Auf nach Zypern

Donnerstag 5.10.17

Gegen 10 Uhr rufen wir Herrn Ersin an und erfahren, dass das RoRo-Frachtschiff nach Haifa definitiv keine Passagiere mitnimmt. Da ist nichts zu machen.Wir gehen zu Plan B über:

I) Die Fähre von Mersin nach Nordzypern nehmen.

II) Von Nordzypern über das Gebiet der souveränen Britischen Basis in den Inselsüden wechseln.

III) Von Larnaca aus mit dem RoRo-Frachtschiff nach Haifa fahren.

Am Passagierterminal in Mersin treffen wir Borak, er war als Erasmusstudent in Deutschland, spricht gut Englisch sowie ein paar Brocken Deutsch, und nimmt uns an die Hand. Er organisiert uns innerhalb einer knappen Stunde unsere Fährpassage. (Gemeinsames Teetrinken inklusive!)

Borak mit bina bei der Teepause.

Den Tag vergammeln wir im Schatten einiger Bäume am Hafen. Abends geht es dann auf die Fähre, die erstaunlicherweise die ganze Nacht für die kurze Strecke nach Zypern braucht. Wir können die Insel bei guter Sicht ja vom Festland aus sehen.

danke für deine hilfe, borak. ohne dich hätte das mindestens doppelt so lange gedauert.

wir werden von vielen leuten durch dies ganze procedere der schiffsabfertigung getragen.

irgendwer ist immer da und kümmert sich um uns. sei es bei der passkontrolle, oder das uns und bulli jemand im eigenen auto durch das halbe containerterminal zu unserem schiff geleitet, wo wir sehr lange zusehen, wie ein laster nach dem anderen im schiffsrumpf verschwindet. die fußpassagiere sind schon längst an bord und einer kommt nicht nur auf die idee, uns einen tee nach draußen zu bringen, sondern uns auch im aufenthaltsraum an bord zwei sofas zum schlafen zu reservieren. leider sind das die besten plätze direkt vor dem sehr lauten fernseher. ich muß leider umziehen, damit ich ein bischen schlaf finde.

Ein paar nachgereichte Bilder

Der Artikel in der größten Finnischen Tageszeitung (was immer das heißt) über die „Ende Gelände“ Aktionen gegen Braunkohletagebau ist meine einem Foto von unserer Mahnwache bebildert. Und wir werden auch im Artikel zitiert. Was wir da sagen, wissen wir aber nicht. – Ist alles auf Finnisch…

Zum ansehen des Artikels auf den Link klicken:

Ende-Gelände Artikel.pdf

Den Blick auf den riesigen Salzsee südlich von Ankara wollen wir euch nicht vorenthalten. Auch wenn das Bild nicht ansatzweise erahnen lässt, wie groß diese Salzwüste wirklich ist.

Blick auf den riesigen Salzsee südlich von Ankara.

Obwohl wir inzwischen weiter gekommen sind, als Michels Onkel Wolfgang im Jahr 1962, sind wir doch nicht annähernd so weit weg von Zuhause, wie er damals. In Zeiten von Internet, Mobiltelephon und Onlinebanking kann man irgendwie gar nicht mehr so weit von Zuhause weg sein wie damals.

Wolfgang (links) 1962 vor der Haiga Sophia in Istanbul.
Wolfgang bei Iskenderun.

 

Drei Tage Tarsus (zwischen Mersin und Adana)

Freitag bis Sonntag, 3.–5.11.2017

tarsus, eine türkische stadt, die eine schöne altstadt haben soll.

wir finden ein großes einkaufszentrm, auf dessen parkplatz wir gut stehen können. es sind nur ein paar minuten zu fuß in die innenstadt.

Frühstück am Einkaufszentrum

eine schöne altstadt stelle ich mir anders vor als dieses kreuz und quer von morbiden straßen mit dunklen verstaubten läden, vielen autos und mehrheitlich männern. die wenigen frauen fast alle mit kopftuch. ich brauche eine weile, bis ich den charme und die schönheit dahinter und darin finde.

wir werden angeschaut und wenn ich grüße, lächelt und grüßt man zurück und winkt vielleicht. jemand brüllt uns ‚moin‘ hinterher, freut sich, daß wir tatsächlich aus hamburg kommen, wohin er morgen zurückfährt und fragt: ‚womit kann ich euch helfen?‘ leider brauchen wir grad keine hilfe.

männer, die vor der moschee unter bäumen an einer kleinen teeküche beim tee warten, bis das freitagsgebet losgeht. auch wir machen dort pause. ich bin die einzige frau an den vielen tischen. egal. nach und nach verschwinden alle in der moschee, einige beten davor und anschließend setzt man sich wieder zum tee und klönt weiter. mit welchem sichtbaren genuß sich die älteren männer die süßigkeiten in den mund schieben, die vor dem tor verteilt werden! und wie sie begeistert den karren an der straße umringen, der honig mit waben verkauft! mit ziemlichem hallo werden wir zum probieren genötigt und ich kaufe ein stückchen.

Eine Tafel vor der Moschee auf Türkisch und Englisch informiert über die Geschichte der Moschee. Das die Steine von einem „older building of worship“ stammen, übersetze ich mir mit: „Hier stand mal eine Kirche, die wir als Steinbruch für die Moschee genutzt haben.“

Eingang zur Moschee
Vor dem Gebet

die engen straßen und vielen gassen in tarsus sind wie ein freiluftbazar. schlachtereien mit ganzen kälberhälften im schaufenster. dazu gekröse, pansen, aus dem man eine leckere suppe kochen kann. läden mit süßigkeiten: traubensaft an der schnur, turish delight in allen varationen, türkischer honig, dazu berge von nüssen, torten, halva, bonbons. schneidereien, in denen man sich diese pluderhosen machen lassen kann, in denen die älteren männer fast alle herumlaufen. haushaltswarenläden, die so vollgestellt sind, das man den besitzer kaum erkennt. hin und wieder gemüsegeschäfte. kleiderläden, die ihre ware vor die tür gehängt haben, daß man den eingang kaum findet. gewürze, in großen haufen lose verkauft, hülsenfrüchte, johannisbrot, nüsse, oliven in großen säcken. darüber getrocknete paprika, pilze, feigen an dicken ketten aufgezogen, die aussehen, wie überdimensionierte hawaiianische blumenkränze. teestuben noch und nöcher und kleine bis kleinste restaurants. wunderbar! wir essen heißen hummus mit viel brot und scharfem chili. so lecker.

