Ein überraschend normaler Tag

Sa. 9.12. 17

sabbat in jerusalem. die ultra-orthodoxen begehen ihn mit ihren üblichen ritualen, die übrigen bewohner ergehen sich bei schönem, wenn auch kühlem wetter, als wäre nichts passiert und sie wirken, als ginge sie die ganze aufregung um jerusalem nichts an.

Ein ganz normaler Samstag, die Cafes in West-Jerusalem sind gut gefüllt. Hier an der First Station, in bei unserem Bulliparkplatz.

im shouk sind wieder fast alle geschäfte geöffnet. nur geringfügig mehr als sonst sind geschlossen. und das kann alle möglichen gründe haben. die stimmung in den gassen ist entspannt. es wird ver- und gekauft, waren angeboten und gehandelt wie immer.

mich beruhigt das ein bischen. die hamas hat zum generalstreik aufgerufen und in der westbank und hier in der altstadt kümmert man sich wenig darum. das kann doch nur heißen, daß den menschen die butter auf dem brot (bzw. der hummus auf der pitta) wichtiger ist, als die aufrufe der hamas. in gaza sieht das bestimmt wieder anders aus.

Ich sehe das etwas anders. Ich sehe hier vor allem die Kampfesmüdigkeit, Schwäche, Rat- und Hoffnungslosigkeit der Palästinenser.

am damaskustor warten ein paar wenige jugendliche und ältere menschen darauf, daß vielleicht noch mehr kommen, aber nichts passiert. scharen von reportern langweilen sich neben den aufgestellten kameras.

den nachmittag verbringen wir im shouk bei argila und tee in der kleinen teestube am rande des arabischen viertels, in der wir vor sechs jahren schon so gern gesessen haben.

a… setzt sich auf einen kaffee zu uns. tochter chassidischer juden aus antwerpen, eltern in auschwitz getötet, lehrerin und brückenbauerin zwischen palästinensern und israelis. sie lädt uns beizeiten zu einem sabbatmahl ein. wir werden dann mehr von ihr zu erzählen wissen.

A… mit Michel.

A… ist im muslimischen Viertel wohlbekannt und wohlgelitten, alle grüßen sie und sie grüßt alle. Offensichtlich ist sie auch in den Augen der Palästinenser nicht Siedlerin sondern Friedens- und Versöhnungsaktivistin.

auf dem weg nach hause schauen wir noch bei der koptischen kapelle auf dem dach der Grabeskirche vorbei, wo grad an der station IX der via dolorosa eine gruppe chinesen betet. sie haben sich ein kreuz von der ausleihstelle am garten gethsemane mitgebracht und singen, beten und weinen, teilweise auf knien mit dem kopf am boden. ihre inbrunst hat etwas sehr anrührendes.

Oben auf dem Haus, in dem unser Cafe liegt, haben sich Siedler breit gemacht. Links der Spielplatz ihrer Kinder, die ja nicht mit den Araberkindern auf der Straße spielen dürfen, rechts der ständig besetzte Wachposten der israelischen Armee.
Jeder der Chinesen stellt sich einmal ans Kreuz, während die anderen inbrünstig einen chinesischen Choral singen.
Auf dem Dach de Grabeskirche befindet sich auch ein äthiopisches Kloster. (Im Hintergrund der Turm der evangelisch-lutherischen Kirche.
Von der koptischen Kapelle aus gelangt man über eine lange enge Treppe zu einer Zisterne mit wunderbarer Akkustik, aus der angeblich die Heilige Helena getrunken haben soll.

dieser ruhige tag gibt mir wieder gelegenheit, ein bischen vom alltag in israel und palästina zu erzählen.

warum ist die zahl der demonstranten so klein?

wir wissen es auch nicht. ist es angst? sind sie kampfesmüde?

wenn man kein realistisches ziel vor augen hat, das man erreichen wollen könnte und keine idee, was man fordern könnte (z.b. einen eigenen staat oder die vollen bürgerrechte des staates israel), dann macht sich resignation breit. dann stellt man keine konkreten forderungen mehr, sondern schmeißt, wie die jugentlichen in ramallah, bethlehem und nablus, aus frust nur noch steine und zündet autoreifen an.

Gestern kamen wir noch mit drei beieinanderstehenden Reporten ins Gespräch, einem vom ZDF, einem von RTL und wofür der Dritte arbeitet haben wir vergessen. Wir waren von ihren Kommentaren wirklich überrascht. Sie sagten, daß sowohl in Ramallah, als auch in Jerusalem und Bethlehem die Eskalation bei den Demos ganz klar von den israelischen Soldaten ausgegangen ist. Und sie wandten, als wir „Gummigeschosse“ erwähnten, sofort ein, dass diese mitnichten ‚ungefährlich‘ seien. Es handele sich um Stahlgeschosse, die nur mit Gummi ummantelt seien, und die ohne weiteres jemanden umbrächten.

Den gesamten Gesprächsverlauf hier wiederzugeben, würde den Rahmen sprengen. Aber wenn die Berichterstattung in Deutschland so wäre, wie diese Reporter privat mit uns gesprochen haben, käme israel deutlich schlechter weg und ‚apartheit‘ wäre beim Thema Israel-Palästina ein häufiges Wort in den Nachrichten.

Orts und Straßennamen

straßennamen sind zum oft nur schall und rauch. vor sechs jahren sind wir in jerusalem fast wahnsinnig geworden, weil grade alle straßen umbenannt, sprich israelisiert wurden und wir einen nicht mehr so ganz aktuellen stadtplan hatten. auf den straßenschildern stand manchmal was ganz anderes als auf der karte. mittlerweile sind sie damit fertig und die straßennamen auf schildern und im plan haben zumindest eine gewisse ähnlichkeit. steht im plan z.b. ‚iszaac rabin‘, kann auf den schildern ‚rabin av.‘ stehen. gemeint ist die selbe straße.

jaffa wird auf dem einen straßenschild jaffa geschrieben, auf einem nächsten yafo oder jaffo und jafa steht auf der landkarte.

schlimmer wird es, wenn wir leute nach dem weg gefragt haben. In tel aviv spricht jeder die gesuchte straße anders aus und wir fragen oft nach, ob wir auch die selbe meinen. im stadtplan steht es dann irgendwie so ähnlich.

richtig lustig wird es in palästina. in ramallah zum beispiel haben nur die größeren straßen einen namen. aber was auf dem schild steht, hat oft nichts damit zu tun, wie die menschen die straße nennen. und da muß man unterscheiden zwischen den leuten, die diese straße nur kennen oder denen, die dort auch wohnen. die nennen sie dann wieder ganz anders. daher ist es sinnvoll, sich große wichtige gebäude in der nähe zu merken und nach denen zu fragen. ein hotel, eine große bank, eine behörde. das klappt eigentlich immer und ist auch unter einheimischen üblich.

In dem Teil des Westjordanlandes, den die Israelis komplett kontrollieren, ist es dann auf gewisse Weise wieder einfach: Es gibt meistens keine Straßennamen, weil es die Palästinenser im israelischen Weltbild ja eigentlich nicht gibt.

Busse, Taxen, Sammeltaxen

anders ist es bei öffentlichen verkehrsmitteln. wir sind nach bil’in damit gefahren. wenn wir gefragt haben, wo wer fährt, war die antwort immer sofort richtig.

hinter dem damaskustor gibt es einen großen busbahnhof, von wo aus wir nach qalandia wollten. gleich der erste linienbus war der richtige, die fahrt sollte laut fahrer 3 schekel (nis) kosten und er würde in 10 min. losfahren. pünktlich(!) 10 minuten später waren wir für 3 nis auf der straße und zügig am checkpoint.

dort machten wir den fehler und ließen uns auf ein taxi ein, das uns direkt nach bil’in bringen sollte.

es gibt zugelassene taxis, die sind gelb und inoffizielle taxis. wir stiegen in ein letzteres, nicht ohne vorher den preis geklärt zu haben. 120 nis sollte das kosten. ich konnte auf 100 runterhandeln und fand das trotzdem zu teuer. aber gut. dann stellte sich heraus, wir waren schon angeschnallt, daß der fahrer unter bil’in etwas anderes verstanden hatte als das dorf, zu dem wir wollten und plötzlich sollte die fahrt 200 kosten, denn das sei ja gar nicht ‚um die ecke‘. wir handelten zwar noch auf 150 runter, sagten dann aber zähneknirschend zu. ein paar straßen hinter dem checkpoint hielt unser fahrer an, diskutierte mit einem offiziellen taxifahrer und hieß uns umsteigen. wir haben keine ahnung, warum. wahrscheinlich kannte er den weg nicht oder wollte eigentlich nach jerusalem zurück. die beiden teilten sich unser geld und wir wurden auf direktem weg nach bil’in gefahren. allerdings mit dem wissen, lehrgeld bezahlt zu haben.

zurück ging es mit dem sogenannten ’service‘. das sind kleinbusse und sammeltaxen. mit so einem sind wir schon vom flughafen nach haifa gefahren, die in israel sheruk heißen. sie sind überall zu finden, in israel sind sie in topzustand, in palästina in mehr oder weniger gutem zustand und oft ziemlich überfüllt.

wir wanderten einfach richtung ramallah an der straße lang und als ein service noch im dorf am horizont auftauchte, brauchten wir nur die hand auszustrecken und er hielt an. wir fragten, ob er nach ramallah fährt, erkundigten uns nach dem preis (7nis), sagten zu den anderen fahrgästen ’salam‘ und schon ging es weiter. michel vorne zwischen zwei männern, ich auf der hinteren bank neben einer mutter mit drei kindern. eine weitere mutter mit kind kam dazu, wir rückten halt alle ein bischen zusammen und die kleinsten standen während der fahrt zwischen den knien der mütter. auf der fahrt stieg zwischendrin mal einer aus oder jemand dazu und in kurzer zeit waren wir in ramallah. lustigerweise auf einem parkplatz gleich in der nähe unseres stellplatzes von neulich.

in der stadt fragten wir nach einem service nach qalandia, ein paar straßen weiter standen welche von denen einer auch gleich fuhr. nach dem preis fragen (3nis), einsteigen und los.

bezahlt wurde irgendwann während der fahrt, am besten passend, denn der fahrer hatte keine hand frei, um wechselgeld raus zu geben. er mußte telefonieren. einen beleg gab es nicht. von qalandia gings dann mit dem linienbus wieder zurück nach jerusalem.

solche fahrten sind klasse!

man erlebt menschen im alltag, kommt mit sitznachbarn ins gespräch, die es offensichtlich nicht kennen, daß touristen mit dem service fahren. ich mußte es aushalten, von den frauen ein wenig befremdlich und von den kindern baß erstaunt angestarrt zu werden. aber wir haben uns gemeinsam dem geruckel der heruntergefahrenen stoßdämpfer des autos hingegeben, wir sind alle zusammengerückt, als noch jemand einsteigen wollte und wir haben alle ‚auf wiedersehen‘ gesagt, als jemand ausstieg, uns an der endhaltestelle bei gepäck und kindern geholfen und die jungs, die vorne bei michel saßen, wollten unbedingt noch ein abschiedsfoto mit uns machen.

