Beduinendorf Abu a-Nuwar

Sa 16.12.17

Wir haben über die Homepage von B’Tselem erfahren, dass das Beduinendorf Abu a-Nuwar am 13. Dezember eine Abrißverfügung für seine Schule erhalten hat. Sie müssen das Gebäude innerhalb von 72 Stunden abreißen, ansonsten, so wird gedroht, macht es die Armee und stellt Ihnen die Kosten in Rechnung. Und die Frist läuft heute ab.

Die Beduinendörfer werden vom Staat nicht anerkannt, weshalb Abu A-Nuwar nicht auf Google-Maps verzeichnet ist, aber wir wissen, dass es in der Nähe von al-‚Eizariyah ist, was Luftlinie keine fünf Kilometer östlich der jerusalemer Altstadt liegt. Und in der Theorie gibt es einen ziemlich direkten Weg mit Checkpoint von unserm Übernachtungsparkplatz aus dahin. Nur leider ist die Anweisung „der Hauptstraße folgen“ im straßennamenlosen Wildwuchs Ostjerusalems alles andere als eindeutig. Beim ersten Versuch landen wir irgendwo vor der sattsam bekannten Sperrmauer. Weit und breit kein Checkpoint. Beim zweiten Mal schaffen wir es aus der geschlossenen Bebauung raus und landen auf einer Geisterstraße:

Von rechts nach links: Westjordanland, Frontzaun (meist anders als auf dem Bild drei Rollen Natodraht übereinander), Zaun mit Kontakt und Bewegungsmeldern (insgesamt etwa 4m hoch), geharkter Fußabdruckstreifen, Militärstraße, Hinterlandzaun (meist ebenfalls drei Rollen Natodraht).

Wir sind auf die Militärstraße des Grenzzaunes (nein, es ist nicht überall eine Mauer) zum Westjordanland geraten. Dass der Zaun tatsächlich auf der Grenze zum Westjordanland verläuft, ist eher unwahrscheinlich. Wir ziehen unsere virtuellen Hawaii-Hemden über und fahren weiter. Irgendwann ist Schluß und wir werden höflich, komplett irritiert, aber sehr bestimmt zurückgeschickt.

Bei diesem Gefährt der Grenzpolizei (halb Auto, halb Panzer) war Schluß.

Also fahren wir den Umweg über die „Transitstrecke“ von Jerusalem Richtung Totes Meer, biegen bei der Siedlung Ma’ale Adumim ab, fahren statt zur Siedlung nach al-`Eizariyah und fragen uns von da aus durch. Das Dorf liegt zwischen den Siedlungen Ma’ale Adumim und Kedar, ist wie alle Beduinendörfer, die wir bisher gesehen haben, extrem arm, und keineswegs romantisch.

„Bedu“ bedeutet „Bewohner der Wüste“. Sie selbst bezeichnen sich aber als „arab“ und nennen die sesshaften Araber „fellahin“, „Bauern“.
Wohlstandsgefälle: Vorne Abu A-Nuwar, hinten Ma’ale Adumim.

Die meisten hier lebenden Beduinen gehören zum Stamm der Al-Jahalin. Die ursprünglich in der Region Arad in der Negev Wüste lebten, von wo sie Anfang der Fünfziger Jahre vertrieben wurden, also nach dem israelischen Unabhängigkeitskrieg von 1948. Sie siedelten sich sich im Westjordanland südlich von Hebron und hier zwischen Jerusalem und Jericho an. Aber auf fruchtbareren Böden. Von diesen Böden wurden sie nach 1967, als Israel das Westjordanland eroberte und besetzte, ebenfalls vertrieben. Hierhin. Auf den fruchtbareren Böden liegen heute meist Siedlungen. Die erste war Ma’ale Adumim. Und im Zuge der Ausweitung der Siedlungen kommt es sein 1997 erneut zu Vertreibungen. [Die Daten und Fakten stammen aus dem „Palästina Reisehandbuch“, das wir sehr empfehlen, und passen gut mit unserem sonstigen Wissen zu diesem Thema zusammen.]

Die Schule haben wir schnell gefunden. Sie wurde offensichtlich zum Teil von der EU finanziert, wie man an der Plakette sieht. Letzten Sommer hat die Armee das Gelände zur Militärzone erklärt und die Solaranlage, welche die Schule mit Strom versorgt, beschlagnahmt. Am 7. Oktober beschlagnahmten sie die Türen. Und jetzt gibt es eine Abrißverfügung.