Der beste Hummus der Stadt

und dann der andere teil der stadt: eine breite fußgängerzone, moderne läden, junge menschen, mehr frauen und weniger kopftücher. eine moderne parkanlage.

am nächsten tag ist ein fest auf dem platz neben dem brunnen, aus dem petrus oder paulus getrunken haben sollen. viele gastronomen haben dort ihre stände aufgebaut. von dem hummuskoch werden wir freudig begrüßt. es gibt eine große bühne, man trifft sich, klönt, nascht an den ständen. bis auf reichlich viel presse aus allen teilen der türkei sind wir die einzigen nicht türkischen gäste und probieren uns für kleines geld durch granatapfelsaft mit irgendwas drin und spezieller zitronenlimonade, durch fett- und läuterzuckertriefendem teiggebäck und schlagen uns den bauch mit frischem köfte voll, bis es anfängt zu regnen. schade eigentlich, ich hätte zu gern gewußt, was auf und vor der bühne noch geboten wird.

Ja, der Fressmarkt ist eine Leistungsschau des türkischen Kalorienbombenterrorismus! Auch ohne den Nieselregen hätten wir nach wenigen Ständen mit vollen Mägen kapitulieren müssen.

Kalorienbomben
Atatürk ist noch überall

am nächsten tag hat es sich eingeregnet. das wasser kommt den ganzen tag geradewegs von oben runter und kein lüftchen bewegt sich. wir igeln uns im bulli ein und sind meilenweit davon entfernt zu jammern. so einen tag hatten wir schon seit ewigkeiten nicht mehr.

Ein richtiger Regentag! Nach dem wochenlangen Sonnenschein und den vielen neuen Eindrücken jeden Tag kann ich einen vergammelten Tag im Bett mit echtem Schietwedder tatsächlich ganz gut vertragen! Und abgesehen davon: Den Pflanzen tut’s gut und wir verschwinden ja bald nach Süden.

Eingeregnet!

Die Armenierfrage

Sonntag, 5.11.2017

Gestern hatten wir ein längeres Gespräch mit zwei gut Englisch sprechenden und an sich gebildeten Türken. Als wir irgendwann im Gesprächsverlauf von den armenischen Zyprioten erzählten, deren Familien oft ursprünglich in Mersin, Tarsus oder Adana lebten, im 1. Weltkrieg in Hungermärschen nach Syrien vertrieben wurden und von dort nach Zypern kamen, war die Reaktion erschreckend:

Es hätte in dieser Gegegend (Tarsus-Mersin-Adana) nie Armenier gegeben. Die Vertreibung hätten sich Armenier ausgedacht. Sie seien immer und überall eine Minderheit, die der Mehrheit nur schaden wolle. Sie seien weinerlich und würden die Türken schlecht machen wollen. Und so weiter.

Das Ganze war historisch erschreckend fehlinformiert und hatte eine unglaubliche Ähnlichkeit mit dem deutschen (und mitteleuropäischen) Antisemitismus von vor 90 Jahren. Die gleichen Vorurteile, Denkstrukturen und Argumentationsmuster.

Ich will auf den Gesprächsverlauf nicht weiter eingehen. Sondern es zum Anlass nehmen, für unsere Lieblingssuchmaschine „Startpage“ zu werben:

Die Türkei schottet sich ja auch im Internet gegen die historische Wahrheit ab. Wikipedia ist gesperrt, und die Suchergebnisse von Google zu „genocide armenian“ sehen (sehr höflich ausgedrückt) etwas anders aus als in Deutschland. Startpage hingegen liefert auch in der Türkei die gleichen Suchergebnisse wie in Deutschland und man kann die gefundenen Seiten unkompliziert über die eingebaute Proxyfunktion aufrufen, um die Sperrung zu umgehen. So haben wir auch in der Türkei Zugriff auf den Wikipediaartikel zum Völkermord an den Armeniern. (Ach: Und natürlich gab es Armenische Gemeinden in Mersin, Tarsus und Adana.)

Dass Startpage die Privatsphäre seiner Nutzer respektiert, sie nicht überwacht und sich dies auch unabhängig zertifizieren lässt, sei auch noch erwähnt.

Auf nach Haifa

Montag bis Mittwoch, 6.–8.11.2017

jetzt wird‘s ernst. die flugtickets hat michel in der tasche, auch die 700 dollar hat er in bar dabei. am hafen in mersin treffen wir unseren ‚verbindungsmann‘, der michel durchs einschiffen von bulli geleiten wird. ich bin derart neben der kappe, das ich froh bin, derweil mit einem tee an der teestube gegenüber auf ihn warten zu können. nein, mir ist nicht wohl dabei, bulli allein aufs schiff zu lassen. überhaupt nicht! ich fühle mich, als würde ich unseren gefährten im stich lassen. er ist mein zuhause!!!!! die rucksäcke haben wir mit dem wichtigsten gepackt. das muß für die nächsten tage reichen.

und dann kommt michel mit dem kapitän des schiffes wieder, der total begeistert von bulli ist und mir in die hand verspricht, gut auf ihn aufzupassen. er ist richtig enttäuscht, daß auch michel fliegen wird und nicht mitfährt. mir geht es gleich viel besser. durchsucht wurde bulli nicht.

Der Kapitän des Schiffes war so begeistert von Bulli, dass er gleich ein Selfie mit Bulli machen mußte. Und dann für ein zweites Selfie zu bina aus dem Hafen rauskam.

mit dem bus fahren wir nach adana und mieten uns zum ersten mal auf dieser reise in ein hotel ein. 4 qm bett in einem 15 qm zimmer, samt fernseher und einem 5qm bad ganz aus marmor. mit endlos heißem wasser und strahlend weißen handtüchern. und wir können all unsere sachen im zimmer verstreuen und uns trotzdem noch bewegen! ich weiß mich gar nicht zu lassen. welch luxus!
mit ein bischen verpflegung und einem guten film bleiben wir einfach mal von nachmittags bis zum nächsten mittag im bett! unser flug geht ja erst abends.

Luxus im Hotel

Nach dem Regentag haben wir als gelernte Norddeutsche natürlich sofort auf „Herbst“ umgestellt: Lange Hose und Pullover. Wir schwitzen uns tot und kehren zum Sommeroutfit zurück. Das hiesige Kleinbussystem ist billig und superpraktisch. Man muß nie lange auf einen Bus warten, und die 80km
Mersin-Adana kosten umgerechnet gerade mal 3€.

