Die Lage entspannt sich
Die Lage scheint sich zunehmend zu enstpannen. Was damit zu tun haben könnte, dass das siebentätige Laubhüttenfest (Sukkot) zu Ende geht. Die nationalreligiösen Pilger, die für das Fest in der Stadt waren, sind wieder weg. Die Siedlerkolonie ist wieder auf ihre normale Größe geschrumpft. Die Belästigung durch Drohnen hat massiv abgenommen. Am Sonntag (12. Okt.) haben wir keine einzige Drohne gesehen oder gehört. Und die Soldaten erscheinen uns auch weniger aufdringlich.
und während ich den text grade gegenlese, höre ich eine drohne.
Die Nachtwache von Samstag auf Sonntag (11.-12. Okt) ist so ruhig, dass wir sie nutzen, um Hauskater Adam an uns zu gewöhnen.




Am Sonntagnachmittag meldet sich das Deutsche Vertretungsbüro in Ramallah bei uns. Sie wollen wissen, wie es Issa und uns geht. Sie teilen uns mit, dass die Botschaft in Tel Aviv noch auf die offizielle Reaktion aus dem israelischen Außenministerium wartet – also auf die Reaktion auf ihre Protestnote in unserer Sache.
Am Sonntagabend teilen Soldaten Issa mit, dass es keine „Closed Military Zone“ rund um sein Haus (mehr) gibt. Ob es sie jemals wirklich gab, bezweifeln wir. Eine offizielle Bekanntmachung – oder eine Karte – blieben ja ebenso beharrlich aus wie gute Fotos vom Loch-Ness-Monster.
Um 19:00 Uhr wird allerdings ein Niederländer, der zum Sumud-Zentrum wollte, für anderthalb Stunden von Soldaten im Checkpoint 56 festgesetzt – bevor ihm der Zutritt zur Geisterstadt verboten wurde (genau wie bei uns am 4. Oktober). Seit wir hier sind, war er der erste EU-Bürger, der hierher kommen wollte. Das Zutrittsverbot ist aber möglicherweise nur ganz normale Willkür und Schikane.
Was insofern wahrscheinlich ist, als dass auch die Nacht von Sonntag auf Montag (12. -13. Okt.) ruhig bleibt.

