Fr. 22.12
diesmal soll eine demo nach dem freitagsgebet am stadion losgehen.
schon beim warten auf das ende des gebets vor der moschee fällt uns auf, das irgend etwas anders ist.
es gibt keine musik wie letzten dienstag, es warten mit uns keine frauen und kinder. nur ein paar jugendliche und ein vermummter knabe mit grüner hamas-fahne und junge erwachsene stehen an der straßenecke. dazu ein paar beobachter von verschiedenen ngos und und nationale presse. irgendwann tauchen auch die ersten gelben und orangenen fatah-fahnen auf.
aber dann ist das gebet zuende und wir sehen die schwarzen fahnen mit goldener schrift.
ich frage einen pressemenschen. es ist der islamische dschihad palästinas.
wir haben es später noch mal recherchiert. sie sind es tatsächlich.
Mir sagt ein einheimischer Reporter auf Nachfrage, das sei zwar „Dshihad Islami“ aber nicht DER(!) Islamische Dschihad, den ich aus den Medien aus Syrien und so kenne. Die hier seien lokal von hier und liberaler als die Hamas (Was immer das auch für eine Meßlatte für Liberalität ist!), eher so wie Fatah. – Es fühlt sich zwar trotzdem nicht richtig an. Aber erstmal sehen, was passiert. Mit wem wir es hier wirklich zu tun haben, wird mir erst klar, als ich nach der Demo im Candy-Q sitze und auf Wikipedia nachsehe. Hier der Link:
Wikipediabeitrag Islamischer Dschihad in Palästina
mir wird flau im magen. am liebsten würd ich mich umdrehen und gehen. mit dem dschihad möchte ich nichts zu tun haben. aber schaun wir mal, was passiert. vorerst werden wir nicht im zug gehen, sondern ihn nur begleiten. die parolen, die gerufen werden, können wir leider nicht verstehen. ich hätte so gern den genauen wortlaut erfahren, aber wen wir auch fragen, wir erfahren nur, daß es sich wieder um trump und jerusalem als hauptstadt von israel handelt. soviel verstehen wir mittlerweile aber auch. (‚allah u akhbar‘ (also ‚gott ist groß‘) und al’kuds‘ (der arabische name von jerusalem) hören wir oft in diesen tagen.
die demonstranten sind teils vermummt, ein kleiner junge trägt schon ein hamas-stirnband und läuft an der hand seines vaters mit. und voller eifer werden die fahnen geschwenkt.
Um es ganz klar zu sagen: Es war ein Junge mit grünem Hamas-Stirnband und Fahne. Wären es mehrere Erwachsene gewesen, wären wir sofort weg gewesen.
ein pressemensch stolpert im eifer des photographierens und verknackst sich den fuß. in mir schlägt die altenpflegerin durch und wir gehen helfen. diese demo ist ohnehin nicht das, was wir mittragen wollen.
und doch laufen wir der demo hinterher und schauen in dies freundliche gesicht. was für ein lichtblick an diesem tag.
den eheleuten von hier aus alles gute!
als wir zum checkpoint kommen, sind die älteren demonstranten schon gegangen. fahnen sind nur vereinzelt zu sehen und die läden sind ringsherum geschlossen. auch die händler an der straßenecke haben ihre stände diesmal abgedeckt. nur ein pferd steht noch vor seinem karren und dann aber aus der gefahrenzone geholt. wir stellen uns zu der presse, die sich unter den vordächern der läden außer reichweite der jugendlichen postiert haben.
in den straßen schmeißen ca. 40 jugendliche steine. mit davidschleudern versuchen sie, die soldaten auf dem dach neben dem checkpoint zu treffen. meist landen die brocken aber auf der straße und treffen höchstens die autos, die vereinzelt noch fahren. eine brennende mülltonne steht auf der straße, viel zu weit entfernt, daß die armee sie überhaupt sehen könnte und im prinzip zu nichts nutze.
die soldaten machen es gar nicht so ungeschickt. nur wenige haben auf dem dach stellung bezogen, können notfalls auf ein dach nebenan wechseln und haben die direkte umgebung des checkpoints gut im blick.
