Fr. 8.12.17
Wir fahren vom Busbahnhof am Damaskustor, zum Checkpoint Qalandia zwischen Jerusalem und Ramallah. Dort ist es (fast) menschenleer. Drei Beobachter von EAPPI (einer kirchlichen Organisation, die in Palästina unter anderem Beobachter an Checkpoints und auf Demonstrationen schickt) sagen uns, dass die vollkommen ungewöhnlich sei. Normalerweise würden die Menschen sich hier drängen. Aber heute hätten alle Angst, weil Ausschreitungen in Jerusalem und an den Checkpoints angekündigt seien. Wir kennen das Menschengedränge auch noch von vor 6 Jahren.
Der Checkpoint selbst ist eine Stahl und Beton gewordene orwellsche Phantasie. Man muß durch mehrere Drehtüren, durch Gitterkäfige und vergitterte Gänge. Und ist von den Grenzern immer durch Panzerglasscheiben getrennt.




man muß sich das vorstellen: menschenmassen, die dichtgedrängt manchmal stundenlang warten, durchgelassen zu werden. sie haben in jerusalem vielleicht termine, müssen zur arbeit und geld verdienen und wissen nicht, ob sie hindurch dürfen. jetzt ist es um diese jahreszeit kühl, aber im sommer bei über 40 grad?
Auf der palästinensischen Seite des Checkpoints ist auch noch alles ruhig.
Mit dem Taxi fahren wir nach Bil’in das grob 15km westlich von Ramallah liegt. Bil’in ist ein 1500 Einwohner zählendes Dorf im Westjordanland, das vor etwa 10 Jahren von einem Großteil seiner Olivenbäume und Felder durch die Sperrmauer abgeschnitten wurde. Die Mauer schloß das Dorf von drei Seiten ein, um möglichst viel Raum für die Siedler der angrenzenden Siedlung zu schaffen. Seitdem gibt es jeden Freitag nach dem Gebet eine Demonstration zur Mauer. Bil’in ist bekannt für seinen gewaltfreien Widerstand. Wir haben hier auch 2011 schon an einer Demonstration teilgenommen.
Der Generalstreik scheint vorbei zu sein oder er wird nicht eingehalten. Die Läden im Dorf haben auf. Alles wirkt entspannt und ruhig. Der Metzger zerlegt öffentlich eine Kuh. (Eine Schleswig-Holsteiner Schwarzbunte!)

Das Freitagsgebet hat hier, genau wie in Nikosia, einen gleitenden Beginn. Die Gläubigen kommen so nach und nach. Die Älteren gehen in die Moschee, die Jüngeren lungern eher davor rum, und die Jungens spielen auf dem angrenzenden Friedhof Murmeln. Predigt und Gebet sind per Megaphon im ganzen Dorf zu hören. Bina geht in die Moschee, weil sie von einer Einheimischen zum Beten eingeladen wurde. Ich beteilige mich derweil am Lungern. Erst zum Abschlußgebet strömen auch Jugendlichen in die Moschee und die Kinder unterbrechen kurz ihr Murmelspiel.
wenn einen eine alte frau auf dem weg zum frauenteil zu sich winkt und einen nötigt, mit zu kommen, lehnt man besser nicht ab. die frauen beten im keller, der erst mal ein wenig aufgeräumt werden muß. ein kopftuch habe ich dabei. aber da mein rock nicht lang genug ist, hole ich mir einen aus einem regal, wo welche für notfälle liegen. komischerweise kommen nur ein paar ältere frauen zum gebet und einige ganz junge mädchen. die mittlere altersklasse ist nicht dabei, bzw. wird von mir vertreten, die sich so gut es geht beim beten blamiert. aber wer blamiert sich bei egal welchem gottesdienst nicht, wenn er/sie die liturgie nicht recht beherrscht.


Dann geht es auf zur Mauer.