Warten auf den Flieger
Schnee in den Bergen auf 3000m und Sommersonne im Tal

der flug ist anstrengend. viel übliche warterei, gate suchen, herumsitzen, schlangestehen beim einchecken. auch frieren, weils in istanbul erstaunlich kalt ist. irgendwann kann ich nicht mehr sitzen, aber da sind wir zum glück schon im landeanflug auf den ben-gurion-flughafen.

mitternächtens sind wir endlich in israel, finden ein sheruk (ein sammeltaxi) nach haifa, das uns in rasanter fahrt vor das passenger-gate am hafen bringt. die wachen dort schauen erstaunt und schicken uns wieder weg, weil jetzt natürlich keiner da ist, der uns helfen kann. es ist 3:00 Uhr morgens und wir müssen sehen, daß wir noch ein bisschen schlafen. wir finden irgendwo in der stadt eine leerstehende wohnung, auf deren terasse wir etwas versteckt ein paar stunden ruhe finden.

Unsere Schlafterasse in Haifa

morgens dann beginnt die aktion ‚bulli aus dem hafen befreien‘. das zu beschreiben würde den rahmen sprengen. deshalb hier der versuch es kurz, aber unterhaltsam zu machen:

gesamtdauer: 8,5 std.
persönlich beschäftigte menschen: mind. 10
telefonisch beschäftigte menschen: mind. 5
telefonate: mind. 15
besuche bei der versicherungsagentur: 2
besuche bei der zuständigen reederei: 3
anlaufstellen, die wir nacheinander abgehakt haben (davon ein paar mehrfach): insgesamt 10
kontrolle der unterlagen und papiere von verschiedenen hafenangestellten: 4
entzifferungsversuche von deutschen autopapieren durch hafenbeamte und versicherungsangestellte: 4
erklärung unsererseits, was ein camper oder caravan ist: 3
kosten für gebüren, versicherungen etc: reichlich
dazu kommen:
erstaunensausbrüche ob unserer reise: 3
neidisches fragen div. angestellter: ‚ich will auch, darf ich mit???‘ : 3
begeisterungsäußerungen über bullis innenleben: 3
freundlichkeits- und hilfsbereitschaftslevel auf einer skala von 1-10: 10
gründliches bulli-durchsuchen, vielleicht röntgen, drogenhunde holen o.ä.
(wir haben mit allem gerechnet): 0 (ohne witz!!!!)

unser besonderer dank gilt lissy von der schiffsgesellschaft, die ihre eigentliche arbeit im stich ließ, um uns zu helfen und christo, der unermüdlich mit uns im hafen a nach b und zurück fuhr, regelte, erklärte, die kontrolle am hafentor aufhielt, die eigentlich um 16:00 Uhr feierabend hatte, aber wir noch nicht fertig waren.

bulli steht tatsächlich wohlbehalten am kai. wir brauchen bloß einzusteigen und loszufahren. nur die radkappen hatte man abgenommen, aber sorgfältig im fußraum deponiert.

ja, ich gebe es zu: ich habe ihn zur begrüßung erst mal gestreichelt und vor erleichterung ein bischen geweint. wir fahren nicht weit. nur eben den karmel-berg hoch, oberhalb des garten der bahai, wo man am straßenrand gut stehen kann. essen, schlafen. mehr ist heute nicht mehr drin.

wir sind in israel/palästina. alle drei und wohlbehalten. wie wir uns das gewünscht hatten. ich kann es kaum glauben! wir haben es tatsächlich bis hierher geschafft!

wir haben ein visum für drei monate, eine autoversicherung für einen monat und eine adresse, wo wir beides verlängern können. mal schauen, ob es klappt.

und eine große frage wird auch gleich geklärt:

wie, zum teufel, halten diese kleinen kippas auf den stoppelhaaren der gläubigen juden. eigentlich müßten die ständig runterfallen, tun sie aber nicht.

wir fragen einen mit besonders kurzen haaren und einer kleinen und damit rutschgefährdeten kippa. er lacht und zeigt sie uns: innen befindet sich eine kleine anti-rutsch-matte, die ständige abstürze der kippa verhindert. das klämmerchen an der seite ist offentsichtlich nur zierde.

Haifa, das sich über dem Hafen den Hang des Karmel-Berg hinaufzieht, scheint eine wirklich lebenswerte Stadt zu sein. Nur leider waren wir schon mal in Israel/Palästina und kennen die große Schattenseite der so offenen liberalen israelischen Gesellschaft: die Besatzung der Westbank. Und wir wissen um die Vergangenheit: die ethnische Säuberung Palästinas. Denn hier lebten vor 1948 andere Menschen: Araber. Und die haben ihre Heimat nicht freiwillig verlassen. Sie wurden im Rahmen einer groß angelegten ethnischen Säuberung vertrieben. Planmäßig mit allem was dazu gehört, Massaker inklusive.

Ein sehr gutes Buch dazu ist „Die ethnische Säuberung Palästinas“ von Ilan Pappe, einem israelischen Historiker, der den „Plan D“ (oder „Dalet“) auf Grundlage des Archivs der Haganah, den Tagebüchern Ben Gurions und einiger anderer Quellen – wie dem Archiv des Roten Kreuzes – sehr gut aufgearbeitet hat. Er wird immer wieder mein innerer Reisebegleiter durch dieses Land sein.

Zu Haifa weiß ich noch, dass ein Großteil der Araber zur Deportation unten am Hafen zusammengetrieben worden war und dann von oben, von den Hängen des Karmel, auf die Menschenmenge geschossen wurde.

Tschüss Zypern, willkommen Türkei

Mi-Fr, 14.-16. Mrz. 2018

wir fahren ein letztes mal nach girne über den checkpoint metehan, wo wir uns das ach so wichtige gelbe formular für bulli abholen. selbst der mensch am schalter macht zu diesem unsinnigen papierkram eine mehr als ironische bemerkung.

Das „gelbe Formular“ haben wir bei unserem ersten Zypernaufenthalt im Oktober bei der Einreise im Hafen von Girne bekommen. Also einen Monat vor der Ausreise. Diesmal müssen wir es am Tag der Ausreise (keinen Tag früher) an der Inlandsgrenze (und nicht im Hafen) beim Zoll abholen. Da wir ja diesmal über die Republik Zypern und nicht über die Türkei nach Nordzypern eingereist sind.

im hafen von girne bekommen wir anstandslos unsere tickets für gewohnt kleines geld. die fähre fährt schon nachmittags um drei. so bleibt leider keine zeit mehr für ein parting glas guinness in ‘unserem’ pub, aber wir kriegen einen letzten zypriotischen kaffee am hafen und kaufen noch eine flasche zivania als erinnerung. die wartezeit am schiff beim verladen hält sich in grenzen. heute ist nicht viel los, alles verläuft routiniert. die einzige aufregung hat bulli, der zum ersten mal fahrstuhl aufs oberdeck fahren darf.