Neve Shalom/ Wahat al Salam

So-Mo 10.-11.12.17

unser nächster besuch gilt dem dorf neve shalom/wahat al salam. wir kennen es schon von der ersten reise. damals brauchten wir nach all den erkenntnissen von der situation im land dringend einen platz, wo eine für uns normale situation herrscht, um mal wieder luft holen zu können.

es liegt ziemlich genau in der mitte zwischen jerusalem und tel aviv und ist ein gemischt-religiöses dorf.

gegründet wurde es in den 1970ern von bruno hussar, einem dominikanermönch.

das gelände gehört dem trapistenkloster latrun, das auf dem nächsten hügel liegt und wurde an die dorfgemeinschaft verpachtet.

zwischen feldern, hügeln und wald leben derzeit 60 jüdische und arabische familien miteinander. sie sind genossenschaftlich organisiert und es leben genau so viele jüdische wie arabische Familien im dorf. so gibt es kein ungleichgewicht. 140 sollen es mal werden und derzeit wird am dorfrand gebaut.

Weihnachtssterne (wie passend) vor dem Trapistenkloster Latrun. Vor sechs Jahren hat Michel sich hier zum Deppen gemacht, als er einen Mönch fragte, wie man zum Friedensdorf kommt, und sich wunderte, warum der Mann partout nicht reden wollte. Das es Trapisten sind, haben wir damals erst später begriffen…

es gibt ein hotel, ein cafe, ein jugendhaus, ein seminar-zelt-haus, wo grade ein feldenkrais-seminar stattfindet, eine friedensschule mit kursen und veranstaltungen und das haus der stille, das aussieht wie dieser pilz, der bovist heißt.

Gemütliche Sitzecke in der Lobby des Hotels.
Wandmosaik im Hotelfoyer.

das ortsansässige schwimmbad ist auch in der umgebung außerordentlich beliebt und in der schule werden die kinder aller religionen gemeinsam unterrichtet. bis auf mathe- und religionsunterricht (mathe deshalb, weil arabisch und hebräisch unterschiedliche zahlensysteme haben). die nakbah (tag der katastrophe) der palästinenser und der unabhängigkeitstag der israelis werden gemeinsam begangen. sehr viele kinder kommen auch aus den umliegenden dörfern.

So wie das Dorf, das einzige gemischte arabisch-jüdische Dorf des ganzen Landes ist, ist die Grundschule des Ortes ist eine von nur zwei(!) gemischten jüdischen-arabischen Schulen im ganzen Land. Das ist ja das Problem mit Oasen (der zweisprachige Ortsname bedeutet „Oase des Friedens“), dass um die Oase herum eine Wüste liegt.

Religionsunterricht gibt einerseits getrennt dreifach. Die christlichen, muslimischen und jüdischen Kinder lernen alle ihre eigene Kultur und Religion. Andererseits gibt es einen gemeinsamen Religionsunterricht, damit alle Kinder auch die Religion und Kultur der anderen kennenlernen. An religiösen Feiertagen gibt es jeweils eine kleine gemeinsame Zeremonie mit allen Kindern, und anschließend haben die Kinder der jeweiligen Religion frei. (Wobei, wenn ich es richtig sehe, die jüdischen Kinder am besten abschneiden, weil sie die meisten Feiertage haben.)

Der Geschichtsunterricht wird paritätisch von einer arabischen und einer jüdischen Lehrkraft unterrichtet. So dass die Schüler beide Sichtweisen authentisch lernen (Multiperspektivität heißt das Fachwort). Besonders schwierig ist natürlich der 15. Mai 1948, der Tag, der für die jüdischen Israelis der Unabhängigkeitstag, der Tag der Gründung des Staates Israel ist, und für die Palästinenser der Nakbahtag, der Tag der Vertreibung, der ethnischen Säuberung die Zionisten. An diesem Tag gibt es eine gemeinsame Zeremonie, die die Kinder jeweils selber gestalten, und dann zwei getrennte Zeremonien. – Vor sechs Jahren hatte die Schule große Probleme. Das Bildungsministerium wollte ihr die Zulassung aberkennen, weil sie verbotenerweise die Nakbah unterrichtete. Dank des breiten internationalen Unterstützernetzwerkes des Friedensdorfes konnte dies abgewendet werden.

im hotel klönen wir ein bischen mit dem mädel von der rezepetion.

sie gehört zu der 2. generation, die in diesem dorf geboren wurde und ist sich dieser ihrer sondersituation durchaus bewußt. ihr ist klar, daß sie in neve shalom/wahat al salam in einer blase lebt, daß sie sich wie ein alien vorkommt, wenn sie das dorf verläßt, um nach jerusalem oder tel aviv zu fahren. das sie es oft anstrengend findet, anders aufgewachsen zu sein. ich frage sie, ob sie sich manchmal wünschen würde, wie eine normale israelin groß geworden zu sein, um es weniger anstrengend zu haben. NEIN, um himmelswillen, niemals!!!! ist ihre antwort.

Das Dorf hat natürlich auch viele Probleme. Es bei Weitem nicht alles Harmonie und Friede-Freude-Eierkuchen. – Zur Friedensarbeit gehören halt auch die Mühen der Ebene. Das Klein-Klein des demokratischen Prozesses und der menschlichen Unzulänglichkeiten.

Die im Dorf lebenden Palästinänser sind übrigens ausschließlich Araber mit palästinensischer Staatsbürgerschaft. Palästinenser aus Ostjerusalem, derm Westjordanland, dem Gazastreifen oder der Diaspora können „natürlich“ nicht hierhinziehen. Da sind die Abschottungspolitik, oder anders ausgedrückt Teile-und-Herrsche-Politik des Staates Israel vor.

wir schlendern durchs dorf, schauen über die landschaft und freuen uns an der entspannten stimmung.

bulli stellen wir oberhalb des hauses der stille für die nacht ab und schlafen dort mal wieder ohne verkehrslärm im hintergrund. dafür aber mit dem üblichen hundegebell.

Ein Kind auf der Schaukel dem Dorfspielplatzes.
Wir meditieren gemeinsam (nach dem Photographieren) in der Halle der Stille. Einem spiritullen Raum für alle Religionen. Der nebenbei eine tolle Aussicht auf die Küstenebene um Tel-Aviv und die ersten Hänge des judäischen Gebirges bietet.
Die Halle der Stille von außen gesehen. (Sieht doch aus wie ein Bovist, oder?)

morgens frühstücken wir unter den olivenbäumen im ‚international garden of rescuers‘, sind erstaunt über den müll, der überall herumliegt und machen erst mal sauber. ist das typisch deutsch? egal. an einen solchen ort gehört kein abfall von den letzten picknicks. auch aus dem haus der stille nehmen wir den gröbsten müll mit.

Der „International Garden of Rescuers“. Rechts auf dem Tisch unser Frühstück.
Die erklärende Plakette am Eingang des Gartens. (Zum Lesen bitte auf das Photo klicken und vergrößern.)

Der „International Garden of Rescuers“ ist ein Gegenstück, oder vielleicht besser eine Ergänzung zum „Garten der Gerechten unter den Völkern“ in der Holocaustgedenkstätte „Yad Vashem“. Im Garten der Gerechten werden ausschließlich Menschen geehrt, die Juden während des Holocausts gerettet haben. Hier werden Menschen geehrt, die während ethnischer Säuberungen Menschen einer anderen Ethnie gerettet haben.

im dorf hat das cafe geöffnet. unter sonnensegeln, die von katzen als hängmatten benutzt werden, trinken wir kaffee mit zwei frauen aus tel-aviv. sie waren schon öfter im dorf, sind links-politisch aktiv und wir haben einen guten austausch über die derzeitige politische lage.

Schnurr!
Schnurr! Schnurr!
Schurr! Schnurr! Schnurr!
Im Cafe hängt die Goldene Regel in der Version verschiedener Religionen aus. (Zum Lesen bitte auf das Photo klicken und vergrößern.)

wir wollen eigentlich schon längst auf dem weg nach tel-aviv sein. als wir aufbrechen wollen, spricht uns l… an, die unserem gespräch ein wenig gelauscht hatte, uns spannend findet und einlädt, ihren arbeitsplatz anzuschauen. sie ist schweizerisch-amerikanische jüdin und baut als volontärin das jugendhaus wieder auf. als malerin hat sie dort auch ihr atelier und eine kinder-malgruppe.

L…’s Atelier. Sie hat sich einen Schrein in Form des Felsendoms gebaut, um in Gedanken bei ihrem arabischen Freund in Jerusalem sein zu können.

abends stehen wir in tel aviv wieder auf unserem stammparkplatz am alten hafen und gehen noch auf einen ausgesprochen netten stammtisch in florentin, einem stadtteil an der grenze zum alten jaffa.

Tel Aviv & Jaffa

Di-Mi 12.-13.12.17

Holocaustgespräch am Strand

Wenn wir in Tel Aviv sind, gehen wir eigentlich täglich zu dem unserem Bullistandplatz nächstgelegenen Strand, dem FKK-Strand, der ganz offiziell Spannerstrand (Peeping Beach) heißt. Nein, nicht zum Spannen, sondern weil es hier folgende drei Dinge gratis gibt: Trinkwasser, heiße Duschen und eine ausgesprochen gute Wlan-Verbindung.

An den Tischen sitzen immer einige Rentner und spielen Backgammon, Schach oder Poker. Oder sie trinken Tee und unterhalten sich. Oder sie arbeiten sich an dem altengerechten Outdoor Fitnessstudio ab, das grob alle Geräte beinhaltet, die ein professionelles Fitnessstudio in Deutschland auch hat. Solche Fitnessgeräte stehen hier überall am Strand rum und sind umsonst. Hier machen halt eher die Rentner Workout, am Schwulenstrand diejenigen, die ihre Muskeln vom eigenen Geschlecht bewundern lassen wollen und vorm Sheraton diejenigen, die ihre Muskeln vom anderen Geschlecht bewundern lassen wollen.

Einer der Rentner hört uns Deutsch sprechen und spricht uns an. Da er kein Englisch kann, kramt er für uns sein altes, stark eingerostetes Jiddisch hervor und erzählt. Er ist Holocaustüberlebender aus Polen, war bei Kriegsende 8, ist jetzt also 80 Jahre alt. Beide Eltern und die Geschwister in Auschwitz umgekommen. Er bekommt eine kleine Ghettorente aus Deutschland bezahlt. Er ist furchtbar nett und findet nur gute Worte über Deutschland. – Ich fühle mich seltsam unwohl in meiner Haut. Ich glaube fast, ich käme im Augenblick besser damit klar, wenn er sauer auf uns wäre. – Trotz des Ungeheuerlichen, das er uns da gerade erzählt, ist die Situation irgendwie ganz normal. Halt ein alter Mann, der aus seinem harten Leben erzählt. Bina hat hier als Altenpflegeren mehr Erfahrung und findet besser die richtigen Worte der Empathie. Zum Abschied versichern wir ihm, dass Deutschland aus der Geschichte gelernt hat und wir beide und viele andere so etwas nie wieder zulassen würden.