Vor sechs Jahren hatte Bil’in einen großen Erfolg. Die Israelis verlegten die Mauer etwa einen Kilometer zurück. Vermutlich weil die Lage so dicht am Dorf und auf abschüssigem Gebiet strategisch eher ungünstig war. Jetzt verläuft die Mauer am Beginn des nächsten Anstiegs, was für ihre Verteidigung deutlich günstiger ist. Als letzte Tat hatten die Siedler damals alles in dem zu räumenden Gebiet angezündet und im Wortsinne verbrannte Erde hinterlassen.
An der Stelle, an der wir den alten Mauerverlauf passieren, steht ein Gedenkstein für Bassem, der hier von israelischen Soldaten erschossen wurde. Insgesamt wurden meines Wissens drei Menschen bei Protesten in Bil’in erschossen. Am bekanntesten ist der Fall eines Palästinensers, den sie erschossen haben, weil er einen Kinderdrachen steigen gelassen und somit die israelische Lufthoheit verletzt hat. Deshalb ist EU-europäische und US-amerikanische Unterstützung hier so wichtig. Wenn wir da sind, dürfen die israelischen Soldaten nicht scharf schießen, es sei denn, sie werden angegeriffen. Ein erschossener Deutscher gibt sehr viel mehr internationale Scherereien als ein erschossener Palästinenser.

Es sind verschiedene kleine Gruppen im Gelände. Als wir mit unserer kleinen Gruppe noch etwa 500m von der Mauer entfernt sind, kommen seitlich Soldaten aus der (einem palästinenschem Bauern gehörenden) Olivenplantage.

Sie verbieten uns weiter zu gehen und es entwickelt sich ein Standoff. Eine Situation, die wir nutzen um deutlich zu machen, dass wir Deutsche sind.


Ahmad, ein 16 Jähriger Junge, hat versucht, sich an den Soldaten vorbeizuschleichen und wird festgenommen.

Als wir anderen protestieren und auf die Soldaten zugehen, eskaliert die Situation. Einer der Soldaten wirft eine Schock-Granate (die einfach nur einen sehr lauten Knall macht), ein anderer eine Tränengasgranate.

Dann fliegen ein paar Steine, geworfen von Jugendlichen, die sich weiter hinten halten. Sofort verschießt der Soldat mit dem Gewehr für Tränengasgranaten sein ganzes Magazin auf die Jugendlichen, die weglaufen und sich verstreuen.

Gegen die Schock-Granaten (die, wie gesagt, nur einen lauten Knall machen) hilft es, kurz beiseite zu treten, sich die Ohren zuzuhalten und Mund aufzumachen. Wegen des Schalldrucks! Eigentlich sind es nur besonders gute Sylvesterböller.
Bei Tränengas ist es angeraten bergauf und/oder gegen den Wind wegzugehen. Das Gas ist schwerer als Luft und wird mit dem Wind mitgetrieben. Und es ist für uns sinnvoll, zu den Soldaten hin zu gehen, und nicht von ihnen weg. Denn sie können das Gas ja nicht zu dicht an sich dran einsetzen, da sie keine Gasmasken dabei haben. Wenn man das Gas richtig abbekommt (was uns nicht passiert ist) ist es gut eine Zwiebel dabei zu haben (was wir haben!) Das Gas brennt nämlich nicht nur in Augen, Nase und Mund. Ab einer gewissen Dosis bekommt das Gehirn nicht mehr mit, dass man atmet, weil die Nerven ihm das nicht mehr melden. Wenn man dann in die Zwiebel beißt, wird dieser Reiz zum Gehirn durchgestellt und damit auch die Information über das Atmen.


Dann entwickelt sich wieder eine Zeitlang ein Standoff, während die Soldaten auf Anweisung warten, was sie mit ihrem Gefangenen machen sollen. Die meisten palästinensischen Erwachsenen bleiben hinter der von den Soldaten festgelegten Grenze stehen. Die Mädchen und wir gehen am Feldrand zu Achmed und den ihn bewachenden Soldaten hin. Die Mädchen durch ihr Geschlecht und ihr junges Alter geschützt, wir durch unseren Pass.





Etwa eine dreiviertel Stunde nachdem sie ihn festgenommen haben, bekommen die Soldaten den Befehl Ahmad mit hinter die Mauer zu nehmen. Da wir inzwischen sehr wenige und mit den Soldaten alleine sind, die sehr eindeutig klar machen dass hier ihre „Red Line“ [Zitat Soldat] ist, folgen wir nicht weiter sondern gehen zurück.