Bulli im Hafen – wieder mal – inzwischen wird er auch gar nicht mehr seekrank.
Blick aus Bulli im LKW-Fahrstuhl auf der Fähre. Eine völlig ungewohnte Perspektive. Wie passt hier ein ganzer Laster drauf?

nach dem wir an deck mit dem einen oder anderen passagier ein pläuschen halten, verbringen wir die überfahrt im bett. im gegensatz zu den fähren, die wir sonst gewohnt sind, darf man hier nämlich während der überfahrt im auto bleiben.

in tusucu im hafen werden wir spätabends zum ersten mal auf dieser reise etwas ernsthafter durchsucht. der mensch läßt sich unser oberes klamottenfach zeigen, sowie den kühlschrank und die spüle, in der vermutung dahinter, bzw. darunter befindet sich ein blinder passagier. er fragt auch nach dem raum unter dem teppich, dabei ist offensichtlich, daß sich dort nur das bodenblech und dann die straße befindet. unsere charmeoffensive kommt dies mal nicht an. er ist wenig beeindruckt von bulli. die großen stauräume hinten unten findet er trotzdem nicht. ansonsten gibt es keine schwierigkeiten und wir sind schnell auf der straße richtung mersin, wo wir einen schönen stellplatz am strand finden und eine nacht bei meeresrauschen verbringen.

in fahrradnähe ist der campingplatz von ayshe, wo wir im letzten jahr ein paar tage verbrachten. dort gehen wir am nächsten tag auf einen tee ins internet. erst erkennt uns ayshe nicht, aber dann will sie mich gar nicht wieder loslassen, so freut sie sich. natürlich gibt es nicht nur das glas tee, sondern gleich eine ganze kanne und es biegt sich der tisch, als wir nach einer kleinigkeit zu essen fragen. ihre w-lan verbindung können wir nutzen, solange wir wollen. als wir schon zum abschied im flur stehen, gibts noch schnell ein tellerchen erdbeeren und die zitronen, die ayshe uns noch mitgeben will, kann michel mit knapper not abwehren.

Unser Stellplatz am Strand: Im Hintergrund spätrömische Ruinen. Ach ja, und Kaiser Barbarossa soll hier seine letzte Nacht geschlafen haben, bevor er im Fluß ertrank.

Fahrt nach Diyarbakir/Amed

Fr/Sa, 16./17. Mrz 2018

Vor ein paar Wochen haben wir über Freunde von Freunden eine Einladung bekommen, als Teil der deutschen Delegation zur Menschenrechtsbeobachtung und als Gäste der HDP am Newrozfest in Diyarbakir/Amed teilzunehmen.

Zur Erklärung:

  • Amed: Ist der alte kurdische und armenische Name Diyarbakirs, der inoffiziellen Hauptstadt des “türkischen Teils” Kurdistans.
  • HDP: Ist die „Demokratischen Partei der Völker“, die große linke kurdisch dominierte Partei in der Türkei.
  • Newroz: Ist das Neujahrsfest in Mesopotamien. Es wird am 21. März gefeiert bei Tag-und-Nacht-Gleiche und ist in Kurdistan ein politisch wichtiger und äußerst brisanter Termin.

Da wir diesmal nicht nur als Touristen in der Türkei sind, ist besonder Vorsicht geboten!

Denn wie die Bertelsmannstiftung in ihrem Bericht “BTI 2018” zur Lage der Demokratie in der Welt schreibt: „In der Summe ist die Türkei mit ihrer Abwertung um 1,70 Punkte das Land, das vom BTI 2016 zum BTI 2018 am meisten herabgestuft wurde.“ Also weltweit! „Im BTI 2018 wird die Türkei als “stark defekte Demokratie“ geführt, steht in mehreren Indikatoren allerdings kurz vor der Abstufung zur Autokratie. Die Auswirkungen des Referendums vom April 2017 zur Umstrukturierung der Türkei in eine Präsidialrepublik werden möglicherweise dazu führen, dass die Türkei die demokratischen Mindeststandards unterschreitet.” Was inzwischen, wie wir aufgrund unserer Erlebnisse sagen können, geschehen ist!

Eine Veröffentlichung der Bundeszentrale für politische Bildung vom 24. Januar 2018 (also ziemlich aktuell) schreibt: „Präsident Erdogan geht nach wie vor auch gegen die zivile Opposition, wie die gemäßigte kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP), vor. In diesem Zusammenhang sitzen nun auch mehrere Deutsche in türkischen Gefängnissen. Ihnen wird prokurdische Propaganda und Mitgliedschaft in Terrorarganisationen vorgeworfen.“ Um zu erfassen, wie gefährlich das für uns ist, muß man wissen, dass Erdogans Leute neue Straftatbestände erfunden haben, wie beispielsweise “unbewaffneten Terrorismus”, was im Klartext wohl jedwedes Aufdecken und Anprangern von Mißständen bedeutet. Und dass der Grad der Überwachung sowohl im Alltag, als auch im Internet ein unglaubliches Ausmaß angenommen hat.

Daher beschließen wir den ausführlichen Bericht unsere Erlebnisse und Beobachtungen im Blog (also das was ihr hier gerade lest) erst zu schreiben, wenn wir wieder aus der Türkei raus sind. Uns dafür aber regelmäßig auf unserer Hompage zu melden, damit “unsere Leute” wissen, dass wir nicht verhaftet sind.

dann wollen wir mal: am freitagmorgen soll es beizeiten losgehen, denn wir wollen rechtzeitig in diyarbakir/amed sein. aber dann fährt sich bulli im weichen sand fest. ich hatte schon vorgestern bei der ankunft befürchtungen, aber michel würde sicher recht haben: die grasnarbe würde für genügend festigkeit sorgen. denkste, bulli ist ja viel schwerer als ein normaler pkw. ein netter angler, der an der landzunge seine stippe ins wasser hält, hilft mit seinem auto gern, fährt sich aber selber fest. jetzt hilft nur noch ein trecker.

dem picknickplatz gegenüber auf der anderen straßenseite ist grade h… aus izmir bei seinen eltern zu besuch. welch ein zufall. er hat in frankfurt gelebt, eine deutsche ehefrau, spricht exellentes deutsch und telefoniert einen trecker herbei. den preis dafür hat er auch gleich heruntergehandelt.