Die Situation ist absurd. Die Demo hat sich in Luft aufgelöst. Es bleiben ca. 40 Krawalljugendliche und über 40 Reporter sowie jeweils ein Dutzend internationaler Beobachter und israelische Soldaten. Da die meisten vermummten Jugendlichen versuchen, sich außerhalb der Reichweite der Gewehre zu halten, bleibt ihnen nur, von der Parallelstraße aus zu versuchen, die Soldaten über die Dächer hinweg mit Steinen zu bewerfen. Was ihnen so vorhersehbar wie gründlich mißlingt.
mit „sound granades“ (extra lauten knallgranaten) halten sie sich die demonstranten auf abstand und warten ansonsten ab.
dies katz- und mausspiel finden wir komplett unsinnig. diese knallgranaten sind einfach nur laut und machen ansonsten nichts. die soldaten halten mit wenigen leuten auf dem dach die stellung und die demonstranten rennen mit steinen dagegen an. irgendwann sind wir es leid und gehen.
wir brauchen leider eine weile, vielleicht eine zu lange weile, um für uns eine meinung zu bilden. Aber unser beschluß steht fest:
wir werden auf keiner demonstration mehr mitgehen, wenn da auch nur eine schwarze dschihadfahne auftaucht. und auch hinter einer grünen hamasfahne laufen wir nicht hinterher.
wir würden nicht auf einer demo von nazis mitgehen, selbst wenn sie für etwas auf der straße sind, das wir eigentlich gut finden. dann fangen wir hier auch nicht damit an. erdogan wettert auch gegen trump und wir halten ihn nach wie vor für einen nicht tragbaren, egomanischen despoten.
mit diesen fanatikern machen wir uns nicht gemein, in dem wir der demo beiwohnen oder auch nur an der seite beobachtend mitgehen. ihnen wollen wir keine bühne für ihre ansinnen bieten. abgesehen davon wären wir wahrscheinlich mit die ersten, die sie auf dem kieker hätten.
wir könnten unseren syrischen freunden nie mehr in die augen schauen, wenn wir beim nächsten mal nicht auf dem absatz kehrt machten, sobald wir sie sehen.
mit dem steinewerfen ist das so eine sache.
es ist zwar außerordentlich dumm und sinnlos, aber offentsichtlich gehört das hier zum normalen demonstrationsgeschehen. wenn ich mich in diesem land so umschaue, das immer voller steine liegt, wo felder nicht einfach nur umgegraben werden müssen, damit etwas wachsen kann. immer müssen erst tagelang steine gelesen werden und so wundert es mich nicht, daß das steinigen hier eine alte tradition hat. im moor bei uns im norden wäre diese tradition eher unpraktisch. dafür funktioniert das versenken im moor hier nicht so gut.
was ich an der steinewerferei nicht mag ist die tatsache, daß es den geist verklebt und verhindert, sich etwas phantasievolles oder wirkungsvolles auszudenken. es ist so schön einfach, steine liegen überall herum, auch in der stadt. man kann sich als held fühlen und sich vor seinen freunden dick tun.
die presse freut sich natürlich auch, kriegt sie doch die bilder, auf die alle gewartet haben. aber es regt niemanden zum nachdenken an, die eigenen leute nicht und die soldaten oder siedler schon gar nicht.
Dazu, wie genau wir zum Steinewerfen stehen, sind wir immer noch in der Diskussion und im Denkprozess.
In Deutschland ist die Sache klar: Es ist mit unserer Gewaltfreiheit unvereinbar, sowas in irgendeiner Weise zu unterstützen. Zumal wir in einer leidlich gut funktionierenden parlamentarischen Demokratie leben.
In Palästina ist das schwieriger: Die Palästineser können ihre Beherrscher nicht abwählen. Sie haben in israelischen Wahlen keine Stimme. Auch ist es so, dass ein Steinewerfer hier Gefahr läuft erschossen zu werden, ohne Verfahren in Administrativhaft genommen zu werden, oder dass nachts seine Tür aufgebrochen und die halbe Wohnung verwüstet wird. Alles Drei kann auch passieren, wenn er sich überhaupt nicht an Demonstrationen beteiligt! – Und spätestens bei der völlig überzogenen (Re?)-Aktion der israelischen Armee sind wir mit dem Palästinenser solidarisch. Egal, ob er vorher Steine geworfen hat, oder nicht. Jeder unbewaffnete Mensch, der gezielt erschossen wird und jeder Mensch, der ohne Verfahren im Knast sitzt, verdient unsere volle Solidarität.
Etwa anderthalb Stunden, nachdem wir die Szene vorm Checkpoint verlassen haben, schießt ein Soldat einem der Jugendlichen mit scharfer Munition ins Bein. Der internationale Beobachter, der uns das erzählt, sagt der Jugendliche hätte nicht aufgehört, die Soldaten zu provozieren und sei immer weiter an sie und den Checkpoint herangegangen.
Abends sitzen wir noch auf der Terasse von YAS (Youth Against Settlements) in der Geisterstadt. Zu YAS haben wir vertrauen, weil sie mit der KURVE Wustrow zusammenarbeiten. Einem auf Trainings in Gewaltfreiheit spezialisierten Tagungshaus, mit dem Michel zu Zeiten der Castor-Transporte nach Gorleben viel zu tun hatte.