Wir radeln den Strand ein Stück runter und machen erstmal Pause und verdauen wir das Gespräch, erst wortlos jeder für sich, dann gemeinsam.

Befreiung Jaffas (von seinen Bewohnern)

Jaffa ist eine uralte Hafenstadt und heute ein Stadtteil von Tel Aviv. Kurz vor Jaffa sehe ich in Strandnähe an einem Haus die folgende Tafel:

Etzel Haus – Im Gedenken an die Befreier von Jaffa

Mir schwillt der Hals! „Befreier“? Jaffa war eine arabische Stadt! Wovon wurde sie befreit? In Jaffa selbst steuere ich erstmal die Touristeninfo an, die ihren Ort genau vor dem Haus hat, in dem den Touristen die jahrtausendealte tolle Geschichte Jaffas erzählt wird. Ich frage sonnig unschuldig, ob sie mir zufällig sagen könnten, wann genau Jaffa ethnisch gesäubert wurde, wann die Araber, die hier wohnten, ins Meer getrieben wurden. Die uninformierten Menschen von der Touristeninformation scheinen es ganz offen und ehrlich nicht zu wissen. Sie sind anscheinend noch nie auf die Idee gekommen, dass in den ganzen schönen alten arabischen Häusern auch mal arabische Menschen gewohnt haben könnten.

Der UN-Teilungsplan von 1947 schlug die Hafenstadt Jaffa dem arabischen Staat zu, als Exklave im jüdischen Staat, weil es eine arabische Stadt war. Zu Beginn des Jahres 1947 lebten etwa 70.000 bis 80.000 Menschen in Jaffa, und die Verteidigung der Stand bestand aus 400 irregulären Freiwilligen. (Also keine ordentlichen Soldaten!)

Am 4. Januar zündete Lehi (zionistische Paramilitärs) eine LKW-Bombe vorm Rathaus der Stadt, tötete 26 Menschen und verletzte hunderte. Bis Mitte April flohen etwa 20.000 Menschen aus der Stadt.

Vom 25. bis 27. April beschoß die Irgun (auch zionistische Paramilitärs) die Stadt mit Mörsern. Dann zwangen die Briten, die ja immer noch Mandatsmacht waren, die Irgun zur Einstellung des Beschusses. Die Briten hatten Angst vor einem Massenexodus, wie in Haifa eine Woche zuvor. Sie verhinderten aber nicht, dass die Haganah (die größten zionistischen Paramilitärs) die arabischen Dörfer um Jaffa überrannten, ethnisch säuberten und die Stadt so vom Hinterland abschnitten. Am 30. April befanden sich noch 15.000 – 25.000 Menschen in Jaffa, von denen weitere 10.000-20.000 über das Meer flohen.

Als sich Jaffa am 14. Mai der Haganah ergab, lebten noch 4.000 Menschen in der Stadt. Es kam zu exzessiven Plünderungen. Um Mitternacht des selben Tages endete das Britische Mandat. Am 15. Mai wurde der Staat Israel gegründet, und (so lernen es israelische Schüler) der Unabhängigkeitskrieg begann. [Daten und Zahlen stammen aus der englischen Wikipedia und decken sich gut mit dem, was ich aus belastbareren Quellen erinnere.]

Meines Wissens leben die Nachfahren der ehemaligen Bewohner Jaffas heute größtenteils in Flüchtlingslagern im Gazastreifen.

Straßenszene in Jaffa. Vorne rechts ultraorthodoxer Jude, dahinter die israelische Flagge. Hinten links das Minarett der alten Moschee, davor (ganz am Bildrand) ein altes arabisches Basargebäude.
Die Moschee lebt noch, der Muezzin ruft noch, wie man an den Lautsprechern oben am Minarett sieht.
Könnte jetzt auch Havanna sein. – Ist aber Jaffa.

Ausstellung: „50 Jahre“ Besatzung

Die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem veranstaltet in Jaffa derzeit eine Ausstellung mit dem Titel „50 Jahre“. Gezeigt werden Portraitphotos von 50 Menschen aus dem Gazastreifen und dem Westjordanland, die 1967 geboren wurden und somit in diesem Jahr zusammen mit der Besatzung 50 Jahre alt werden.

Die großformatigen Portraits sind gut gemacht, die Menschen sind in ihrer alltäglichen Umgebung zu sehen. Neben jedem Photo stehen kurze Angaben über den Portraitierten. Zum Beispiel: „Jihad Musa. Krankenpfleger. Verheirateter Vater von Fünf, Bewohner von Deir al-Balah, Gaza-Streifen.“

Die Gesichter sind teils ernst, teils kämpferisch und manchmal erstaunlich ausgelassen-fröhlich. Doch die Augen! Hinter den Augen scheinen mir bei allen Seelen zu hervorzublicken, die Dinge gesehen und erlebt haben, die niemand sehen und erleben sollte.

und wie erschreckend alt sie manchmal aussehen!

Wirklich nah gehen mir aber die kurzen Statements, die jeder Photograpierte zu Protokoll geben konnte:

  • „Ich glaube Freiheit ist die schönste Sache in der Welt. Es heißt hingehen zu können, wo du willst, und frische Luft zu atmen.“ (Aydah Nasser, Gazastreifen.)
  • „Die Besatzung verweigert mir die grundlegendsten Dinge: Wasser, Obdach, Gesundheit. Ich will in Würde leben und ich trage dazu bei und hoffe für das Beste.“ (Omar Jundiyah, Schäfer im Westjordanland.)
  • „Wir leben in permanenter Angst, dass unser Zuhause abgerissen wird und wir vertrieben werden. Für mich bedeutet Freiheit ohne Angst zu leben.“ (Ibrahim Jahalin, aus Khan al-Ahmar, ein Dorf im Westjordanland, das beseitigt werden soll.)
  • „Ich bin 50 Jahre alt und ich war noch nie in Jaffa oder Haifa. Das einzige Meer, das ich jemals gesehen habe, ist das Tote Meer bei Jericho.“ (Ibrahim Abu Mariyah, Westbank. – Auf dem Photo lacht er irritierend schelmisch.)

Yad Vashem

Do 14.12.17

besuch in yad va-shem (was übersetzt bedeutet: „ein denkmal – ein name [shem]“), da heißt es heute stark sein. aber daran kommen und wollen wir nicht vorbei.

ich erinnere mich an unseren letzten besuch vor sechs jahren. wir haben uns die ausstellung mit dem hervorragenden audio-guide angeschaut und haben die tour irgendwann abgebrochen, weil wir es nicht zur gänze ausgehalten haben.

ich habe tatsächlich ein bischen angst vor den bildern und den geschichten. vad vashem bewahrt so viele namen wie möglich und immer wieder gibt es auf dem tour durch die einzelnen galerien vitrinen mit fotos und namen: ‚das ist der und der. auf dem foto sieht man ihn mit seiner freundin, er war das und das von beruf, links ist seine taschenuhr zu sehen. er starb dann und dann in dem und dem lager. foto und uhr sind das einzige, was von ihm noch da ist und wurden da und da gefunden.‘

auch diesmal nehmen wir den audio-guide. die gedenkstätte ist sehr gründlich. angefangen bei der frage, warum wurde jemand wie hitler gewählt, wie hat der krieg angefangen und wie ist er verlaufen. wann hat die judenverfolgung mit welchen schikanen begonnen. wie ist das eskaliert. was war die situation in den ghettos, diese einzeln beschrieben. dazu videos mit zeitzeugenberichten von überlebenden. wie sah der widerstand innerhalb der ghettos aus, die selbstorganisation, der überlebenskampf, die massenerschießungen. dann die wannseekonferenz und was passierte wo und wann danach. wie funktionierte eine gaskammer, was passierte vor dem gang dort hinein, was danach. zwischendrin immer mal wieder kästen mit beschreibungen der täter darin. aber nicht nur mit berichten, was er getan hatte, sondern auch hier: seine hobbys, vielleicht familienfotos, ein bischen privater hintergrund. erschreckend normale menschen.

dazu laufen wir über original kopfsteinpflaster aus dem warschauer ghetto, gehen an arbeitswerkzeug aus den arbeitslagern vorbei, sehen filme, die heimlich in den lagern gemacht wurden und das elend zu tage bringen.

der allgemeine ton der texte ist meist sachlich. dazu sind aber fotos oft überlebensgroß und die schilderungen der überlebenden lassen niemanden kalt. wahrscheinlich ist es dieser gegensatz, der mich so fertig macht.

wir halten knapp über 6,5 stunden durch und schaffen bis zum letzten raum. 10 einzelne galerien zu den unterschiedlichen themen in unterschiedlicher größe und länge die durch eine dreieckige röhre aus beton verbunden sind. nur anfang und ende der röhre liegen oberirdisch, ansonsten fällt nur oben an der spitze des röhrendreiecks ein wenig natürliches licht hinein. am ende liegt eine große offene terasse mit freiem blick auf jerusaelm. diesmal erleichternd für das auge.

und der hohe runde saal mit dem wasserbecken in der mitte und regalen an der wand. darin schwarze akten mit den bereits gesammelten namen und geschichten ermordeter menschen. so viele! und es ist noch so viel platz in den regalen!

aber (und jetzt weiß ich nicht, wie ich es beschreiben soll, denn das thema ist heikel) ich sehe auch die ähnlichkeit, wie die israelische armee, die regierung und die siedler heute mit den palästinensern umgehen. zumindest bis zur eröffnung der ghettos inklusive gibt es erschreckend viele äußerliche ähnlichkeiten. daß damals dann der verwaltungsmassenmord (wie ihn hannah arendt nennt) folgte, ist natürlich ein sehr entscheidender, ja der alles entscheidende unterschied zur heutigen situation in israel-palästina.

eine aussage wie, ‚kauft nicht bei juden‘, hab ich gerade im haaretz (einer liberalen jüdischen tageszeitung) vom israelischen verteidigungsminister lieberman lesen können, der anläßlich der proteste gegen trump und seine anerkennung jerusalems als hauptstadt gesagt hat, daß israelis nicht mehr bei arabern einkaufen sollen, und dies damit begründete, daß die in israel lebenden araber lernen müssen, daß sie nicht zur israelischen gesellschaft dazu gehören und unerwünscht sind.

es gibt straßen, die sind nur für israelische siedler, es gibt die siedlungen, die nur israelis betreten dürfen und im grunde ist der ganze gazastreifen ein riesiges ghetto.

Mir fällt darüber hinaus die menschliche Herabsetzung der „Anderen“ auf. Die Parallelen zwischen den Ikonographien. In der Naziikonographie der Gegensatz zwischen dem muskulösen, aufrechten Arier, der mit dem Spaten die Erde bearbeitet, und dem dunklen, unförmigen, hinterhältigen Juden mit seiner krummen Haltung. In der zionistischen Ikonographie wird eigentlich nur der Arier durch den Israeli und der Jude durch den Araber ersetzt. (Zumindest erscheint es mir im Augenblick so.)