Erster Versuch – bei dem sich unser Helfer selber festfährt.
H… und seine Eltern. Während wir auf den Trecker warten ist Zeit für einen Tee und einen Schwatz.
Für den Trecker ist es kein Problem.

der trecker zieht beide autos in null komma nichts aus dem sand, der angler bekommt noch ein paar mandarinen von mir zum dank in die hand, wir verabschieden uns bei allen aufs herzlichste und können endlich los.

es geht immer nach osten. an der abzweigung nach antiochia hinter adana wird uns ein wenig wehmütig. die tage im okober waren zu schön in dieser stadt. aber wir fahren weiter. auf dem rückweg werden wir noch einmal hinfahren.

die landschaft wechselt ihr aussehen je weiter wir nach osten fahren. was immer bleibt, ist die unendliche weite, durch die uns die fast leere landstraße führt. ab und zu tauchen städte auf. die seelenlosen hochhäuser, die die stadtränder säumen sind schon von weitem zu sehen.

Hochhäuser eines Vororts von Gaziantep auf dem Weg nach Diyarbakir/Amed.
Bullis Schatten begleitet uns im Abendlicht.

wir fahren durch eine hügelige steinsteppe. hier verlieren sich immer mal wieder nomadenlager. erst denken wir, es handelt sich um kleine flüchtlingslager. aber die zelte und unterstände sind zu wenig improvisiert und zu groß. wir sehen schaf- und ziegenherden mit ihren hirten. ein paar hunde sind auch immer dabei und im hintergrund erheben sich die berge mit ernsthaftem schnee. nicht nur mit ein paar verharschten flecken in den nordtälern. das land ist noch grün. wie sieht es hier im hochsommer aus, wenn die sonne brennt? die felder liegen voller steine. sie müssen mühsam frei geräumt werden. die steine liegen dann in großen haufen mitten im grün oder werden zu trockensteinmauern und -wällen aufgeschichtet. ich weiß, welche arbeit es macht, solche mauern zu bauen und es erfordert viel geschick und können und das land ist voll davon. so geht es kilometer um kilometer.

Nomaden und Hirten in der mesopotamischen Steppe.
Die Berge sind hier über 3.000 m hoch.
Steinfelder und Ackerland (das irgendwann mühsam von Steinen gesäubert wurde).
Noch mehr Steine und noch mehr Weite.
Die Straße ist überdimensioniert zu dem Verkehrsaufkommen.

wir übernachten auf einem parkplatz eines flughafens zwischen urfa und diyabakir/amed, weil wir nicht einschätzen können, wie sicher wir sind, wenn wir irgendwo in der landschaft stehen. unter kurden und nomaden machen wir uns keine gedanken. unsere sorge gilt eher dem türkischen militär, dem wir nicht trauen.

Und wo sind wir sicherer, als auf dem Flughafenparkplatz? Dort wird niemand nach subversiven Elementen suchen!

und dann taucht endlich diyarbarkir/amed auf.

Ihr kommt nicht drauf: Das Ortsschild von Diyarbakir/Amed.

Der Städtekrieg 2015/16

Bevor wir unsere eigenen Erlebnisse berichten, müssen wir über den “Städtekrieg” schreiben, der 2015/16 über Monate in der Südosttürkei, alias Nordkurdistan wütete. Die meisten unserer LeserInnen haben vermutlich noch nie etwas vom “Städtekrieg” gehört oder gelesen.

Uns Deutschen fallen zu “2015/16” und “Türkei” vor allem die hundertausenden syrischen Flüchtlinge ein, die über die Türkei, das Mittelmeer und die Balkanroute nach Deutschland kamen. Und dass die deutsche Kanzlerin Merkel dem türkischen Präsidenten Erdogan Geld und Waffen versprach, wenn er die Flüchtlinge aufhält und sie dieses Versprechen auch hielt.

Während Deutschand (also wir) der Türkei Waffen und Geld versprach, ließ diese im südosten ihres Landes mehr als 30 Städte und Provinzen mit Panzern und schwerer Artillerie beschießen, zum Teil mit Kampfflugzeugen bombardieren und sogar Phosphorbomben auf dichtbesiedelte Gebiete werfen. Und das, ohne dass die deutschen Medien größer darüber berichtet hätten.

Wir können uns nicht erklären, warum in Deutschland darüber so wenig berichtet wurde und halten es für ein eklatantes Versagen der deutschen Zeitungen und Sendeanstalten. Wenn wir einem Staat, der dabei ist sich von einer Demokratie in eine Autokratie zu verwandeln und seine eigenen Städte bombardiert, im großen Maßstab Waffen schenken, dann ist das doch berichtenswert. – Es ist sogar mehr als das: Es ist “berichtenspflichtig”!

Die folgende Übersicht der Ereignisse basiert hauptsächlich auf Veröffentlichungen der Bundeszentrale für politische Bildung (pbp), die ich von deren Hompage heruntergeladen habe. Wobei ich die Fakten natürlich prokurdisch gefiltert lese und schreibe. (Ich erhebe Anspruch auf Ehrlichkeit und Authentizität, aber nicht auf objektive Neutralität.)

Das Ende des Friedensprozesses zwischen dem türkischen Staat und der PKK:

  • Er kam im Herbst 2013 ins Stocken, denn es gab für die Kurden zwar “einige Verbesserungen […], etwa die Aufhebung des Buchstabenverbots der im kurdischen Alphabet gebrauchten Buchstaben X, Q und W. Aber substantielle Fortschritte im Hinblick auf die wesentlichen Forderungen der Kurden wie das Recht auf Erziehung in kurdischer Sprache blieben aus”. [bpb]
  • Er drohte zu enden, als im Oktober 2014 die syrisch-kurdische Stadt Kobane, die direkt an der türkischen Grenze liegt, vom Daesch (bei uns als “IS” bekannt) belagert wurde und die türkische Regierung sich weigerte, einen Hilfskorridor zu öffnen und Hunderte freiwillige türkische Kurden, die den Widerstand der syrischen Kurden gegen den Daesch (“IS”) unterstützen wollten, am Grenzübertritt hinderte. Erdogan spekulierte auf den Fall Kobanes , was er in Reden auch lautstark kundtat. Es gelang der kurdischen YPG jedoch, Kobane zu halten, dank US-amerikanischer Luftunterstützung.
  • Er endete, als die Türkei am 24. Juli 2015 eine grenzüberschreitende Offensive gegen die PKK startete. Die Gewalt eskalierte!

