Totalüberwachung

Blue Wolf: Soldaten spielen Pokemon GO

Die Soldaten haben die App „Blue Wolf“ auf ihren Smartphones und Tablets installiert und können damit auf die in der „Wolf Pack“-Datenbank gespeicherten Informationen sofort zugreifen.

Der Soldat scannt das Gesicht eines Palästinensers und die App gibt ihm alle Informationen über diese Person.

Als Zusatzmotivation bietet die „Blue Wolf“-App außerdem eine Bestenliste. Sie gibt wöchentlich eine Punktzahl basierend auf der Anzahl der gescannten Palästinenser aus. Militäreinheiten, die wöchentlich die meisten palästinensischen Gesichter fotografieren, erhalten Belohnungen wie beispielsweise bezahlten Urlaub.

Das erklärt auch, warum einige Soldaten unbedingt darauf bestanden hatten, unsere Gesichter zu scannen, so als seien wir zwei besonders seltene und wertvolle Pokemons in Pokemon-Go. Und es erklärt auch, woher die Soldaten die Informationen hatten, um die italienische Aktivistin online stalken zu können.

Smile, You are on Camera!

Was uns auffällt, wenn wir uns in Hebrons Geisterstadt bewegen, ist nicht nur, wie menschenleer und still es ist, sondern auch, dass wir uns auf Schritt und Tritt beobachtet fühlen. Die Straßen sind voller Überwachungskameras, die an Gebäudewänden, Laternenpfählen, Überwachungstürmen und Dächern angebracht sind.

Alleine der schwer ausgerüstete Checkpoint 56, ist nach Zählung von Amnesty International mit mindestens 24 audiovisuellen Überwachungsgeräten und anderen Sensoren ausgestattet. Und die Zählung fand statt, bevor er mit dem vollautonomen KI-gesteuerten Maschinengewehr über dem Eingang ausgestattet wurde!

Wolf Pack: KI-Datenbank

Hebron-H2 wird vom israelischen Militär als „Smart City“ bezeichnet. Diese „smarte“ Überwachung basiert auf der umfangreichen Datenbank „Wolf Pack“, die alle verfügbaren Informationen über Palästinenser aus den besetzten palästinensischen Gebieten enthält, darunter ihren Wohnort, ihre Familienangehörigen und ob sie von den israelischen Behörden gesucht werden.

Auf dieser Datenbank laufen dann mehrere miteinander verwobene KI-Systeme, die in Hebron außerdem von dem oben genannten, dichten Netzwerk von Überwachungskameras (CCTV) mit Gesichtserkennungstechnologie gefüttert werden.

Die enormen Serverkapazitäten, die hierfür benötigt werden, wurden bisher von „Microsoft Azure: Cloud Computing Services“ zur Verfügung gestellt. Auf den Servern, die in den Niederlanden und zu einem kleineren Teil in Irland stehen, waren im Juli diesen Jahres 11.500 Terabyte an Daten des israelischen Militärs gespeichert – das entspricht etwa 200 Millionen Stunden Audioaufnahmen.

Unter anderem werden hier alle Anrufe aller Palästinenser etwa einen Monat lang in der Cloud vollständig gespeichert.

Quellen aus der Einheit 8200 (der IT-Einheit des Militärnachrichtendienstes) sagen dem Guardian zufolge, dass gespeicherte Informationen genutzt worden seien, Menschen zu erpressen, sie in Haft zu nehmen oder sogar ihre Tötung nachträglich zu rechtfertigen: „Wenn sie jemanden verhaften müssen und es keinen ausreichenden Grund dafür gibt, finden sie dort die Ausrede“.

Red Wolf: Checkpoints

An den Checkpoints in Hebron wird das Gesichtserkennungssystems „Red Wolf“ eingesetzt, das mit „Wolf Pack“ und „Blue Wolf“ verwoben ist.

Wenn ein Palästinenser einen Kontrollpunkt passiert, wird sein Gesicht ohne sein Wissen oder seine Zustimmung gescannt und mit biometrischen Daten verglichen. Der Soldat, der das Drehkreuz bedient, sieht dann eine Ampel – grün, gelb, rot.
Bei Rot kann der Palästinenser die Grenze nicht passieren.

Soziale Auswirkungen

Die palästinensischen Bewohner Hebrons berichteten Amnesty International, wie allgegenwärtige Überwachungskameras ihre Privatsphäre verletzen, wie Aktivismus unterdrückt und soziales Leben ausgehöhlt wird. Totalüberwachung vermittelt ihnen das Gefühl ständigen Ausgeliefertseins.

Neben der permanenten Bedrohung durch exzessive Gewalt und willkürliche Verhaftungen müssen sich Palästinenser nun auch mit dem Risiko auseinandersetzen, von einem Algorithmus verfolgt oder aufgrund von Informationen aus diskriminierenden Überwachungsdatenbanken am Betreten ihrer eigenen Viertel gehindert zu werden.

Youth Aganist Settlements gibt Workshops für die Menschen in Hebron, in denen sie über die KI-Überwachungsmethoden aufklären und über die (begrenzten) Möglichkeiten der Gegenwehr informieren.

Aus einem Gespräch mit Issa Amro wissen wir, dass Kameras zum Teil direkt auf Häuser der Aktivisten gerichtet sind, um jede Form von Versammlung, Zusammenkunft oder Familienleben zu unterbinden. Das Ziel scheint zu sein, die Palästinenser dazu zu bringen, sich so ruhig wie möglich zu verhalten, während nach und nach eine ethnische Säuberung stattfindet.

Die Menschen fangen an, verdächtige Freunde nicht mehr zu besuchen, um die KI nicht auf sich aufmerksam zu machen. Im letzten Workshop fragte eine Frau: „Können sie uns in unserem Schlafzimmer sehen?“

Auch weiß Issa zu berichten, dass gezielt nach „dunklen Geheimnissen“ wie Homosexualität, Schulden oder dergleichen gesucht wird. Dann wird versucht, diese Leute gezielt zur Zusammenarbeit zu erpressen.

Ein weiteres wichtiges Mittel der Überwachung scheinen Smartphones zu sein. Denn das israelische Militär reagiert vermehrt aggressiv auf die zunehmende Verwendung analoger Telephone in Hebron. Ein analoges Telephon zu benutzen kann zu einem längeren Verhör führen, in dem man gedrängt wird, doch ein Smartphone zu nutzen, um eine erneute Festnahme mit Verhör zu vermeiden.

Mehrere Aktivisten von YAS haben uns unabhängig voneinander erzählt, dass an Checkpoints und in Verhören versucht wurde, sie von der Nutzung von Smartphones zu „überzeugen“.

Erwähnten wir schon die Drohnen, die hier täglich herumfliegen?

Quellen: Amnesty International, The Guardian

Neben unseren eigenen Beobachtungen und dem Gespräch mit Issa Amro basiert dieser Blogbeitrag vor allem auf dem 2023 von Amnesty International veröffentlichten Bericht „Automated Apartheid“, in dem die Überwachungssysteme „Red Wolf“ und „Blue Wolf“ enthüllt wurden.

Auf diesem Bericht basiert dieser Artikel in The Guardian und dieser Artikel auf der Homepage von Amnesty International.

Die Informationen zu Microsoft Cloud Azure stammen aus diesem Artikel im The Guardian, wobei die Zeitung sich komplett auf die Recherche von +­972mag stützt. Eine Nachrichtenquelle zu Palästina und Israel, die wir übrigens nur empfehlen können.