Und ich beschwere mich über den Zustand deutscher Schulgebäude.

Leider spricht niemand im Dorf auch nur ansatzweise Englisch. Und der Mann, der sehr bald auf uns zukommt, geleitet uns zu seiner Hütte, um uns seinen verkrüppelten Sohn zu zeigen und mittels einer Übersetzerin am Handy darum zu bitten, diesen zur Behandlung nach Deutschland in ein deutsches Krankenhaus zu bringen. Da sitzen wir nun in seiner Wellblechhütte. Sperrmüllsofa, Sperrmüllteppich, blanke Erde. Beide ein Glas Tee in der Hand, das uns die Mutter gereicht hat, bevor sie wieder im hinteren Raum der Hütte verschwand. Wir sehen das Kind. Zwei kurze Beinsummel, linker Arm endet unterhalb des Ellenbogens, rechte Hand entstellt, irgendwas stimmt mit Knochen und Muskeln nicht, linkes Auge trüb und offensichtlich auch geistig behindert. Was immer der Vater sich vom Wunderland Deutschland erhofft. Wir können nichts tun. Das sagen wir ihm, bedanken uns für den Tee und gehen mit mulmigem Gefühl.

Der Vater führt uns zu seiner Hütte, die zweite auf der linken Seite.
Der ältere Bruder des Jungen, neben dem Eingang.

Später sagen wir uns, dass dieses vielfachbehinderte Kind in der beduinischen Großfamilie vermutlich ein glücklicheres Leben haben wird, als ein vergleichbares Kind in Deutschland. Es wird nicht in eine Einrichtung abgeschoben werden, sondern immer von seinen Angehörigen umgeben sein, dazugehören und geliebt werden. Geld ist (so makaber jetzt auch klingen mag) eben nicht alles. – Ein anderer Teil von uns denkt, dass wir zwar wirklich nichts tun konnten, aber erstaunlich gut in gewissensberuhigender Autosuggestion sind.

verdammt!!! da sitze ich nun mit meinem medizinischen halbwissen und meiner sonstigen art, anpacken zu können, zu wissen, was zu tun ist und weiß mir keinen rat. ich bin es gewöhnt, hilfebedarf zu erkennen und diesen in kurzer zeit befriedigen zu können. ambulante altenpflege halt, in der die aufträge mir die liebsten sind, bei denen es heißt: ‚geh mal hin, schau dir die lage an und mach vorschläge, was wir machen können.‘

der junge bewegt sich recht behende auf beinstummeln und ellenbogen auf der erde vorwärts. der ellenbogen ist dick verbunden, so daß er als stütze benutzt werden kann und wird. der verband ist auch relativ frisch, denn die binden sind zwar schmutzig, aber heil. er lacht und freut sich, als der vater ihn in eine kleine selbstgemachte hängematte setzt und schaukelt.

das problem ist, wie ich vermute, daß dieses kind niemals wird arbeiten können, keine ziegen hüten oder botengänge mit einem der esel machen. und es wird immer ein zusätzlicher esser am mageren tisch sein.

wir vermuten stark, daß eine erbkrankheit dahinter steht. vor allem, da der bruder eine ähnlich verkrüppelte hand hat. und das ist mit der besten medizinischen versorgung der welt nicht zu behandeln. aber das können wir dem vater mangels sprachkenntnissen nicht klar machen.

und wie können wir unser gewissen beruhigen? wir haben keine idee davon, wie medizinische versorgung hier funktioniert. al ‚elzariyah hat bestimmt ein krankenhaus und ist nicht weit weg. Aber woher haben die menschen hier dann das geld für die behandlung? zumal sie auf ihren mageren böden nichts anbauen können, was sie dann verkaufen könnten und auch wasser, das aus tanks kommt, welche auf lastwagen vorbeikommen, teuer bezahlen müssen.

das weggehen fällt schwer und ich bin doch erleichtert. weil ich mich schäme, aus einem so wohlsituierten land zu kommen und einen hoffnungslosen vater zurücklassen muß. der mit leckerem tee gefüllte bauch macht es nicht besser.

Eine Beduinin. – Was für ein romantischer Anblick.