Der Städtekrieg 2015/16:

  • Mit Hilfe ihrer Jugendorganisation YPG-H trug die PKK den Krieg in die kurdischen Städte im Südosten der Türkei. Die Jugendlichen hoben in den engen Innen- und Altstadtgassen Barrikaden aus und spannten Planen über zwischen den eng zusammen stehenden Häusern, um sich vor Scharfschützen und Drohnen zu schützen.
  • Die besetzten Innen- und Altstädte in einem “klassischen Häuserkampf” zurückzuerobern wäre für die türkische Armee vermutlich sehr verlustreich geworden, obwohl die Verteidiger im wesentlichen “nur” mit Kalaschnikows bewaffnet waren. In den engen verwinkelten Gassen hätte sie ihre materielle Überlegenheit nicht hätte zum Einsatz bringen können. Panzer passen hinein und auf Distanzen von wenigen Metern sind alle Gewehre und Schützen gleich gut.
  • Der Staat schlug mit exzessiver Gewalt zurück, indem er betroffene Provinzen und Städte bombardierte, monatelange Ausganssperren verhängte, viele Orte zu speziellen Sicherheitszonen erklärte und den medialen Zugang komplett kappte. Der Städtekrieg hielt monatelang an, bis im Frühsommer 2016 die Regierung die Kontrolle wieder erlangte.” [bpb]
  • Infolge des erbarmungslos geführten Städtekriegs bis Frühjahr 2016 wurden viele Zivilisten vor allem durch Scharfschützen getötet. 400.000 Menschen wurden zu Binnenflüchtlingen. Zahlreiche historische Stadtviertel – darunter auch die historische Altstadt der kurdischen Metropole Diyarbakir – sowie Lebensgrundlagen wurden komplett zerstört.” [bpb]

Soweit erstmal als Überblick und Grundlage. Wir in unseren persönlichen Berichten noch mehr erzählen.

Diyarbakir/Amed: zerstörtes Weltkulturerbe

Sa 17. Mrz 2018

Stadt unter Besatzung

Diyargakir/Amed empfängt uns als Stadt unter Besatzung. Auf dem mehrere hundert Kilometer langen Weg von der Mittelmeerküste bei Mersin hierher waren uns kaum Checkpoints aufgefallen. (Allerdings sind wir in den letzten Monaten auch eher das Westjordanland als Schleswig-Holstein gewohnt. – Vielleicht ist uns da der Maßstab verrutscht.) In Diyarbakir/Amed sieht das anders aus.

An allen Zugängen zur Stadt, an allen wichtigen Verkehrsknotenpunkten, an allen Toren der Altstadtmauer und vielen Straßenecken gibt es Polizei-Armee-Posten. (Polizei und Armee sind hier für uns oft kaum zu unterscheiden.) Meine Hochrechnung ergibt, dass es über 50 große Polizei-Armee-Posten in der Stadt gibt. Jeder besteht mindestens aus einem Wasserwerfer, einem Radpanzer mit einsatzbereitem ferngesteuertem Maschinengewehr, einem Container (der schußsicher, also ein Bunker ist), Sandsackbarrikaden, schußsicheren Stellwänden mit Schießscharten und mehrern Soldaten und(!) Polizisten mit Kalaschnikows. – Leider können wir diese Posten nicht photographieren. Als ich es versuche, werde ich fast wegen Spionage festgenommen.

Die Polizei patrouilliert hier nicht mit normalen Streifenwagen sondern mit Radpanzern. – Wie gesagt, können wir das leider nur sehr unzureichend photogaphisch dokumentieren.

Zerstörtes Weltkulturerbe

Zunächst checken wir in dem Hotel ein, in dem auch der Rest der deutschen Delegation wohnt. Bulli parkt davor auf dem Hotelparkplatz. Da die anderen Delegationsteilnehmer im Laufe des Tages eintrudeln, gehen wir erstmal in Innenstadt.

Die Altstadtmauer von Diyarbakir/Amed mit einem der Stadttore. Wer genau hinsieht sieht einen Wasserwerfer (weiß) und einen teil des Polizei-Armee-Postens, den ich zufällig mitphotographiert habe.
Alte aramäische Inschrift an der Stadtmauer.

Die Altstadt ist – oder besser gesagt war – zusammen mit den darunterliegenden Gärten am Tigris Weltkulturerbe. Doch im Städtekrieg 2015/16 wurde sie zu mehr als der Hälfte zerstört.

Auf diesem Sattelitenbild von Google-Maps sieht man rechts eine große graue Fläche, auf der Google-Maps zwar noch Straßen einzeichnet, die es aber nicht mehr gibt. Desgleichen bei zwei kleineren Flächen unten links.

Auf dem Google-Maps-Bild oben sieht man in der Innenstadt zwei große Straßen, die Melik Ahmet Caddesi und die Gazi Caddesi. Sie sind heute mit großem Poizeiaufgebot gesperrt, weil Erdogan in der Stadt ist und sie einweiht. Sie wurden nach dem Städtekrieg “wieder aufgebaut” – dazu morgen mehr. Auf jeden Fall gibt es eine große Jubelfeier für Erdogen. Eine Lehrerin wird uns später erzählen, dass ihr und allen Kollegen per SMS befohlen wurde, zur Pro-Erdogan-Kundgebung zu kommen und ein Beweis-Selfie von dort zu schicken. Extra für Erdogan wurden Blumen gepflanzt und die Straßen und Seitenstraßen auf seinem Weg durch die Stadt herausgeputzt. Bei den Seitenstraßen konnten wir uns anschließend davon überzeugen, dass sie nur so weit gepflastert waren, wie Erdogan sie von seinem Wagen aus sehen konnte. – Das haben sie früher bei Honnecker auch so gemacht.

Wir gehen zur Altstadtfestung (auf dem Google-Maps-Bild oben rechts).

Heute ist innerhalb der Festungsmauern ein schöner Park. Früher waren hier Häuser und enge Gassen. – Nachdem die Trümmer des Städtekrieges weggeräumt waren, hat die Türkei mit schnellwachsenden Rasenmatten wortwörtlich Gras über die Sache wachsen lassen.

Von der Mauer der Altstadtfestung aus können wir in die 2015/16 umkämpften und immernoch gesperrten Gebiete sehen.

Die Trümmer sind beseitigt. Der Neubau hat begonnen.
Unser Lonely Planet schreibt: “Innerhalb der Stadtmauern breitet sich ein Labyrinth aus engen, gewundenen und meist namenlosen Gassen aus.” – Das ist dann ja wohl veraltet.
Bitte versuche Dir vorzustellen wieviel mesopotamische Altstadt, wieviel Leben auf diesem “Parkplatz” einmal gepaßt hat.

Bummel durch den Altstadtrest

Beim Altstadtbummel geraten wir “zufällig” in den zerstörten Bereich. Als wir der Polizei gegenüber angeben die alte aramäische Kirche zu suchen, begleiten uns zwei Zivilpolizisten hin.

In dieser aramäischen Kirche feiern auch die letzten 100 armenischen Christen der Stadt ihre Gottesdienste. Denn ihre Kirche liegt oder lag im zerstörten Sperrgebiet.