Auch ertappe ich mich dabei, dass ich die Anklage, die in der Ausstellung mit vollem Recht(!) gegen die Staaten der Welt erhoben wird, dass sie keine oder zu wenige jüdische Flüchtlinge aus dem Dritten Reich aufgenommen haben, zynisch der Flüchtlings(abwehr)politik des Staates Israel gegenüberstelle. Und die Anklage auf die Gespräche mit Israelis beziehe, die mich gefragt haben, wie Deutschland so dumm sein kann, syrische Flüchtlinge ins Land zu lassen. Araber und Muslime seien anders und gehörten nicht nach Europa. Ich kann mich an etwa ein halbes Dutzend solcher Gespräche erinnern, in denen auch mein Verweis auf die deutsch-jüdische Geschichte und auf Daesch (also den IS) als Argumente wirkungslos blieben.

In ebenfalls einem halben Dutzend Gesprächen (zum Teil den Selben) haben säkulare Israelis zwar betont, dass sie gegen die Besatzung sind, und sie ja in einem Falls sogar als „viel schlimmer als Apartheid“ bezeichnet, fanden aber irgendwie, dass dies nicht ihre Angelegenheit sei, da sie ja in z.B. Tel Aviv lebten und nicht Hebron. – Diese Gespräche kommen mir in den Sinn, als ich an der Wand das Zitat von Kurt Tucholsky lese, welches ich hier aus dem Gedächtnis leider nicht ganz wortwörtlich wiedergeben kann: „Ein Volk ist nicht nur was es tut, sondern auch was es zuläßt, was es toleriert.“

Bald darauf vergeht mir mein Zynismus gründlich. Vor dem, was dann passierte, vor dem Elend und dem Hunger in den Ghettos, vor den Massenerschießungen, den Gaskammern und den Todesmärschen gibt es nur noch ohnmächtige Anteilnahme und Tränen.

Um es ganz, ganz(!) klar und deutlich zu sagen: Wir vergleichen nicht Nationalsozialismus mit Zionismus oder setzen gar beide auf eine Stufe. Die Besatzung ist kein Völkermord! Und erst recht kein, auch nur ansatzweise kein so perfider Verwaltungsmassenmord, wie es der Holocaust war. Was ihm unter Völkermorden (Daß es dafür überhaupt einen Plural geben kann und muß!) eine Sonderstellung einbringt (Auf daß es hier für niemals einen Plural geben möge!).

Daß Auschwitz niemals wieder sei!

ja, ich kann an der stelle die juden verstehen, die nach dem dritten reich eine heimat haben wollten. ihre frühere heimat in deutschland, polen oder anderswo gab es nicht mehr. ich wäre auch nicht dorthin zurück gekehrt. da war israel eine möglichkeit. nur leider kamen sie nicht in ein leeres land…

die außenanlagen von yad vashem schauen wir uns heute nicht mehr an. es ist schon dunkel, als wir den audio-guide zurückgeben und wir können auch nicht mehr. wie gut, daß unser stellplatz nicht weit weg ist und wir uns bald im bulli einigeln können.

fotos von diesem tag gibt es nicht. photografieren war im gebäude verboten und es wäre auch respektlos.

Und wir wären rein emotional vermutlich auch gar nicht dazu in der Lage gewesen.

Jericho

Fr 15.12.17

Heute fahren wir mit X nach Jericho. X ist eine jüdische Israelin, begreift sich als Friedensaktivistin und ist in den Jahren, die sie in Israel lebt, noch nie in die palästinensischen Gebiete gefahren. Einerseits aus Angst vor der eigenen Regierung, es ist Israelis verboten arabische Dörfer und Städte im Westjordanland zu betreten. Andererseits aber auch aus Angst vor den Palästinensern. Den jüdischen Israelis wird ja von früh bis spät eingebläut, wie gefährlich die sind.

Wir haben ihr versprochen, sie sicher hin und auch wieder zurück zu bringen. Wir kennen Jericho inzwischen gut genug, um sicher zu sein, dass wir ohne Kontrolle rein und wieder rauskommen. Wir gehen zusammen Einkaufen, teils im Flüchtlingslager, teils in der Jerichos Innenstadt und sitzen im Straßencafee bei Tee und Nargila (also Shisha).

Die einzige Gefahr für X ist, zu Tode Willkommen-Gegrüßt zu werden. Oder von unserem Obst- und Gemüsehändler, bei dem wir „immer“ einkaufen, überfüttert zu werden.

Der Vollständigkeit halber muß gesagt werden, daß wir beim Verlassen Jerichos auf die Entfernung Jugendliche gesehen haben, die am vorher unbesetzen israelischen Checkpoint Autoreifen angezündet und vermutlich auch Steine geschmissen haben. Wir haben das Geschehen in weitem Bogen umfahren. – Der kluge Hamburger umfährt in der Nacht zum 1. Mai die Rote Flora ja auch in einem größeren Bogen.

Beduinendorf Abu a-Nuwar

Sa 16.12.17

Wir haben über die Homepage von B’Tselem erfahren, dass das Beduinendorf Abu a-Nuwar am 13. Dezember eine Abrißverfügung für seine Schule erhalten hat. Sie müssen das Gebäude innerhalb von 72 Stunden abreißen, ansonsten, so wird gedroht, macht es die Armee und stellt Ihnen die Kosten in Rechnung. Und die Frist läuft heute ab.

Die Beduinendörfer werden vom Staat nicht anerkannt, weshalb Abu A-Nuwar nicht auf Google-Maps verzeichnet ist, aber wir wissen, dass es in der Nähe von al-‚Eizariyah ist, was Luftlinie keine fünf Kilometer östlich der jerusalemer Altstadt liegt. Und in der Theorie gibt es einen ziemlich direkten Weg mit Checkpoint von unserm Übernachtungsparkplatz aus dahin. Nur leider ist die Anweisung „der Hauptstraße folgen“ im straßennamenlosen Wildwuchs Ostjerusalems alles andere als eindeutig. Beim ersten Versuch landen wir irgendwo vor der sattsam bekannten Sperrmauer. Weit und breit kein Checkpoint. Beim zweiten Mal schaffen wir es aus der geschlossenen Bebauung raus und landen auf einer Geisterstraße:

Von rechts nach links: Westjordanland, Frontzaun (meist anders als auf dem Bild drei Rollen Natodraht übereinander), Zaun mit Kontakt und Bewegungsmeldern (insgesamt etwa 4m hoch), geharkter Fußabdruckstreifen, Militärstraße, Hinterlandzaun (meist ebenfalls drei Rollen Natodraht).

Wir sind auf die Militärstraße des Grenzzaunes (nein, es ist nicht überall eine Mauer) zum Westjordanland geraten. Dass der Zaun tatsächlich auf der Grenze zum Westjordanland verläuft, ist eher unwahrscheinlich. Wir ziehen unsere virtuellen Hawaii-Hemden über und fahren weiter. Irgendwann ist Schluß und wir werden höflich, komplett irritiert, aber sehr bestimmt zurückgeschickt.

Bei diesem Gefährt der Grenzpolizei (halb Auto, halb Panzer) war Schluß.

Also fahren wir den Umweg über die „Transitstrecke“ von Jerusalem Richtung Totes Meer, biegen bei der Siedlung Ma’ale Adumim ab, fahren statt zur Siedlung nach al-`Eizariyah und fragen uns von da aus durch. Das Dorf liegt zwischen den Siedlungen Ma’ale Adumim und Kedar, ist wie alle Beduinendörfer, die wir bisher gesehen haben, extrem arm, und keineswegs romantisch.

„Bedu“ bedeutet „Bewohner der Wüste“. Sie selbst bezeichnen sich aber als „arab“ und nennen die sesshaften Araber „fellahin“, „Bauern“.
Wohlstandsgefälle: Vorne Abu A-Nuwar, hinten Ma’ale Adumim.

Die meisten hier lebenden Beduinen gehören zum Stamm der Al-Jahalin. Die ursprünglich in der Region Arad in der Negev Wüste lebten, von wo sie Anfang der Fünfziger Jahre vertrieben wurden, also nach dem israelischen Unabhängigkeitskrieg von 1948. Sie siedelten sich sich im Westjordanland südlich von Hebron und hier zwischen Jerusalem und Jericho an. Aber auf fruchtbareren Böden. Von diesen Böden wurden sie nach 1967, als Israel das Westjordanland eroberte und besetzte, ebenfalls vertrieben. Hierhin. Auf den fruchtbareren Böden liegen heute meist Siedlungen. Die erste war Ma’ale Adumim. Und im Zuge der Ausweitung der Siedlungen kommt es sein 1997 erneut zu Vertreibungen. [Die Daten und Fakten stammen aus dem „Palästina Reisehandbuch“, das wir sehr empfehlen, und passen gut mit unserem sonstigen Wissen zu diesem Thema zusammen.]

Die Schule haben wir schnell gefunden. Sie wurde offensichtlich zum Teil von der EU finanziert, wie man an der Plakette sieht. Letzten Sommer hat die Armee das Gelände zur Militärzone erklärt und die Solaranlage, welche die Schule mit Strom versorgt, beschlagnahmt. Am 7. Oktober beschlagnahmten sie die Türen. Und jetzt gibt es eine Abrißverfügung.

Und ich beschwere mich über den Zustand deutscher Schulgebäude.

Leider spricht niemand im Dorf auch nur ansatzweise Englisch. Und der Mann, der sehr bald auf uns zukommt, geleitet uns zu seiner Hütte, um uns seinen verkrüppelten Sohn zu zeigen und mittels einer Übersetzerin am Handy darum zu bitten, diesen zur Behandlung nach Deutschland in ein deutsches Krankenhaus zu bringen. Da sitzen wir nun in seiner Wellblechhütte. Sperrmüllsofa, Sperrmüllteppich, blanke Erde. Beide ein Glas Tee in der Hand, das uns die Mutter gereicht hat, bevor sie wieder im hinteren Raum der Hütte verschwand. Wir sehen das Kind. Zwei kurze Beinsummel, linker Arm endet unterhalb des Ellenbogens, rechte Hand entstellt, irgendwas stimmt mit Knochen und Muskeln nicht, linkes Auge trüb und offensichtlich auch geistig behindert. Was immer der Vater sich vom Wunderland Deutschland erhofft. Wir können nichts tun. Das sagen wir ihm, bedanken uns für den Tee und gehen mit mulmigem Gefühl.

Der Vater führt uns zu seiner Hütte, die zweite auf der linken Seite.
Der ältere Bruder des Jungen, neben dem Eingang.

