Ein Houd: Kunst kann böse sein!

Mi 31. Jan. 2018

Morgen früh wird der Bulli eingeschifft, also fahren wir heute schon nach Haifa, allerdings mit zwei Abstechern.

Der Erste führt uns noch einmal nach Barta’a, der arabischen Stadt auf der Grünen Linie, wo wir für umgerechnet 10€ (was wirklich billig ist) unsere Gasflasche auffüllen lassen und uns noch einmal ordentlich mit Pita, Humus und so weiter eindecken. Der auf israelischer Seite liegende Teil von Barta’a gehört zum sogenannten “kleinen Dreieck”, einem dreieckigen Gebiet nördlich des Westjordanlandes mit 17 arabischen Ortschaften, die nach wie vor ein (fast) geschlossenes arabisches Siedlungsgebiet innerhalb der international anerkannten Grenzen Israels bilden. Etwa 20% der Einwohner Israels (also außer Westjordanland, Gaza, Ostjerusalem und Golanhöhen) sind “arabische Israelis”, also Palästinenser. Sie sind bestenfalls Bürger 2. Klasse – eher 3. Klasse (das “wie” und “warum” zu erklären würde hier zu weit führen) und leben vor allem in drei Gebieten: Galiläa (Nazareth und Umzu), dem “kleinen Dreieck” und der Wüste Negev.

Der Laden in dem wir die Gasflasche befüllen, würde in Deutschland sofort wegen Brand- und Explosionsgefahr sowie Gefährdung der öfffentlichen Sicherheit geschlossen. Es werden einfach verschiedene Gassystheme mit Adaptern, Gartenschläuchen und Schraubmanschetten verbunden. Die Dichtigkeit wird überprüft, indem im laufenden Betrieb ein Feuerzeug an die Verbindungsstellen gehalten wird. – In Deutschland würde das vermutlich in einer Katastrophe enden. Hier nicht! Der Mann ist routiniert und improvisiert offensichtlich schon seit Jahrzehnten mit Gasanlagen. Und weder ihm noch seinen Stammkunden (die Palästinenser kochen fast alle mit Gasflaschen) scheint bisher etwas passiert zu sein. Auch die Decke weist keinerlei Schmauch- oder Explosionsspuren auf. – Wir haben Vertrauen in seine Erfahrung! (OK, FAST: Das ersten Mal kochen wir vorsichtshalber vor und nicht im Bulli und haben beide Feuerlöscher griffbereit.)

ich werde diese situationen in den läden vermissen. diese herzlichen begrüßungen, das fragen nach dem namen, den kaffee, den wir so oft bekommen. wenn ich an die sauber geleckten geschäfte in deutschland denke, die sicherheitsvorschriften, die unbedingt eingehalten werden und die ordnung.

in wedel beim laden weiß ich nach fünf jahren noch nicht den namen der kassiererin und hier hab ich nach fünf minuten anwesenheit vor dem tresen schon ein gefühl von freundschaft.

das gassystem funtioniert im bulli ganz hervorragend. alle sorge ist unbegründet. da strömt nichts aus, da wackelt auch nichts.

Der zweite Abstecher führt ins “israelische Künstlerdorf” Ein Houd. Zu Beginn unserer Zeit in Israel/Palästina hatten wir in Tel Aviv eine deutsche Künstlerin getroffen, die mit dem Stipendium einer deutschen Stiftung für ein paar Monate in Ein Houd lebte und arbeitete und uns vorschwärmte, wie idyllische der Ort sei. Damals wußten wir nichts damit anzufangen. Inzwischen sind wir schlauer.

Ein Hod liegt südlich von Haifa an den Hängen des Karmel und blickt auf die Küste des Mittelmeeres herunter. Das Besondere an dem Dorf ist, dass es 1948 als eines der wenigen palästinensischen Dörfer nicht zerstört wurde. Der Überlieferung nach wurde es von einem Offizier Saladins gegründet (Saladin der arabische Feldherr, der die Kreuzritter aus dem Heiligen Land rausgeschmissen hat. – Ja genau, der Typ aus “Nathan der Weise”.) Im Jahr 1945 lebten hier 650 Menschen. Am 11. April und Ende Mai 1948 wurde das Dorf angegriffen. Allerdings wurde es erst am 15. Juli des Jahres kampflos besetzt. Die Menschen wurden (wie üblich) vertrieben. Die Häuser aber (anders als üblich) stehen gelassen. Bald entdeckten israelische Künstler das Dorf für sich und verliebten sich in die alten Häuser, die Natur, die Aussicht und das Licht. Heute ist es eine offizielle Künstlerkolonie.