Die photoscheuen Zivilpolizisten lungern noch länger mit uns in der Kirche herum. Als wir Kerzen anzünden, beten und “Dona Nobis Pacem” singen, schreiben sie uns irgendwann als verschrobene Bekloppte ab und lassen uns alleine.

Altstadtgasse: So muß der Rest auch mal ausgesehen haben.
Und plötzlich hören Straße und Leben auf. (Bis auf die Polizei direkt rechts hinter der Ecke.)
Überall und immer wieder Wasserwerfer, Radpanzer, Soldaten hinter Schießscharten. Wie schon gesagt, sind über 50 Wasserwerfer und das mehrfache an Radpanzern permanent im Straßenbild der Stadt präsent.
Eine der Karavansereien, der Oasen im (noch stehenden Teil) der Altstadt.

Es ist erstaunlich leicht mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Genau genommen ist es schwer, das nicht zu tun. Denn immer wieder sprechen sie uns an! – Die Gespräche sind ungewöhnlich und erstaunlich. Einerseits achten alle immer darauf, dass niemand mithört. Und vieles wird auch nicht direkt erwähnt. So spricht man Worte wie “PKK” oder “Erdogan” nicht aus. Man umschreibt eher. Oder läßt eine Lücke mitten im Satz. Abgesehen davon sind die Menschen, denen wir begegnen aber erstaunlich offen und direkt. – Wir haben uns übrigens entschlossen, von keinem von ihnen ein Bild hochzuladen, um sie nicht zu gefährden.

Sie sprechen “offen” über den Beschuß ihrer Stadt mit schwerer Artillerie im Städtekrieg oder den derzeitigen Krieg in Afrin. – Der Mut und die Lebensfreude dieser Menschen beeindruckt uns immer wieder aufs Neue.

Hotel, Stadt und Menschen

das hotel liegt mitten in der stadt, bulli bekommt seinen platz direkt vor der tür und ist gut bewacht, wir residieren im 6. stockwerk, der portier bringt unsere klamottenkisten nach oben in ein für uns unendlich großes zimmer mit allem drum und dran. im bad ist alles da, was das herz begehrt, vor allem eine große dusche und heißes wasser ohne ende. – ich werd nicht wieder!

entzückend: in großen spendern steht shampoo, haarspülung und duschgel bereit. in grün und gelb und rot, den farben kurdistans. in der empfangshalle stehen auf dem tresen eine stellage mit verschiedenen internationalen kleinen fahnen. die türkische natürlich ganz oben in der mitte. aber gleich daneben eine kurdische, die so drapiert ist, das sie die türkische verdeckt. wir sind am richtigen ort.

das leben in den noch intakten straßen der altstadt ist stiller als in anderen altstädten. ja, es sind menschen in den gassen und wenn wir vorbeigehen und ‘rojbas’ (wird “roschbasch” ausgesprochen und ist kurdisch für ‘hallo’) sagen, werden wir angelacht. von jungen männern ebenso wie von alten frauen. sie tragen oft, wie auch ältere männer, dünne weiße kopftücher, die wesentlich loser um die haare gebunden sind, als in der türkei. immer wieder streifen polizisten durch die gassen. in zivilkleidung, aber mit polizeiweste, pistole im halfter und funkgerät in der hand. sie zeigen präsenz, damit keiner auf die idee kommt, er würde nicht beobachtet. sie sind nicht unfreundlich, aber da.

die neugier der menschen auf uns ist groß. viele sprechen gutes englisch und wenn nicht, ist schnell jemand an unserer seite und hilft. es sind unaufdringlichere kontakte. distanzierter, vorsichtiger, aber sehr warm. ich kann noch nicht recht den daumen drauf halten, was anders ist. das gilt es in den nächsten tagen herauszufinden.

abends gehen wir mit den schon angekommenen delegationsmitgliedern essen und als alle teilnehmer der deutschen delegation im hotel sind, kommen e…und e… von der HDP dazu und wir kriegen die ersten informationen über die delegationstermine. wir haben ein strammes programm vor uns, in dem wir viele organisationen und initiativen kennenlernen werden, die uns über ihre arbeit und zu kurdistan und diyarbakir/amed aufschlauen. wir werden mit einem kleinbus überall hingefahren werden, bekommen von e… ihre telefonnummer, falls etwas ist.

wir vergessen nicht, daß heute st.-patricks-day ist. wir trinken vor dem hotel noch ein bier auf irland. das hotelbett, in das wir anschießend fallen, ist erschreckend breit und weich und läßt einen leicht vergessen, daß draußen die welt ein polizeistaat ist.

Ökologie und Kultur

So. 18. Mrz 2018

E… und E… von HDP haben für uns ein strammes Programm ausgearbeitet, da sie uns in den Tagen bis Newroz einen möglichst breiten Einblick in den kurdischen zivilgesellschaftlichen Widerstand geben wollen. Der heutige Tag steht für uns, die 6 Deutschen sowie die Delegationen aus Schweden und dem Baskenland, unter dem Motto Ökologie und Kultur.

Das Ökolandbauprojekt

Zuerst fahren wir zu einem Ökolandbauprojekt etwas außerhalb der Stadt. Auf dem Weg haben wir Gelegenheit die weite Landschaft und den aktuellen Stand der Polizei-, Militär- und Überwachungstechnik zu bewundern.

Als wir ankommen kocht der Tee schon. (Die Kanne steht normalerweise auf dem zu sehenden Öfchen, ist gerade zum Einschenken abgenommen.)
Während einige aufmerksam zuhören, genießen andere vor allem die Sonne (die meisten Delegationsteilnehmer kommen ja gerade aus dem kalten Nordeuropa).
Sie haben unter anderem ein Lehmhaus gebaut, dass eine unglaublich angenehme Atmosphäre hat.

Ich frage mich, ob so ein bißchen Ökolandbau, Lehmhaus selber Bauen und basisdemokratische Strukturen Einüben tatsächlich eine sinnvolle Beschäftigung ist, angesichts der fühlbaren Gewalt ringsum, der Zerstörung der alten Städte und der schnell wachsenden seelenlosen Vorstädte aus Betonhochhäusern und komme nach einigem Nachdenken und Nachfühlen zu dem Schluß: Ja, das ist es tatsächlich! – Die gelebte Utopie ist Widerstand. Ein selbstgebautes Lehmhaus (so klein es auch sei), ist in seiner Indivitalität und Kreativität eine richtige Antwort auf die erdoganschen Betonwohnwüsten.

die frau, die uns alles zeigt, erzählt, daß früher die meisten häuser in kurdistan aus lehm gemacht waren. es gibt hier in der gegend noch etliche dörfer, in denen welche stehen.

ich freue mich sehr, daß jemand fragt, ob es welche gibt, die lust haben, auf im knoblauchfeld unkraut zu hacken. ich bin sofort dabei. das gemüse wird ökologisch angebaut und es werden samen gezogen. diese werden an interessenten in der umgebung und in diyarbarkir/amed verschenkt, damit eigenes gemüse gezogen werden kann und die menschen unabhängiger vom eingeführten gemüse aus anderen teilen der türkei sind. eigenhändig gezogenes gemüse aus der gegend ist qualitativ hochwertiger und hilft, kurdische indentität zu wahren, die doch an so vielen stellen unterdrückt wird. da helf ich doch gern beim unkraut jäten.