Später sagen wir uns, dass dieses vielfachbehinderte Kind in der beduinischen Großfamilie vermutlich ein glücklicheres Leben haben wird, als ein vergleichbares Kind in Deutschland. Es wird nicht in eine Einrichtung abgeschoben werden, sondern immer von seinen Angehörigen umgeben sein, dazugehören und geliebt werden. Geld ist (so makaber jetzt auch klingen mag) eben nicht alles. – Ein anderer Teil von uns denkt, dass wir zwar wirklich nichts tun konnten, aber erstaunlich gut in gewissensberuhigender Autosuggestion sind.

verdammt!!! da sitze ich nun mit meinem medizinischen halbwissen und meiner sonstigen art, anpacken zu können, zu wissen, was zu tun ist und weiß mir keinen rat. ich bin es gewöhnt, hilfebedarf zu erkennen und diesen in kurzer zeit befriedigen zu können. ambulante altenpflege halt, in der die aufträge mir die liebsten sind, bei denen es heißt: ‚geh mal hin, schau dir die lage an und mach vorschläge, was wir machen können.‘

der junge bewegt sich recht behende auf beinstummeln und ellenbogen auf der erde vorwärts. der ellenbogen ist dick verbunden, so daß er als stütze benutzt werden kann und wird. der verband ist auch relativ frisch, denn die binden sind zwar schmutzig, aber heil. er lacht und freut sich, als der vater ihn in eine kleine selbstgemachte hängematte setzt und schaukelt.

das problem ist, wie ich vermute, daß dieses kind niemals wird arbeiten können, keine ziegen hüten oder botengänge mit einem der esel machen. und es wird immer ein zusätzlicher esser am mageren tisch sein.

wir vermuten stark, daß eine erbkrankheit dahinter steht. vor allem, da der bruder eine ähnlich verkrüppelte hand hat. und das ist mit der besten medizinischen versorgung der welt nicht zu behandeln. aber das können wir dem vater mangels sprachkenntnissen nicht klar machen.

und wie können wir unser gewissen beruhigen? wir haben keine idee davon, wie medizinische versorgung hier funktioniert. al ‚elzariyah hat bestimmt ein krankenhaus und ist nicht weit weg. Aber woher haben die menschen hier dann das geld für die behandlung? zumal sie auf ihren mageren böden nichts anbauen können, was sie dann verkaufen könnten und auch wasser, das aus tanks kommt, welche auf lastwagen vorbeikommen, teuer bezahlen müssen.

das weggehen fällt schwer und ich bin doch erleichtert. weil ich mich schäme, aus einem so wohlsituierten land zu kommen und einen hoffnungslosen vater zurücklassen muß. der mit leckerem tee gefüllte bauch macht es nicht besser.

Eine Beduinin. – Was für ein romantischer Anblick.

Ankunft in Hebron

So 17.12.17

Morgens fahren wir nach Hebron. Kurz vor der Stadt biegen wir von der Siedlerstraße ab, um über den unter palästinensischer Autonomie stehenden Teil Hebrons in die Stadt reinzufahren. Am Stadtrand hat die israelische Armee einen provisorischen Checkpoint eingerichtet. Jedes Auto wird kontrolliert, mit Paßkontrolle und Blick in den Kofferraum. Kurz bevor wir dran sind, wird ein vielleicht fünfundzwanzigjähriger Palästinenser aus seinem Auto geholt und hinter das neben der Straße stehende gepanzerte Fahrzeug geführt. So ist er aus dem allgemeinen Blickfeld. Nur wir können ihn sehen, weil wir halb von der Straße runter sind, um das mittig auf der Straße liegende Nagelbrett zu umfahren. Obwohl Palästinenser absolut kooperativ ist, tritt ihm der Soldat bei der Leibesvisitation völlig unnötig in die Kniekehlen und verdreht ihm beim Abtasten einmal den rechten und einmal den linken Arm im Polizeigriff auf den Rücken. Anschließend führt er ihn zurück zum Auto und er darf weiterfahren. – Wie oft muß er das wohl über sich ergehen lassen? Wieviel ohnmächtige Wut züchten die Soldaten sich da heran? – Wir werden nur gefragt, woher wir kommen. Und werden dann durchgewunken, ohne auch nur unsere Pässe vorzuzeigen.

Im Stadtzentrum von Hebron stellen wir unser Auto gleich oberhalb der Altstadt ab, nur etwa hundert Meter von den israelischen Siedlungen, die in Hebron mitten in der Stadt liegen, entfernt. Wir machen uns auf in Richtung „sterile Zone“.

Hebron ist in zwei Sektoren unterteilt: H1 umfaßt 80% des Stadtgebiets mit 150.000 Einwohnern und steht unter palästinensischer Autonomie. H2 umfaßt 20% unter israelischer Hoheit. In H2 leben rund 500 israelische Siedler, die von etwa 4.000 Soldaten bewacht werden, unter 40.000 Palästinensern. Zum Schutz der Siedler wurde um die Siedlungen und das Patriarchengrab, das den Muslimen als Ibrahim-Moschee und den Juden als Abraham-Synagoge heilig ist, herum eine „sterile Zone“ geschaffen. (Ich finde den Ausdruck „sterile Zone“ passend, weiß aber nicht, wie sie richtig heißt.)

Vermauerte Altstadtgasse, auf der anderen Seite liegt die sterile Zone.
Blick aus einer Altstadtgasse hoch zu der darüber liegenden Siedlung. Die Händler haben ein Fangnetz aus Maschendraht über die Straße gespannt, da die Siedler Müll und Steine hinabwerfen.
Der Checkpoint von der Altstadt zur sterilen Zone. Zwei hintereinander liegende Drehtüren, die Ein- und Ausgang eines Käfigs bilden und von einem Soldaten hinter Panzerglas bedient werden. Im Käfig ein Metalldetektor.
Aber auch innerhalb der „sterilen Zone“ werden wir mehrfach kontrolliert. Siedler und als solche erkennbare Juden werden nicht kontrolliert.
Die Shuhada Street. Man muß sich vergegenwärtigen, wie stark der Markt im Zentrum einer arabischen Großstadt normalerweise belebt ist, um zu begreifen, wie unheimlich diese Athmosphäre ist.
Ein Stückchen weiter die Shuhada Street rauf. Die Geschäfte unten sind seit 2000 geschlossen, aber oben drüber wohnen noch Palästinenser. Freunde aus anderen Teilen der Stadt dürfen sie nicht besuchen. Und da die Straße auf diesem Abschnitt nur von Israelis und ausländischen Touristen betreten werden darf, haben sie ihre Häuser seit Jahren nicht mehr von vorne gesehen.
Die Tafel, die auf dem letzten Bild an einem der Häuser zu sehen ist, in Großaufnahme.

Die Tafel auf dem obigen Photo offenbart eine, milde gesagt, interessante Sicht der Dinge. Mal abgesehen davon, dass ich dem Verfasser in Prozentrechnung und Straßenzählen eine „6“ geben würde, werden ganz entscheidende Ereignisse und Fakten ignoriert. Insbesondere das Massaker in der Ibrahim Mosche. Im Jahr 1994 betrat Baruch Goldstein, ein in Hebron lebender Siedler, während des Ramadans in Militäruniform die Ibrahim Moschee und eröffnete mit einem Maschienengewehr das Feuer auf die Betenden. Er töte 29 Menschen und verletzte fast 200. Bei den darauf folgenden Protesten erschoß die israelische Armee in der Nähe des Krankenhauses in Hebron 12 weiter Palästinenser. Und die Palästinenser, die das Massaker in der Moschee überlebten, wurden von der Witwe Goldsteins wegen der Tötung ihres Mannes verklagt. Das Ehrengrab Baruch Goldsteins liegt in der Hebroner Siedlung Kiryat Arba und ist heute ein Pilgerort für nationalreligiöse Siedler. Wenn ich es richtig erinnere, wurde die sterile Zone zu einem Gutteil aus Angst vor Vergeltungsaktionen für dieses Massaker geschaffen. Und die Shuada Street und ihre Nebenstraßen waren vorher auch ein „large, thriving commercial and shopping center“.

„Spaß mit Flaggen“: Eine der Nebenstraßen der Shuhada Street.

Bei einem Kontrollposten auf der Shuhada Street geht links eine Treppe hoch. Oben sehen wir einen offiziellen Beobachter von EAPPI stehen, den wir an seiner Dienstweste erkennen. EAPPI ist eine internationale kirchlich-ökumenische Organisation, die im Westjordanland an Checkpoints, auf Demonstrationen und so weiter beobachtet und dokumentiert. In Deutschland wird sie unter anderem von Pax Christi getragen. Wir gehen (nach Ausweiskontrolle) hoch und unterstützen ihn. Es braucht für die offizielle Meldung eines Zwischenfalles an die Uno immer zwei Zeugen.

Checkpoint und Treppe von oben gesehen. Den Straßenabschnitt links des Checkpoints dürfen berechtigte Palästinenser betreten, der Abschnitt rechts des Checkpoints ist für Palästinenser komplett verboten. Berechtigt sind unseres Wissens die Bewohner dieses Teils der sterilen Zone, die Grundschulkinder, deren Schulweg hier entlang führt und ihre Lehrerinnen.
Die Tür am oberen Ende der Treppe ist mit einem Seil mit einem beweglichen Absperrgitter am Armeeposten verbunden. Durch ziehen an dem Absperrgitter, wird das Seil auf Spannung gebracht, so dass die Tür nicht geöffnet werden kann.
Für kurze Zeit hält ein Kleintransporter mit Boxen auf dem Dach und lauter Musik am Checkpoint und die Soldaten tanzen ausgelassen mit den Siedlern.
Als palästinensische Schulkinder den Checkpoint passieren und die Treppe hinaufgehen, machen sich Siedlerkinder einen Spaß daraus, ihnen durch Ziehen am Absperrgitter die Tür vor der Nase zuzuschlagen und sie warten zu lassen.
Der Vater einiger der Kinder bestärkt sie in ihrem Tun. Und die Soldaten lassen sie gewähren.

M…, der EAPPI Beobachter, erzählt uns, dass dies häufig vorkommt. Und wenn es nur die Aktion der Siedlerkinder und die Tatenlosigkeit der Soldaten wäre, wäre es offiziell kein Vorfall. In diesem Fall wird es aber durch das bestärkende Eingreifen des Vaters, also eines erwachsenen Siedlers, zu einem Vorfall. Er schreibt einen kurzen Vorfallbericht, den wir bezeugen und der mit M…’s Dokumentationsphotos an die UN geschickt wird. Dort wird er zusammen mit den vielen anderen Berichten vermutlich wenig bewirken.

Da es nach dem Vorfall nicht ratsam für uns drei ist, mit unseren Kameras durch diesen Checkpoint zurückzugehen, gehen wir zusammen mit M… einen Umweg, und er zeigt und erklärt nebenbei das eine oder andere.

dieser umweg ist ein unebener weg, teilweise mit stufen versehen, aber eigentlich nur ein pfad zwischen den häusern hindurch und über alte gartenterrassen hinweg. steil und voller steine. eine metallstiege ist an einer mauer angebracht, über die wir auf die nächste terrasse hoch müssen.

dies ist der schul- und kindergartenweg der kinder. sie müssen diesen schleich- und umweg machen, weil sie als palästinenser nicht auf der straße gehen dürfen. die ist nur für sie siedler.