Früher das Heim einer Familie, heute eine Künstlerwerkstatt.
Die alte Ölmühle ist heute eine Galerie.
Am Rande des Dorfplatzes steht ein Stück Berliner Mauer.
Die alte Moschee am Dorfplatz ist heute ein argentinisches Restaurant.

Wir kriegen in diesem Dorf kaum Luft. Ich verstehe, warum die Israelis 1948 fast alle arabischen Dörfer zerstört und für sich selber neue Dörfer gebaut haben. Nur so läßt sich notwendige Verdrängung psychisch leisten. Nur so läßt sich die Legende, “Wir kamen in ein leeres Land!”, aufrechterhalten. Als ich das Stück der Berliner Mauer auf dem Dorfplatz sehe, packt mich die Wut. Ausgerechnet diese Mauerbauer verwenden die Berliner Mauer als Feigenblatt. Überhaupt, diese ganze Kunst, mit der die Geschichte des Ortes, die ethnische Säuberung übertüncht und indirekt gerechtfertigt wird. Ich wußte nicht, dass Kunst tatsächlich Böse sein kann. Wir gehen in das argeninische Restaurant, von dem man auf das Mauerstück blickt. Wir wissen aus dem “Palästina Reisehandbuch”, das es früher die Moschee des Ortes war. Wir stellen uns dumm und fragen den Kellner nach der Moschee. Dieser ist erst irritiert, dann leugnet er, dann spielt er herunter. Ja, das sei mal eine Moschee gewesen, aber das sei über 100 Jahre her. Als wir das Jahr 1948 erwähnen kippt die Stimmung und wir gehen besser. Vor allem bina hätte es ohnehin nicht länger ausgehalten.

ich laufe fast amok. in einem glaskasten hängt sündhaft teures ‘dry aged’- fleisch, die tische sind auf eleganteste weise eingedeckt und hinter dem tresen steht ein freundlicher junger mann und hat keine ahnung. oder will sie nicht haben. am liebsten würde ich die teller an die wand klatschen, oder dem ober an den kopf.

das sorgt bei ihm zwar nicht für hellsicht, bei mir aber für erleichterung. ich ziehe es vor, den laden so schnell wie möglich zu verlassen.

Wir fahren weiter nach Ein Houd al-Jadida. Die meisten palästinensischen Bewohner Ein Houds leben heute im Flüchtlingslager Jenin oder in Jordanien. Aber ein Teil der Familie Abu-al-Haja hat sich nicht vertreiben lassen. Sie zogen sich in die Wildnis oberhalb des Dorfes zurück. Und gründeten nur einen Kilometer Luftlinie entfernt das “Ein Houd al-Jadida”. Bis vor kurzem war dieses Dorf eines von 149 nicht anerkannten palästinensischen Dörfern in Israel. Israel erkennt die Dörfer nicht an, muß sie somit nicht an die öffentliche Infrastruktur (Wasser, Elektrizität, Straßen, Müllabfuhr,…) anschließen und behält sich die Möglichkeit offen, sie jederzeit zu räumen, um zum Beispiel ein jüdisches Dorf zu errichten. – Aufgrund der internationalen Bekanntheit des Künstlerdorfes Ein Houd ist es vor einigen Jahren gelungen, die Anerkennung von Ein Houd al-Jadida durchzusetzen.

Das neue Dorf Ein Houd al-Jadida oberhalb des alten Ein Houd.
Die Moschee des neuen Dorfes.

Die Straße ist schmal und windet sich über drei Kilometer hin und her, hoch und runter. Dann sind wir im neuen Dorf. Hier bekommen wir wieder Luft. Wir gehen in das einzige Restaurant des Dorfes, in dem wir das Essen genießen und mit Freude unser Geld lassen. Beim Essen blicken wir auf die Küste des Mittelmeeres und die Dächer des alten Dorfes hinunter. Was geht wohl in den Herzen der Menschen hier vor, wenn sie auf ihr altes Dorf gucken, in dem ihre Vorfahren für etwa 40 Generationen gelebt haben und in dem jetzt israelische Künstler die Idylle genießen; und eine deutsche Künstlerin mit einem deutschen Stipendium.

PS: Die palästinensische Familie aus dem Roman “Während die Welt schlief” von Susan Abdulhawa wird zu beginn des Buches aus dem Dorf Ein Houd vertrieben. Ich empfehle das Buch jedem, der den Konflikt besser verstehen oder einen guten Roman lesen will. Es zeichnet die Geschichte einer palästinensischen Familie von 1940 (also vor der ethnischen Säuberung Palästinas) bis 2003 (also nach der zweiten Intifada) nach. Die Familie selbst ist fiktiv, aber die historischen Ereignisse, die sie durchlebt sind erstaunlich gut recherchiert.