Sumud: Was ist das eigentlich?
Wir verwenden in diesem Blog immer wieder den Begriff „Sumud“. Issa Amros Haus ist das Sumud-Zentrum. Übrigens: die Flottille aus ca. 50 zivilen Schiffen mit humanitärer Hilfe an Bord, die versucht hat, die Seeblockade des Gazastreifens zu durchbrechen, hieß „Global Sumud Flotilla“.
Sumud bedeutet „Standhaftigkeit“ oder „unerschütterliche Beharrlichkeit“
Sumud ist ein palästinensisch kultureller Wert, eine politische Strategie, die nach der Besetzung des Westjordanlands und des Gazastreifens im Sechstagekrieg 1967 vom palästinensischen Volk als Mittel des Widerstands gegen die eigene Unterdrückung entwickelt wurde. Ein Mann, der Sumud zeigt, wird als ṣamid bezeichnet, eine Frau als ṣamida.
Sumud ist für Palästinenser in etwa das, was Ghandis „Satyagraha“ für die Inder war während ihres gewaltfreien Unabhängigkeitskampfes gegen die Briten. Oder den schwarzen Südafrikanern „Ubuntu“ war im Kampf gegen die Apartheid.
Im Wesentlichen werden zwei Hauptformen von Sumud unterschieden:
- Der „statische Sumud” ist eher passiv und wird meist als „Verbleib der Palästinenser auf ihrem Land” definiert.
- Die „Widerstands-Sumud”, ist dynamischer, mit dem Ziel, Wege zum Aufbau alternativer Institutionen zu finden, um der israelischen Besetzung Palästinas zu widerstehen und sie zu untergraben.
Das Symbol des Sumud und des Gefühls der Verwurzelung der Palästinenser mit ihrem Land ist der Olivenbaum, der in ganz Palästina allgegenwärtig ist. Er ist tief in der Erde verwurzelt, übersteht Katastrophen wie Feuer und Dürre, und wird sehr alt. (Manche Olivenbäume vor dem Sumud-Zentrum wurden zur Zeit des römischen Imperiums gepflanzt.)
Ein weiteres Symbol für Sumud ist eine schwangere Bäuerin.
Statisches Sumud
Statisches Sumud ist von der Entschlossenheit geprägt, auf dem eigenen Land zu bleiben. Es zeichnet sich aber leider auch durch eine Haltung der Resignation aus: Für die einzelne Familie ist das Ziel, einfach mit der eigenen Familie an Ort und Stelle zu bleiben. Das kolliktive Ziel ist es, eine zweite ethnische Säuberung zu vermeiden. Die Staatsgründung Israels im Jahr 1948 war mit der planvollen und gewaltsamen ethnischen Säuberung des heutigen Staatsgebiets von Israel verbunden, der die Palästinenser als Nakba (Katastrophe) gedenken.
Dass Issa, die anderen Aktivisten von YAS und ihre palästinensischen Nachbarn sich schlicht und ergreifend weigern, sich von der Gewalt der Siedler und den Schikanen der Armee vertreiben zu lassen, ist statische Sumud. Dass die Menschen sich hier in einem unglaublichen Maße gegenseitig helfen und beistehen, indem sie zum Beispiel dem Nachbarn die Waschmaschine reparieren, die von Siedlern eingetretene Tür schweißen oder nach einer Razzia der Armee mit Tee und Gebäck kommen und beim Aufräumen helfen, ist statisches Sumud. Dass die Olivenbäume auch unter Gewalt und Schikane geerntet werden, ist Sumud.
Widerstands-Sumud
Widerstands-Sumud ist sehr oft konstruktiv. Ein gutes Beispiel sind die ehrenamtlichen Kliniken, die palästinensische Ärzte in den 1980er Jahren in vielen Dörfern einrichteten und betrieben.
In Bezug auf Youth Against Settlements (YAS) fallen mir in diesem Zusammenhang der Kindergarten ein, den sie in einem Haus eingerichtet haben, das die Siedler übernehmen wollten. (Sie haben ihn klandestin eingerichtet und wirklich alles dafür reingeschmuggelt!) Oder das Kino, das derzeit im oberen Stockwerk des Sumud-Zentrums entsteht. Und ihr Programm, Palästinenser systematisch mit Kameras auszustatten und in medienwirksamer und gerichtsfester Dokumentation von Armee- und Siedlergewalt zu schulen.
Gewaltfreier ziviler Ungehorsam
Auch Generalstreiks, Boykotte und Demonstrationen sind in Palästina eng mit dem Konzept des Sumud verbunden.
Diese Version des Sumud kam während der Ersten Intifada (1987–1993) voll zum Ausdruck, deren Schwerpunkt darauf lag, sich von der Abhängigkeit von Israel zu befreien, indem man die Zusammenarbeit verweigert und unabhängige Institutionen aufbaut.
Händler im Gazastreifen und im Westjordanland schlossen ihre Geschäfte. Palästinensische Frauen begannen zuvor unbewirtschaftetes Land zu bebauen, um die Abhängigkeit von israelischen Produkten zu schmälern. Palästinenser eröffneten Untergrundschulen, um auf die Schließung von 900 Bildungseinrichtungen in den besetzten Gebieten durch Israel zu reagieren. Die Palästinenser weigerten sich flächendeckend Steuern zu zahlen.
Im September und Oktober 1989, als Israel versuchte, die Intifada niederzuschlagen, wurden Steuerrazzien durchgeführt, bei denen israelische Streitkräfte und Steuerbeamte in eine Stadt einmarschierten und mit Millionen von Euro an Ersparnissen, Waren und Haushaltsgegenständen wieder abzogen. Persönliche Gegenstände, Möbel, Fabrikmaschinen und Autos wurden beschlagnahmt.
Wegen des brutalen Niederschlagens des gewaltfreien palästinensischen Widerstands durch die Israelische Armee setzten damals leider immer mehr Palästinenser auf militanten Widerstand – der dann die Wahrnehumg der Ersten Intifada in den westlichen Medien bestimmte.
Die Worte einer Ärztin aus Gaza
Am Ende der Operation „Guardian of the Walls“ 2021, dem letzten Gazakrieg vor dem Genozid, sagte eine Ärztin aus Gaza zur israelischen Journalistin Amira Hass:
„Jetzt sind wir wieder zu Hause. Ich war so glücklich, in den Garten und zu unseren Tauben zurückzukehren. Sie sind nicht gestorben, obwohl wir sie vier Tage lang nicht gefüttert hatten. Wie wir kennen auch sie die Bedeutung von Sumud (Standhaftigkeit) … Generation für Generation dauert die Nakba (Katastrophe von 1948) an. Wohin wir auch gehen, die Juden verfolgen uns. Aber sie werden uns nicht auslöschen, das ist unmöglich. Das müssen sie verstehen. Wir sind keine (amerikanischen) Indianer. Wir werden bleiben und uns vermehren. Und wir werden auch nicht vergessen … Wir glauben nicht an Parteien, [nicht] an die Hamas oder die Fatah. Die können zur Hölle fahren. Aber wir glauben an Gott, an unser Volk, an unser Land, an unsere Heimat.“

Das Bild haben wir im Januar 2018 aufgenommen. Inzwischen ist Edris gestorben und der Olivenbaum schräg unterhalb des Sumud-Zentrums von Siedlern abgebrannt – zusammen mit den anderen alten Olivenbäumen auf dieser Terrasse. Die Aktivisten von YAS und die Nachbarn konnten immerhin das Übergreifen des Feuers auf andere Olivenbäume auf Terrassen darüber und darunter verhindern.
{Text behutsam redigiert von vS}