Bina und M… mit seiner EAPPI-Weste vor bis zu 2.000 Jahre alten Olivenbäumen. Bäume und Land gehören Palästinensern. Aber sie müssen dulden, dass die Siedler ihren Weg abkürzen, indem sie durch den Olivenhain und über den alten muslimischen Friedhof gehen.
Pause auf der Terrasse von „Youth against Settlement“, einer zwischen Siedlerhäusern gelegenen Oase. Über der linken Schulter, die Abraham-Synagoge/Ibrahim-Mosche, die sich über dem Patriarchengrab erhebt.
Unten auf der Shuhada Street, an der Ecke des umstrittenen Patriarchengrabes. Blick aus einem der sehr wenigen Läden, die hier öffnen dürfen. Da aber die wenigen Palästinenser, die die sterile Zone betreten dürfen, nur die Straße geradeaus zu und den Straßenabschnitt links des Checkpoints betreten dürfen, und Siedler prinzipiell nicht bei Palästinensern kaufen, hat er nur Touristen als Kundschaft.
Am Checkpoint müssen einige junge männliche Palästinenser ihre Taschen leeren, und T-Shirt und Hosenbeine hochheben, um zu zeigen, dass sie nichts schmuggeln. Fünfzig Meter weiter oben, also in Sichtweite, sind sie durch den gleichen Checkpoint mit Metalldetektor gegangen, durch den wir die sterile Zone auch betreten haben. – Man beachte die Pose des kontrollierenden Soldatens.
Außerhalb der sterilen Zone, stoßen wir in der Altstadt auf diese Patroille. – Nein, die Soldaten werden dem Mädchen nicht Platz machen.
Dann in der A-Zone, dem palästinensisch kontrollierten Teil Hebrons, endlich das pralle Leben einer arabischen Innenstadt.

Wir schlendern bummelnd einen großen Bogen durch die belebten Einkaufsstraßen, bis wir wieder auf die sterile Zone treffen. Von dem was wir dort erlebt haben, haben wir den folgenden Vorfallbericht geschrieben, der über EAPPI an die UN gegangen ist.

„Am Sonntag, dem 18.12.2017, um 15.26 Uhr kamen wir […] von „palästinensischer Seite“ zum Checkpoint 56. An der Betonbarriere davor stand ein palästinensischer Krankenwagen und am Gitter des Checkpoints stand ein dazugehöriger Sanitäter. Er erkärte uns auf Nachfrage, dass eine palästinensische Person innerhalb der „israelischen Zone“ kollabiert sei. Wir warteten mit ihm zusammen zehn Minuten, von 15.26 Uhr bis 15.36 Uhr. Dann bekam er die Erlaubnis, seine rollbare Trage aus dem Krankenwagen zu holen um den Patienten abzuholen. Als er den Patienten, eine ältere palästinensische Frau, erreichte, hatten andere Personen sie bis auf etwa 20 Meter an den Checkpoint heran getragen oder geführt. Dort saß sie auf einem Monostuhl aus Plastik und wurde von dort aus auf die Bahre umgesetzt. So wurde sie dann durch den Checkpoint und zum Krankenwagen gefahren.“ – Es folgen unsere genauen Personalien und Kontaktdaten.

So haben wir den Sanitäter vorgefunden.
Zehn Minuten später darf er die Trage holen. Blick von der Betonbarriere, an der der Krankenwagen steht, zum Checkpoint.
Die Patientin wird durch den Checkpoint geschoben.

Die UN hat mehr Photos von uns bekommen.

Sightseeing in Hebron

Mo. 18.12.17

Morgens früh ab 7 Uhr begleiten wir den Hinweg der Schulkinder in Absprache mit EAPPI am Checkpoint 56 (wo gestern der Vorfall mit der Ambulanz war), und ab 10 Uhr ihren Rückweg am Checkpoint 55 (der mit der Treppe, wo gestern der Vorfall mit den Siedlerkindern und ihrem Vater war). Daß so früh Schulschluß ist liegt daran, dass in Palästina gerade Prüfungszeit ist, so dass die Schüler nur zum Schreiben der Prüfungen kommen und dann wieder nach Hause gehen.

Es ist alles ruhig. Keine Vorfälle. Es bleibt uns lediglich, die durch die Checkpoints gehenden Kinder zu zählen. Denn die israelische Armee hat einen neuen Checkpoint mit Käfig und Metalldetektor eingerichtet, so dass ein Teil der Grundschulkinder jetzt auf sowohl auf dem Hin- als auch auf dem Rückweg durch jeweils zwei solcher Käfig-Metalldetektor-Checkpoints muß. Inklusive im Käfig den Ausweis den hinter Panzerglas sitzenden Soldaten vorzeigen. Und die UN hat EAPPI gebeten zu zählen, wie viele Kinder davon betroffen sind.

Da es ruhig bleibt, haben wir Zeit und Muße, uns in Ruhe umzusehen, wobei uns auffällt, wie schön viele der Häuser eigentlich sind, oder mal waren.

Leerstehendes Haus. Man beachte die Fensterbögen, die Ornamente der Gitter, die Lampe…
Grundschülerinnen auf dem Nachhauseweg, vom Checkpoint 55 aus gesehen. Einige wohnen in dieser Straße oder der nächsten Seitenstraße, der Rest muß noch durch Checkpoint 56.
Zwischendrin kommen zwei Siedler aus dem Haus, bewirten die Soldaten am Checkpoint mit Cola und Erdnußflips und quatschen mit ihnen.
Handschlag. Ein trügerisches Bild…

Ein älterer Palästinenser, der mit seiner Familie die Treppe runterkommt, unterhält sich am Checkpoint mit einem der Chefs der Siedler. Zum Abschied geben sie sich die Hand. Doch das Bild trügt. Als wir den älteren Palästinenser am Abend wiedertreffen, wie er vor seinem Haus sitzt, bekommen wir die Verbitterung, die Frustration und den Druck mit, der auf ihm lastet. Bezeichnend ist seine Aussage, „Nelson Mandela kam nach 27 Jahren aus dem Gefängnis frei und hat die Apartheid überwunden. Ich lebe nach 50 Jahren immer noch unter Apartheid in diesem Käfig, der immer enger wird.“ Der Mann ist der Willkür der Siedler und Soldaten jeden Tag ausgesetzt. Da stellt er sich besser gut mit den Besatzern. – Ein Handschlag ist hier nicht das Gleiche, wie bei uns.

Als die Schulkinder und ihre Lehrerinnen durch sind, gibt uns eine internationale Beobachterin, die schon länger da ist und sich gut auskennt, eine Tour durch die sterile Zone, von der ich hier zwei „Sehenswürdigkeiten“ wiedergeben will.

Das zum Teil besetzte Haus.

Die obere und untere Etage dieses palästinensischen Hauses haben Siedler illegal besetzt. In der mittleren Etage wohnen noch Palästinenser. Zwar hat inzwischen ein israelisches Gericht eine Räumungsverfügung für die Siedler ausgesprochen, doch diese weigern sich auszuziehen, wenn sie kein anderes Haus als „Entschädigung“ bekommen. Die israelische Armee hat einen Checkpoint eingerichtet, und kontrolliert den Zugang zum Haus. Siedler dürfen ohne Kontrolle hinein, die dort noch wohnende Familie und Menschen mit Sondergenehmigung der Armee  (keine Ahnung, wer das ist) mit Kontrolle.

Das untere Ende der sogenannten „Apartheidroad“.
Das obere Ende der sogenannten „Apartheidroad“.

Palästinenser dürfen diese kurze Asphaltstraße nicht betreten, sondern müssen hinter dem Zaun auf dem Seitenstreifen gehen. Nach kaum 200m treffen sie dann am anderen Ende der Straße wieder mit den privilegierten Asphaltgehern zusammen. Ob das einen über Demütigung hinausgehenden Sinn hat, bleibt uns verborgen.

Die Straße wird bei den Internationalen hier allgemein „Apartheidsstraße“ genannt, egal über welche Organisation sie hier sind, kirchlich oder säkular, NGO oder UN. Aber offiziell gegenüber Delegationen, der Presse und so dürfen die kirchlichen und UN Leute das Wort verwenden.

Mal wieder ein Checkpoint. Keine Ahnung, durch wieviele Checkpoints wir heute gegangen sind.

Ein Gruß von Zuhause:

Unserem Kater Jack und Haus- und Katzensitterin S… verstehen sich offensichtlich gut. Hoffentlich will Jack überhaupt noch was von uns wissen, wenn wir wieder nach Hause kommen.

Wahnsinn Hebron

Di-Mi 19-20.12.17

Sigmar Gabriel zu Hebron:

Im März 2012 schrieb der damalige SPD-Vorsitzende und heutige Bundesaußenminister, unter dem unmittelbaren Eindruck seines Besuchs in Hebron noch im Auto auf seinem Facebook-Konto:

„Ich war gerade in Hebron. Das ist für Palästinenser ein rechtsfreier Raum. Das ist ein Apartheid-Regime, für das es keinerlei Rechtfertigung gibt.“

Als in Deutschland die vorhersehbare Welle der Empörung einsetzte, ergänzte Gabriel:

„Mir ist klar, dass dies eine sehr drastische Formulierung ist. Aber genau so erleben die Palästinenser in Hebron ihre Situation.“

Willkür an Checkpoints

Wie die Kontrollen in den Gitterkäfig-Metalldetektor-Checkpoints an den Zugängen zur sterilen Zone durchgeführt werden, scheint weitgehend den diensthabenden Soldaten überlassen zu sein. Man ist da ihrer Willkür ausgesetzt. Bei uns reichte das bisher von einfach Durchwinken bis zu ein paar Minuten warten lassen, Pässe und Visa kontollieren und harsche Worte. Bei Palästinensern geht es aber auch gerne bis länger warten lassen, Taschen ausleeren, alles ablegen, bis der scharf eingestellte Metalldetektor nicht mehr piepst, Hemd hochheben und Hose runterziehen. – Und viele müssen seit vielen Jahren mehrmals pro Tag durch solche Checkpoints.

Die Besatzung dieses Checkpoints (Nr. 29) legte Mittwoch früh großen Wert darauf, dass wir nicht photographieren und Abstand halten. Vermutlich fühlten Sie sich bei ihrer kleinen sadistischen Privatpartie gestört. Denn seitlich konnten wir in den Käfig hineinsehen, wie sie das oben beschriebene formvollendet ausführten.

Das Ganze wird natürlich mit „Sicherheit“ begründet. Das ist aber nicht nur unlogisch, weil jeder Checkpoint von jeder Schicht anders gehandhabt wird. Es ist sogar absolut schwachsinnig, weil es bekannte Wege vom lebenden palästinensischen Teil Hebrons in die sterile Zone gibt, die allen bekannt sind. Von der absolut toten Shuhada Street sind es kaum 500m über den muslimischen Friedhof. Ganz normal den Weg lang, man muß über kein Mäuerchen steigen, trifft keinen Armeeposten und nichts. Allerdings liegt der Stadteil, in den man dann kommt, auf der Rückseite der Geisterstadt und man muß einen großen Umweg fahren, um ins Stadtzendrum Hebrons zu kommen. – Jeder hier kennt den Weg über den Friedhof, auch die Soldaten, wie mir ein Ex-Soldat von Breaking the Silence bestätigte.