Ahmad kommt nun vermutlich in Administrativhaft. In der C-Zone des Westjordanlands gilt für Palästinenser Militärrecht, während für Siedler und Ausländer Zivilrecht gilt. Hätten die Soldaten uns festgenommen, hätten sie uns ziemlich schnell wieder frei lassen müssen, weil kein Zivilrichter jemanden in den Knast steckt, weil er an einem Soldaten vorbei gegangen ist. Den Palästinenser Ahmad hingegen können sie 6 Monate ohne Anklage in Administrativhaft nehmen. Und es ist sehr wahrscheinlich, dass sie das auch machen. Eine häufiges Vorgehen ist auch, die Gefangenen nach 6 Monaten kurz frei zu lassen, und dann innerhalb von 5 Minuten wieder zu verhaften. Es sitzen hier zu jedem Zeitpunkt tausende Palästinenser in Administrativhaft und es gibt oft Hungerstreiks mit der Forderung nach einer Anklage und einem Prozeß.
In Südafrika nannte man das Konzept zweier Rechte für zwei Bevölkerungsgruppen „Apartheid“!
Wir werden zusammen mit den Mädchen von einem Autofahrer eingesammelt, der sich als Vater von Ahmad und einem der Mädchen herausstellt. Als wir zwischendrin noch einmal anhalten, um weitere Kinder und Bekannte von ihm einzuladen, macht bina dieses Foto:

In den Olivenplantagen, an denen wir vorbeifahren, gehen die Scharmützel noch weiter.


Achmads Vater kennen wir tatsächlich aus dem Film „5 broken cameras“ und erkennen ihn auch wieder. Allen, die mehr über Bil’in erfahren wollen, empfehlen wir diesen Film, der sogar für einen Oskar nominiert war.

Erstmal will er von uns und den Mädchen wissen, ob Achmad wirklich keine Steine geschmissen hat. – Nein, hat er nicht! – Denn wenn er welche geschmissen hätte, hätte er den Rückhalt der Familie verloren. Anschließend erzählt er seine Geschichte. Er saß 18 Monate in Administrativhaft weil er nicht aufhört gegen die Mauer zu demonstrieren. Die Soldaten haben ihm auf einer friedlichen Demonstration 4 Kugeln ins Bein geschossen. (Er zeigt uns den Filmausschnitt, in dem das zu sehen ist, auf dem Smartphone.) Und sie haben ihm das Handgelenk gebrochen.
Mit dem Versprechen wiederzukommen verabschieden wir uns und fahren mit dem Sammeltaxi, das hier Service heißt, nach Ramallah und von dort zum Checkpoint Qalandia.
Hier sind noch die Reste der Randale vom Mittag zu sehen. Wir kennen die beeindruckenden Bilder aus den Nachrichten. Aber von dem her, was wir gesehen haben, hatten die Krawalle hier in etwa die Ausmaße dessen, was die Autonomen jedes Jahr im Schanzenviertel zum 1. Mai veranstalten (also jetzt nicht G20, sondern der ganz normale 1. Mai.). Wenn wir Betlehem und so weiter dazunehmen, dann kommen wir darauf, dass das Ganze die Ausmaße der normalen Maikrawalle im hamburger Schanzenviertel, berliner Kreuzberg und Göttingen hat. Der entscheidende Unterschied ist die Reaktion der Gegenseite. Die deutsche Polizei hat Schilde, Knüppel und Wasserwerfer. Hier haben sie Maschinengewehre. Man stelle sich vor, in Deutschland würde die Polizei zum 1. Mai zwei Demonstranten erschießen, ohne dass sie ernsthaft verletzte Polizisten zu vermelden hätte. Was würden wir dann in den Nachrichten sehen und hören?


Auf der Rückfahrt kommen wir in Ostjerusalem an Sheikh Jarrah vorbei. Hier demonstrieren israelische Friedensgruppen seit 8 Jahren jeden Freitag. In Sheikh Jarrah haben Siedler behauptet, dass sie einige der Häuser gekauft hätten. Das hiesige „Recht“ ist so, dass in einem solchen Fall nicht die Siedler ihren rechtmäßigen Kauf beweisen müssen, sondern die Palästinenser müssen beweisen, dass das Haus tatsächlich ihnen gehört. Mit lückenloser Beweisführung bis zurück in die osmanische Zeit. Das ist den Palästinensern hier zwar am Ende gelungen, aber da die Siedler schon in den Häusern drin sind, gilt der Status Quo. Die Häuser gehören den Palästinensern, die auch Strom und Wasser zahlen, und die Siedler leben mietfrei darin.

Von dort aus gehen wir zu Fuß nach Hause (zum Bulli).



