennt das „to look shlomo or hassan“. heute sieht er „shlomo“ aus, also jüdisch, und wir können ohne kontrolle passieren. hätte er hassan ausgesehen, hätten sie uns rausgewunken und kontrolliert.

Auf dem Ölberg haben sich zionistische Siedler mitten in einem arabischen Stadtteil niedergelassen. – Methode und Auswirkungen kennen wir aus Hebron.

es geht nach sheik jarrah zu dem haus der alten dame, deren vorderhaus von siedlern aus brooklyn besetzt wurde. wir kennen sie noch von vor sechs jahren. dort höre ich, daß sie noch lebt, was mich freut, aber ihre beiden töchter sind gestorben. die dauerpräsenz zum schutz der familie vor den siedlern mußte leider aufgegeben werden, weil es für die unterstützer zu gefährlich geworden war.

In diesem Durchgang haben wir vor 6 Jahren ausgeharrt, um die arabische Familie im Hinterhaus vor den Siedlern im Vorderhaus zu beschützen.
Einer der Siedler aus dem Vorderhaus.

In Sheikh Jarrah haben Siedler aus Brooklyn behauptet, dass sie die Häuser gekauft hätten. In solchen Fällen müssen nach hiesigem Recht nicht die jüdischen Siedler beweisen, dass und von wem sie die Häuser rechtmäßig gekauft haben. Sondern die palästinensischen Bewohner müssen lückenlos bis zurück in osmanische Zeit beweisen, dass die Häuser wirklich ihnen gehören. In Sheikh Jarrah gelang ihnen das erst mit einiger Verspätung, weil das Archiv in Istanbul ihnen zuerst nur Kopien der Unterlagen aushändigte, die das israelische Gericht nicht anerkannte, und die Originale erst nachreichte. Als sie vor Gericht endlich Recht bekamen, waren viele palästinensische Häuser schon geräumt und viele Siedler schon eingezogen.

Der Standpunkt der israelischen Behörden ist jetzt folgender: Liebe Palästinenser, ihr habt zwar vor Gericht recht bekommen, aber leider zu spät! Da die Siedler nach israelischen Rechtsverständnis nicht unrechtmäßig eingezogen sind, könnt ihr, die Hauseigentümer, sie auch nicht räumen lassen.

Dass die Siedler aus dem Vorderhaus des von uns bewachten Hauses vor 6 Jahren mit ihrem Kampfhund auf palästinensische Grundschulkinder losgingen, die israelische Polizei sich anschließend auf ihre (der Siedler) Seite stellte, und ich (Michel) schnell das weite suchen mußte, weil ich versucht hatte das ganze zu photographieren, haben wir, glaube ich, schon Mal geschrieben. – Aber es ist eine so himmelschreiende Ungerechtigkeit, dass ich es nicht oft genug schreien (den Freudschen-Vertipper lasse ich jetzt stehen) kann.

ich frage abu-hassan nach seiner einschätzung der ausgebliebenen intifada und dem generalstreik, der auch nicht wirklich stattgefunden hat.

er sagt: „wir wollen unsere ruhe haben. wir haben genug. wir möchten endlich ein friedliches leben führen, ohne ständig von den siedlern angegriffen und und vom israelischen staat gedemütigt zu werden. ich möchte endlich hinfahren dürfen, wohin ich will. ich möchte nicht ständig um alles kämpfen müssen.“

ich kann ihn gut verstehen.

was ich auch gut verstehe, ist seine wut auf die europäische gemeinschaft, die auf der einen seite palästina hier und da unterstützt, aber trotz klarer verletzungen der menschenrechte und UN-konventionen israel in so großem umfang finanziert.

auf deutschland schimpft er in diesem zusammenhang sehr. und da unterbreche ich ihn, aus deutschland kommend und es diesmal wirklich besser wissend.

ich habe nämlich den eindruck, daß sich die stimmung in der bevölkerung langsam dreht. ich sehe, daß immer mehr menschen der meinung sind, daß der von unseren großeltern im 3. reich verübte holocaust kein grund dafür sein kann, dass wir heute apartheid unterstützten. auch nicht im staate israel.

ich erzähle ihm, daß ich in deutschland immer mehr menschen treffe, die israels umgang mit den palästinensern in frage stellen.

das dies nicht unbedingt nur junge menschen sind, sondern durchaus auch solche, die den 2. weltkrieg mit erlebt haben und das thema noch anders anschauen. das es viele kleine (hilfs-)aktionen gibt, die auf die apartheid in diesem staat aufmerksam machen, von denen man hier in palästina nicht unbedingt etwas mitbekommt. er solle bitte die hoffnung nicht aufgeben.

auch seine einschätzung zur hilfe durch das ausland finde ich interessant.