Eigentlich könnten die Soldaten an Checkpoint 56 auch sagen: „Wenn Sie ein Terrorist sind, bitten wir sie, sich ein Taxi zu nehmen, außen rum zu fahren und dann 500 Meter zu Fuß zu gehen. Einmal die Shuhada überqueren und Sie kommen, ohne auf Checkpoints oder Soldaten zu treffen, direkt zur Siedlung Beit Hadassa, wo die Tür eigentlich immer offen steht.“ – „Wenn Sie aber nur täglich zum Einkaufen, zur Arbeit oder zur Schule müssen ist der Umweg natürlich zu lang. Dann müssen sie leider durch diesen Checkpoint – mit allen Schikanen.“

Wertvolle oder verbotene Sachen wie Computer oder Küchenmesser werden natürlich über den Friedhof reingebracht. Sogar einen ganzen Kindergarten mit Spielplatz haben sie so nachts „reingeschmuggelt“.

Am Dienstag ist die Ibrahim Moschee für Nichtjuden geschlossen, weil der letzte Tag von Chanukkah ist. Dadurch ist der Checkpoint rechts arbeitslos. Als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme müssen alle (auch wir), die durch den links zu sehenden Checkpoint aus der Kasbah kommen, auch durch den rechten Checkpoint, der normalerweise zur Ibrahim Moschee (dem muslimischen Teil des Patriarchengrabes) führt. In beiden passiert das Geiche: Der Metalldetektor piepst unbeachtet und ein gelangweilter Soldat verlangt den Pass, sieht aber gar nicht richtig hin.
Unsere Falträder sind so klein, dass sie sogar durch die Drehtüren der Checkpoints passen.

Kleine Beobachtungen in der sterilen Zone

Krankenwagen nur für Juden (und Christen?)!

Wir hatten berichtet, wie wir mit dem palästinensischen Sanitäter 10 Minuten am Checkpoint warteten, bevor er mit der Trage seine Patientin abholen durfte. In der Mitte des abgesperrten Teils der Shuhada Street steht immer ein Krankenwagen bereit. Eine Spende aus den USA und natürlich nur für Juden. Und vermutlich auch für ausländische christliche Touristen.

Siedlungsblock innerhalb einer Kaserne.

Dies ist, so wird uns berichtet, die typische Art wie neue Siedlungen entstehen. Ein militärisches Sperrgebiet wird erklärt, die Palästinenser „evakuiert“ (nein, „vertrieben“ darf man nicht sagen), eine Kaserne gebaut, innerhalb der Kaserne entsteht eine Siedlung (an der Armee und Regierung unschuldig sind), die Kaserne wird aufgelöst und die leerstehenden Gebäude von den Siedlern übernommen. Am Ende hat man eine neue Siedlung und einen Armeeposten zu ihrem Schutz.

Chanukkah-Leuchter auf dem Dach der Ibrahim-Moschee.

Dies ist der aktuelle kleine Schritt des Versuchs die Ibrahim-Moschee zur Abraham-Synagoge umzuwandeln und die arabische Altstadt Hebrons in eine jüdische Siedlung. Jeder Schritt groß genug, um Tatsachen zu schaffen und klein genug, um keine internationale Intervention zu verursachen. Bis zum Massaker in der Mosche im Jahr 1994 war das ganze Gebäude eine Moschee, in der halt auch Juden und Christen beteten. Nachdem der Siedler Baruch Goldstein in der Moschee 29 Muslime beim Ramadangebet erschoß, wurde sie aus Angst vor Racheakten zunächst für Muslime geschlossen und stand nur Juden offen. Später wurde sie geteilt. Heute ist die Hälfte des großen Gebetsraums über den Gräbern von Abraham und Sarah eine Synagoge INNERHALB(!) der Ibrahim-Moschee. Das äußere des Gebäudes ist bisher noch eine Moschee mit Minarett und allem. Das Gebäude sieht zwar für eine Moschee recht ungewöhnlich aus, das liegt aber daran, dass es von den Kreuzrittern als Kirche erbaut wurde.

Nun steht zum ersten Mal ein Chanukkahleuchter als deutliches Zeichen auf dem Moscheedach. Wir sind gespannt, ob er nach dem Fest wieder abgebaut wird.

Steinewerfende Kinder im „gesetzlosen Gebiet“

Dienstagfrüh stehen wir in Absprache mit EAPPI an Checkpoint 209, um die Schulkinder zu begleiten. Auf der anderen Seite des Checkpoints liegt ein von den Internationalen hier als „lawless are“, also „gesetzloses Gebiet“ bezeichnetes Viertel. Es liegt im Rücken der sterilen Zone in „H2“, also dem vollständig unter israelische Kontrolle stehenden Teil Hebrons. Die palästinensische Autonomiebehörde darf hier nicht tätig werden. Und die israelische Armee und Verwaltung hat kein Interesse an diesem Gebiet, da es ja gut von der sterilen Zone abgeriegelt ist. Es gibt also keine Polizei und die „öffentlichen Dienstleistungen“ sind weit von dem entfernt, was man in Europa darunter versteht.

Hier wohnt, wer sich nichts Besseres leisten kann. Viele kaputte Familien mit nur einem Elternteil und ohne funktionierender Großfamilie. Und die Großfamilien sind in Palästina das soziale Netz.

Wir stehen auf der sterilen Seite des Checkpoints. Plötzlich schmeißen zwei etwa 8-jährige Jungen von der anderen Seite aus Steine auf das gut gesicherten Checkpoint. Wir wechseln durch die Drehtür (raus ist einfacher als rein) schnell auf die gesetzlose Seite. Da hat ein älterer Mann die Jungen schon entwaffnet. Wir postieren uns an der Betonbarriere einen wortwörtlichen Steinwurf vor dem Checkpoint entfernt. Die Kinder trauen sich nicht richtig an uns ran und sind somit außer Wurfweite ihres Ziels. Zwischendurch sammeln sich etwa 20 Jungen im Grundschulalter etwa 100m vor uns (also 150m vom Checkpoint entfernt). Da sie uns ja schlecht mit Steinen belegen können, trotten sie irgendwann ab. Wir hoffen zum Unterricht.

HIER WÄREN DIE PHOTOS!

Wir haben uns entschieden, die Bilder, die wir von dieser Situation gemacht haben, nicht hochzuladen.

Die israelische Armee darf Kinder ab 12 Jahren festnehmen und bis zu 6 Monate ohne Anklage in Administrativhaft stecken. Es ist bekannt und belegt, dass sie auch 8-jährige festnehmen. Und eine deutschsprachige Beobachterin von EAPPI hat uns erzählt, dass ein Junge in einem Therapiemalkurs von aus israelischer Haft entlassenen Kindern in Hebron gemalt hat, wie ihm im Knast von den Soldaten die Genitalien verbrannt werden. EAPPI-Schweiz mußte das gemalte Bild und die Aussage des Jungen gerade von der Hompage nehmen. Der israelische Botschafter in der Schweiz hat interveniert. Und das Therapiebild und die Aussage des Jungen sind, ohne unabhängige Zeugen kein ausreichender Beweis.

Ja, Steinewerfen ist scheiße und extrem dumm. Solchen Kindern muß man vielleicht die Löffel langziehen, vor allem aber eine Perspektive für ein Leben in Würde geben. Keinesfalls jedoch sowas.

DEMO vom Stadtzentrum zur sterilen Zone

Die Demo sammelt sich an einem „Park“ der kaum mehr als eine Verkehrsinsel mit Bänken und ein paar Bäumen ist.
Wie die drei Alten in Asterix auf Korsika.
Dann geht es die Hauptsraße runter zur etwa 1 km sterilen Zone.
Ab der Hälfte der Strecke machen die meisten Läden erstaunlich routiniert dicht.

Etwa ein halbes Dutzend bis ein Dutzend vermummte Jugendliche schmeißt Steine auf den Checkpoint. Und alles erwartet, dass jetzt die Soldaten rauskommen. Tun sie aber nicht.

Die Soldaten halten die Jugendlichen vom den Dächern oberhalb des Checkpoints aus auf Abstand.
Dieser Herr kommt nicht zum Schuß. Zum Glück bleibt es bei Schockgranaten (quasi extralauten Böllern).
Hinten geradeaus zu kann man im Zoom einen Soldaten auf dem Dach sehen. Dort geht es links zum Checkpoint rein. Die Läden im unmittelbaren Schußfeld haben geschlossen. Aber (im Wortsinne) um die Ecke herrscht ganz normales Markttreiben. Auch Taxis und Autos fahren einfach durch. Die beiden angezündeten Reifen sind zum Bedauern der Pressephotographen sofort wieder ausgegangen. Man kann sie hinten noch liegen sehen.

Der sechssprachige Ahbed

Ahbed mit ..? – Mist, ich habe ihren Namen vergessen!

Auf dem Rückweg spricht uns ein älterer Mann an, woher wir kommen. Oh, er habe vor 40 Jahren (oder so) auch Mal in Hamburg gelebt. Er drängt uns, uns in seinen kleinen Laden zu setzen. Wir denken schon: „Mist! Reingefallen! Was will er uns verkaufen?“ Aber er freut sich einfach nur, jemanden zu treffen, mit dem er Deutsch sprechen kann, damit es nicht einrostet. Er betreibt ein kleines Büro für Übersetzungen und Ämterbriefe. Und er spricht mindestens sechs Sprachen: Arabisch, Hebräisch, Englisch, Deutsch, Russisch und Französisch. Wobei er nur die ersten fünf fließend spricht. Französich lernte er gerade. Wir singen mit ihm gemeinsam „Kommt ein Vöglein geflogen“ und versprechen ihm, unsere ausgelesenen deutschen Bücher vorbeizubringen.

Schlecht erzogene Kinder erzwingen Stellplatzwechsel

bulli steht seit unserer ankunft oberhalb der kasbah in der altstadt auf einem halböffentlichen parkplatz zwischen gassen und häusern. neugierige kinder aus der nachbarschaft kommen immer mal wieder, denen klar gemacht werden muß, daß sie bulli angucken dürfen, aber nicht anfassen. die eltern machen ihnen das auch handgreiflich klar, denn dienstag morgens kommt einer der jungs, gibt artig die hand und fragt, ob wir gut geschlafen hätten, nachdem wir abends bei den eltern waren, weil wir keine ruhe fanden.

michel kauft ihnen im laden chips zur belohnung.

aber dann kommen andere kinder aus der kasbah und stören unsere ruhe. zwei versuchen, unseren außenspiegel abzubrechen und es wird mit sand auf bulli geworfen. da ist schluß. michel rennt einem kind in das gassengewirr hinterher, geht zum vater, der nur sagt, daß seien halt kinder. wir packen unsere sachen. bei aller liebe, aber wenns an bulli geht, ist feierabend.

während wir uns startklar machen, kommt ein größerer junge mit seinem heulenden kleinen bruder (dem kind, hinter dem michel hergerannt ist) am nacken zu uns damit der kleine uns um entschuldigung bittet. wahrscheinlich hat der von seinem vater so richtig ärger bekommen.

als wir abfahren schauen uns unsere nachbarn betreten hinterher. sie tun mir leid, hatten sie sich doch solche mühe gegeben, daß wir uns heimisch fühlen und dann kommen anderen und machen alles kaputt. wir wollen dort noch mal hin und ihnen sagen, daß es nicht an ihnen lag.

am stadion finden wir einen neuen stellplatz. es ist laut, nebenan werden große laster umgeladen, aber was solls. wir schlummeln schon, kommt die palästinensische polizei und will wissen, wer wir sind. hier können wir nicht bleiben, hier sei es nicht sicher, aber sie werden uns zu einem platz bringen, wo wir gut stehen können. es ist das gleiche, wie damals in antiochia. man ist einfach nur besorgt um unsere sicherheit. wir landen auf einem großen platz einer sporthalle oberhalb von hebron. direkt gegenüber vom polizeirevier.

der manager der sporthalle stellt sich gleich vor und lädt uns zu sich ein, kinder oder jugendliche kommen auch mal. und als gestern das fitnesscenter der halle geöffnet hat, fragen wir nach einer dusche und haben herrliches wames wasser ohne ende. dazu noch einen netten angestellten, der sich sofort in bulli ein wenig verliebt und verspricht, gut auf ihn aufzupassen, wenn wir in der stadt sind.

wir fahren jetzt mit bromptis und erregen noch mehr aufsehen. fahrräder sind nicht häufig in hebron und dann auch noch so komische, wie die unseren.