abu-hassan sagt: „dadurch, daß sich internationale organisationen und länder wie UNHCR, USA und EU in den flüchtlingslagern innerhalb und außerhalb israels und palästina engagieren, und z.B. schulen und krankenhäuser unterhalten, unterstützen sie die besatzung durch israel nur.“

israel kann weiter menschenrechte verletzen, menschen vertreiben und land besetzen und braucht sich nicht um die vertriebenen zu kümmern. das erledigen die oben genannten und israel ist weitgehenst aus dem schneider. sowohl finanziell als auch moralisch.

beim anschließenden beisammensein nebst einem guten taibeh in einem schönen restaurant sitzt abu-hassan bei seiner nargila, während er letzte fragen beantwortet und die diskussion unter uns teilnehmern verfolgt. dabei kaut er an seinen fingernägeln, so angespannt ist er.

ich wünsche mir, er hört es nicht nur mit den ohren sondern auch mit dem herzen, als ich ihm sage, daß seine schilderungen vor sechs jahren uns die augen geöffnet haben, wir darum nie aufhörten, uns mit der besatzung zu beschäftigen und das wir deshalb heute wieder hier sind.

 

Gleichgesinnte

Fr. 5. Jan. 2018

am freitag besuchen wir wieder unseren spannend-schönen workshop im jerusalemer house of pride and toleranz. da es vermutlich unser letzter besuch sein wird, weil wir anfang nächsten monats unsere zelte hier abbrechen müssen, werden wir mit einer kleinen ansprache und einem herzlichen dankeschön für unser einbringen sehr warm verabschiedet. anschließend sitzen wir noch mit den veranstaltern des workshops, d… und f…, bei einem tee zusammen und klönen über gott und die welt.

als wir über die situation im land, die besatzung und besonders über hebron sprechen, merken wir, daß wir in den beiden gleichgesinnte haben. f… überrascht mich sehr. sie sagt klipp und klar, daß sie es schrecklich findet, in diesem apartheidsstaat zu leben. das aus dem mund einer israelin…chapeau!

ich erinnere mich daran, daß michel und ich vor sechs jahren an einem unserer letzten tage hier die friedrich-ebert-stiftung in jerusalem besucht haben, mit einem mitarbeiter sprachen und er unsere meinung teilte, das man in israel von apartheid sprechen kann, vielleicht sogar muß.

er sagte aber auch, daß man damit nicht zu laut in deutschland sein dürfe, das käme gar nicht gut an und müsse erst lange erklärt werden.

heute treffen wir immer öfter menschen, die diese wahrheit offen aussprechen. abu-hassan kann zuversichtlich sein.

und ich hoffe, d… und f… nehmen unsere einladung, uns in deutschland zu besuchen, an. ich würde sie zu gern wieder sehen.

Diese Erfahrung haben wir vor 6 Jahren übrigens nicht nur mit der Friedrich-Ebert-Stiftung der SPD gemacht. Auch wenn das Gespräch mit denen das längste und tiefste war. Aber im Kern lief es auch bei den Mitarbeitern der Konrad-Adenauer-Stiftung der CDU und des Goethe-Instituts auf das Gleiche hinaus. Sie alle stimmten in der Analyse der Situation weitgehend überein: Die Besatzung ist ein völkerrechtliches und menschliches Unrecht, und Israel ist dabei, ein Apartheidsstaat zu werden. (Ob es schon einer sei, oder Gefahr laufe, einer zu werden, da gingen die Meinungen auseinander.) Sie alle waren ratlos, wie sie Situation ihren Entsendeorganisationen oder den Delegationen, die nur eine Woche im Land sind, begreiflich machen sollten. Die Gespräche liefen immer auf die Frage hinaus: „Wie können wir das hier denen zu Hause begreiflich machen?“

Ich weiß noch, wie bina und ich mit Mitarbeitern von der Konrad-Adenauer und dem Goethe-Institut gemeinsam im Sammeltaxi von Ramallah nach Jerusalem saßen und zusammenarbeiteten, um unsere „Heiße Ware“ ungesehen durch den Checkpoint zu bekommen. (Jeder hatte was dabei, von dem er befürchtete, dass es ihm Ärger mit den Israelis bringen könnte.) – Ungewöhnliche Umstände bringen ungewöhnliche Bündnisse hervor.

Siedlerausflug in die Kasbah

Sa. 6. Jan. 18

Jeden Samstag machen Siedler einen Spaziergang aus der von ihnen geschaffenen Geisterstadt heraus in die lebendige arabische Altstadt Hebrons.

letzte woche haben wir sie verpasst, da waren sie schon morgens unterwegs gewesen. heute streifen wir rechtzeitig in den straßen herum und warten. die bewohnerin eines der wohntürme in der kasbah erkennt uns wieder und lädt uns ein, auf ihr dach zu steigen. oben stellen wieder einmal fest, wie toll die kasbah ist. enge, verwinkelte treppenhäuser. gassen, die erst hinter schmalen torbögen anfangen, durchgänge hinter denen sich eine moschee, ein schöner innenhof oder (ja! tatsächlich!!!) ein dromedargehege befindet, auch wenn sich unsere vorstellung von artgerechter haltung von der des besitzers unterscheidet. jetzt wird uns klar, warum hebron keine stadtmauer brauchte und trotzdem uneinnehmbar war.