Sterile Zone oder Geisterstadt?

Do 21.12.

Wie wir jetzt gelernt haben, ist der Begriff „sterile Zone“ oder „sterile Straße“ ein Begriff der Israelischen Armee für Gebiete oder Straßen, die von Palästinensern absolut nicht betreten werden dürfen. Keine Ahnung, wo und wie wir diesen Begriff aufgeschnappt haben. Die Palästinenser, also zumindest die Aktivisten, sprechen von der „Geisterstadt Hebrons“.

Schulweg in der Geisterstadt:

Bitte stellt euch mal vor, ihr selbst oder eure Kinder hätten einen solchen Weg zur Grundschule:

Der Weg von über 60 Grundschulkindern (wir haben gezählt) führt zunächst durch Checkpoint 56 mit zwei Drehtüren, die Ein- und Ausgang eines Gitterkäfigs mit Metalldetektor bilden.

Zwei hinter Panzerglas sitzende Soldaten haben den Auftrag die Pässe zu kontrollieren und geben den Käfigausgang erst frei, wenn sie zufrieden sind. Hinter dem Checkpoint stehen Beobachter von EAPPI (kirchlich) und TIPH (UN), dürfen aber nicht eingreifen, wenn Soldaten oder Siedler euch bedrängen, sondern nur melden. Was sie – wie sie uns erzählen – regelmäßig tun, ohne dass es Konsequenzen hätte.

Der Weg führt dann die leere Shuhada Street runter, auf der nur Siedler, Armee und der Schulbus der Siedlerkinder fahren darf.
Hinter vielen der Türen stehen schöne Wohnungen leer, in denen früher einmal Familien gut gelebt haben.

Etwa die Hälfte der Wohnungen und Häuser in der Geisterstadt sind inzwischen verlassen. Weil die Bewohner die Checkpoints, die Demütigungen der Soldaten, die Übergriffe der Siedler und so weiter einfach nicht mehr ertragen haben.

Nach etwa 250m ist das Betreten der Shuhada Street allen Palästinensern komplett verboten. Die Kinder müssen an Checkpoint 55 mit zwei Soldaten, eine Treppe hoch. Die Gittertür wird von den Soldaten über einen Seilzug von unten freigegeben.

Hier haben wir vor ein paar Tagen photograpiert (und hier eingestellt), wie Siedlerkinder sich einen Spaß daraus machten, den palästinensischen Schülerinnen die Tür am oberen Ende der Treppe mittels des Seilzugs vor der Nase zuzuschlagen. Aber die Beobachter von EAPPI und TIPH haben uns erzählt, dass das noch harmlos war. Sie schmeißen auch Steine nach den palästinensischen Kindern oder schlagen sie. Die Soldaten haben den ausdrücklichen Befehl NUR(!) die Siedler zu schützen und nicht die Palästinenser. Sie dürfen die Siedler auch nicht anrühren, da für diese Zivilrecht gilt. Nur die Polizei dürfte sie anrühren, aber die müßte erst aus Jerusalem herkommen. Für die Palästinenser hingegen gilt Militärrecht.

Im konkreten Beispiel heißt das: Zwei Kinder bewerfen sich mit Steinen, ein Palästinenser und ein Siedler, beide 12 Jahre alt. Der Palästinenser wird sofort von der Armee festgenommen. Er steht unter Militärrecht und kommt vermutlich in Administrativhaft. Bis zu 6 Monate ohne Anklage, Telephonanruf, Anwalt oder Außenkontakt. Dem Siedlerkind passiert vermutlich nichts. Für die Armee ist er unantastbar. Falls er von unabhängiger Seite gefilmt wird und sich die Polizei aus Jerusalem tatsächlich die Mühe macht, herzukommen, so gilt für ihn israelisches Zivilrecht. Er ist noch minderjährig und sein Vater wird ermahnt. Dass der Vater ihn dann bestraft, halte ich für eher unwahrscheinlich. Eher kauft er ihm zur Belohnung ein Eis.

Die letzten etwa 200m müssten die Schulkinder einen Pfad oberhalb der ihnen verbotenen Shuhada St. benutzen. Auf der anderen Straßenseite der Siedlungsblock Beit Hadassa.
Der Spielplatz der Schule vom darüberliegenden Armeeposten aus gesehen. Die Schule ist das Gebäude links oberhalb des blauen Dachs der Rutsche.

Siedler und Soldaten

Offensichtilich ist unsere Schonzeit, in der die Siedler uns als Touristen wahrgenommen haben, vorbei. Wir werden mehrfach demonstrativ gefilmt. Und auf dem vollkommen sterilen Teil der Shuhada Street geht uns ein älterer Siedler an. Später erfahren wir, dass er einschlägig bekannt ist.

Zunächst geht er Michel an.

Er reißt mir meine rote Kefiye (das Palituch) ab. Droht mir mit der Faust. Ich sei ein Terrorist. Er würde mich umbringen. Woher ich käme. – Als ich „Aus Deutschland!“ antworte, ändert er seine Argumentation. Erst: Er würde mich umbringen. Nun: Wir (die Deutschen) wollten sie umbringen.

Die beiden Soldaten vom nächsten Checkpoint gehen dazwischen.

Wir sind später nochmal hingegangen, um den Beiden zu danken. Sie haben nämlich, wenn ich es richtig verstanden habe, mehrere Befehle missachtet. Erstens haben sie einen Propalästinenser vor einem Siedler geschützt und nicht umgekehrt. Zweitens haben sie mir den Rücken zugekehrt, ohne irgendwie gedeckt zu sein. Das ist ihnen streng verboten. Ich könnte ja sonst was tun.

Anschließend geht er auf bina los und versucht, die Kamera zu kriegen.

Hier hat sich ausgezahlt, dass wir mit den Soldaten reden. (Also mit denen, die ansprechbar sind.) Dass wir ihnen klar machen, dass wir den Menschen sehen und nicht nur das Gewehr. Daraus haben sich einige gute Gespräche entwickelt. Diese beiden Soldaten gehörten zum Glück zu denen, mit denen wir schon Mal länger geredet hatten und mit denen wir uns freundlich grüßen.

Das ändert an der perfiden Ungerechtigkeit der Gesamtsituation leider wenig. Auch wenn einzelne Soldaten sich ihre Menschlichkeit bewahren. Es bleibt für die hier lebenden Palästinenser (und für uns) ein Glücksspiel, an wen sie geraten. Andere Soldaten sind viel schärfer drauf. Dass das Regime, welches die israelische Armee hier führt, dazu da ist, die Palästinenser zu schikanieren, wird durch einige Soldaten, die sich ihre Menschlichkeit bewahren, leider nur abgemildert, aber nicht aufgehoben.

Ein Mensch in Uniform bleibt manchmal immer noch ein Mensch!

Die Bildunterschrift ist eine Abwandlung des beliebten Känguruh-Zitates: „Ein Idiot in Uniform ist immer noch ein Idiot!“

Diesem Soldaten ist es offensichtlich eine Freude, etwas Gutes für sein Gewissen und den alten Mann zu tun, indem er ihm seinen Einkauf hochträgt. (Den Rest des Weges haben wir die Tüten dann getragen.) Trotzdem bleibt die Grundsituation, dass es ohne die Siedler und die Armee einen Laden direkt um die Ecke des Hauses des alten Mannes gäbe; dass, wenn er in der Stadt einkauft, der Sohn des Geschäftsinhabers ihm den Einkauf nicht nur bis zum Checkpoint tragen dürfte; und dass er beim nächsten Einkauf, wenn er Pech hat, am Checkpoint an der Treppe auf einen Privatsadisten in Uniform trifft; und irgendwann wird er Pech haben.

Leben in- und außerhalb der Geisterstadt

Flohmarkt keine 500m von Shuhada Street entfernt im Rücken der Geisterstadt. Nach dem Zwischenfall mit dem aggressiven Siedler sind wir erst mal über den Friedhof aus der Geisterstadt raus. Auf einem der Wege ohne Soldaten oder Checkpoints. Auf der anderen Seite war Flohmarkt. Wir haben uns zweimal zum Kaffee einladen lassen und danach alle weiteren Einladungen höflich, aber bestimmt abgelehnt. „Ma biddi! Shukran!“ – „Ich möchte nicht! Danke!“. Und Michel hat sich für 10 Schekel (etwa 2,50€) eine neue Hose gekauft.

daß wir immer sehr herzlich empfangen, begrüßt und manchmal auch beschenkt werden, ist immer wieder herzerwärmend. an das so oft angestarrt werden gewöhne ich mich langsam. es wird gerufen, gewunken und gehupt. was ich besonders schön finde ist, daß niemand beleidigt ist, weil man eine einladung ablehnt. vorgestern wartete ich auf michel, der noch geld holen mußte, vor dem candy-q. eine frau wollte unbedingt ein foto mit mir machen, weil frauen ohne kopftuch aus europa und dann noch allein an der straße wartend so selten sind.

Ein älterer Mann klaubt in einem Olivenhain in der Geisterstadt Oliven auf.
Ziegengehege in der Geisterstadt.
Als wir dem sechsprachigen Ahbed ausgelesene deutsche Bücher vorbei bringen, ergibt sich eine Partie Backgammon mit einem seiner Nachbarn.

ich hoffe, ich hab mich beim backgammon nicht zu sehr blamiert. ich hab doch keine ahnung, was die arabischen regeln sind. zum glück brauchte ahbed seinen nachbarn bald am computer als berater für irgendwas.

Das Candy-Q, unser Stammcafe.

Obwohl Hebron als konservativste Stadt Palästinas gilt, gehen auch hier Frauen alleine ins Cafe. Nicht alle tragen Kopftuch. Und es fällt uns immer wieder auf, wie modebewußt und stilsicher die meisten jungen Palästinenserinnen sind. Sie sind an Eleganz oft kaum zu überbieten.