Dromedare mitten in der Altstadt vom Dach aus gesehen. – Wenn man es nicht weiß, klingen sie fast wie Kühe.
Über drei Stockwerke geht es auf die Gasse hinunter.
Die Nachbarn zur anderen Seite sind Siedler, gesichert durch Natodraht und Militärposten auf dem Dach in ihrem Neubau.
Wegen der Siedlernachbarn endet das Treppenhaus oben wie in einem Netz zum Schutz vor dem Müll, Unrat und Steinen, die die Siedler schmeißen.

ja, es soll jedem erlaubt sein, die kasbah zu besuchen. sie ist wirklich großartig und nicht umsonst UNESCO-weltkulturerbe. aber die siedler sind nicht einfach gäste. sie gehen dort spazieren, um ihren besitzanspruch zu demonstrieren. sie sind der grund, warum die UNESCO die kasbah zum bedrohten(!) weltkulturerbe erklärt hat. sie sind es, die ihre existenz bedrohen.

Am späten Nachmittag ist es dann soweit. Erst kommt ein Voraustrupp der Armee, sichtet die Lage, fordert den einen oder anderen Händler auf, seine Auslagen einzupacken um Platz für die Siedler zu machen, und besetzt einige Dächer. Dann kommen mit massiver Soldatenbegleitung die Siedler. – Sobald die Siedler erscheinen, verbieten die Soldaten uns das photographieren. Daher können wir manches nur von hinten zeigen.

Das Tor an der ehemaligen Osama-Grundschule, die jetzt eine Jeshive ist, wird aufgeschlossen.
Die Vorhut der Armee kommt heraus. Im Hintergrund warten schon die ersten Siedler.
Der Voraustrupp sondiert die Lage in der Kasbah. – Der Geflügelhändler rechts hat weiter geöffnet. Aber es wird erst einmal niemand kommen, um ein seinen Sonntagsbraten (oder was auch immer die hiesige Entsprechung dazu ist) zu kaufen.
Ein Teil des Voraustrupps riegelt eine Seitengasse der Kasbah ab (der schmale Durchgang links hinter dem Soldaten mit der Brille.), da ihre Kameraden von dieser Gasse aus einige Dächer besetzten.

dann erst ist der weg für die siedler frei. es wird englisch und hebräisch gesprochen. wäre die situation nicht so prekär, könnte man denken, es ist ein netter familienausflug. aber die anwesenheit der soldaten verhindern diese illusion. und die gesten der gäste, die uns und den bewohnern den stinkefinger zeigen und andere obszöne gesten in unsere richtung machen, zeugen auch von etwas anderem.

Gleich unterhalb der ehemaligen Grundschule, heute eine Siedlung, werden Erläuterungen abgegeben. Die Soldaten sichern die Siedler gegen die Passanten auf der Straße. Immer das Gewehr im Anschlag und immer ein wachsames Auge auf uns und die Bewohner. – Da etwa die Hälfte der Siedlergruppe kein Hebräisch spricht, werden die Erläuterungen auch auf Englisch übersetzt. Dem Akzent nach kommen sie aus den USA.
Diese Drei sind während der Ansprache damit beschäftigt uns und die Anwohner mit obszönen Gesten zu beleidigen. Würden die Palästinenser reagieren so würden die Soldaten vermutlich gegen sie (die Palästinenser) vorgehen.
Ein paar Händler wahren ihre Standhaftigkeit. Dieser hat nur seine Tische drinnen stehen gelassen, aber backt weiter seine Pfannkuchen, die in der Stadt außerordentlich beliebt sind.
Gut abgeschottet und gesichert geht es zu weiteren Häusern, wo auch Erklärungen abgegeben werden. Der blonde Soldat mit Brille ganz links ist der Truppführer und störte sich besonders am Photogaphieren. – Tut uns leid, eine Besatzung produziert nun einmal unschöne Bilder, wir nehmen sie nur auf.
Auf diesem Dach haben wir vorher selber gestanden und haben herunterphotographiert. Aber diese Herren sind sicherlich nicht so freundlich eingeladen wollen.

die siedler flanieren noch ein bischen und kehren dann um.

das tor wird wieder zugeschlossen und die bewohner und händler können mit ihrem alltag weiter machen. diesmal bleibt es friedlich. aber manchmal gibt es ärger.

Unter massiver Soldatenpräsenz geht es wieder zurück zum Ausgangspunkt. Man beachte ganz rechts den Siedler mit dem weißen Hut und dem privaten Maschinengewehr. Es ist ganz normal, daß Siedler mit privaten Gewehren offen durch die Gegend laufen.
Und nächsten Samstag geht das Spiel wieder von vorne los.