Bina ist froh, ganz praktisch Hand anlegen zu können.

Der Mann, der im Bild oben mit bina zusammen hackt, ist eigentlich Lehrer er wurde im Zuge der “Säuberungen im gesamten politischen und zivilgesellschaftlichen Spektrum der Kurden” [bdb] entlassen. “Bis zu 14.000 Lehrerinnen und Lehrer im Südosten wurden suspendiert.” [bpb] Er sagte, dass die praktische Arbeit hier für ihn auch eine Art Arbeitstherapie sei.

Eine anwesende Biolehrerin, die noch nicht entlassen wurde, erzählte mir, wie sie heimlich ausgewählten Schülern die aus den Lehrplänen verbannte Evolutionslehre beibringe. – Eine unbesungene Heldin der Wissenschaft und Aufklärung.

Bedrohte Gärten am Tigrisufer

Anschließend geht es in die Hevsel-Gärten unterhalb der Altstadtmauer am Tigrisufer. Die Hevsel-Gärten sind oder waren zusammen mit der 2015/16 im Städtekrieg zerstörten Altstadt Diyarbakirs/Ameds UNESCO-Weltkulturerbe. Hier leben über 100 endemische Tier- und Pflanzenarten. Unter anderem die durch die großen türkischen Staudammprojekte (dazu in ein paar Tagen mehr) bedrohte Tigrisschildkröte.

Jetzt sollen die Hevsel-Gärten einer Flanier- und Restaurantmeile mit Picknickareal weichen. Vermutlich für die Bewohner der Apartementhäuser, welche die Altstadthäuser ersetzen sollen. Da natürliche Flußufer in der Türkei auf 500m Breite geschützt sind, hat die Regierung den Tigris hierzu offiziell zum Bach degradiert. (Klar! Die kleinen Bäche dieser Welt: Euphrat, Tigris, Nil, Amazonas, …)

Die Frau von der Umweltini erklärt, wie sie um die Gärten kämpfen. Sie versuchen gegen die Degradierung des Tigris zum Bach zu klagen. Da die Zeitungen nicht über das Problem berichten (dürfen?), machen sie jede Sonntag Spaziergänge mit Picknick und Infovortrag in die Gärten. Jedes Mal mit einer anderen Gruppe. So wollen sie möglichst viele Menschen aufklären.

In den Hevsel-Gärten.
Oberhalb sieht man die Stadtmauer. Im Städtekrieg wurde die Bresche in die Mauer geschossen und die Häuser unterhalb der Mauer als Kollateralschaden zerstört.
Michel und K… geben am Ufer des Tigrisbaches ein Interview für Mesopotamia-TV. Ein freies Internetfernsehen, das bestimmt bald verboten wird.
Dieses Kampfflugzeug am blauen Himmel über uns fliegt nach Angaben unserer Begleiter nach Afrin. (Die Himmelsrichtung stimmt auf jeden Fall.)

Beobachtungen in der Stadt

Die türkische Armee zeigt an der Altstadtmauer, wer hier gewonnen hat.

Durch ein offenes Tor in der Sichtschutzwand gelingt mir dieser Schnappschuß:

Die neuen Apartementhäuser, die die Altstadthäuser ersetzen.

Hier sollen natürlich nicht die alten Bewohner der Gegend einziehen. Die sind (wie ich später im Gespräch erfahre) in einem Neubaugebiet mit Hochhäusern etwa eine Stunde Busfahrt entfernt untergebracht worden. – Im selben Gespräch erfahre ich übrigens, dass die kurdischen Farben Rot-Gelb-Grün im Gegensatz zur kurdischen Fahne zwar nicht offiziell, aber faktisch verboten sind. Was (kein Witz!) sogar so weit geht, dass sie ernsthaft die Ampelfarben ändern wollten.

Das berüchtigte Foltergefängnis von Diyarbakir.

Dass hier in den 90er Jahren gefoltert wurde, ist von Amnesty International belegt. Während des Friedensprozesses zwischen türkischem Staat und PKK hörte es auf. Aber jetzt mehren sich die Gerüchte und (noch nicht?) belegten Berichte wieder.

Das Hauptquartier der HDP, wo wir jeden Tag zu Mittag essen. Im Cafe gegenüber lungern gern auffälig sportliche Kerle mit Funkgeräten und Pistolen am Gürtel rum.
Eine der Straßen in der “Altstadt”, die Erdogan gestern eingeweiht hat.
Zum Vergleich hier eine der noch existierenden Altstadtgassen.

Zwei Prinzipien beim Wiederaufbau scheinen zu sein:

  1. -Straßen müssen breit genug für Fahrzeuge, Hauptstraßen breit genug für jeden Panzer sein. Schon Haussmann ließ in Paris nach der Niederschlagung der Kommune die heute so beliebten Boulevards anlegen, damit man das Volk mit Kanonen niederkartätschen konnte.
  2. Der traditionelle schwarze Basalt, der für Diyarbakir/Amed so typisch ist, und die verwinkelte Häuser, in denen sowohl gewohnt als auch gearbeitet wurde, sind zu ersetzen durch weiße Häuser mit großzügigen Appartements oder Geschäften.

Der Tag findet seinen Abschluß in einem sehr alten Cafehaus, das in den 40% nicht zerstörter Altstadt liegt. Der Eingang zum Innenhof ist im letzten Bild oben zu sehen. Es ist das Hauptquartier eines Kulturprojekts.

Hier treffen sich auch verschiedene Gruppen, die die traditionelle kurdische Musik pflegen.
Während die Basken sich die Köpfe heißdiskutieren…
…verlieben wir uns in diesen Raum.

Hier führen wir auch gute Gespräche mit Menschen, die nicht der HDP oder einer der Initativen angehören. Wobei wir und vor allem die Einheimischen sehr wohlbedacht auswählen. Man kann hier ja nicht alles direkt an- und aussprechen. Offen zu sagen, wie die türkische Armee hier gewütet hat, oder was man über den türkischen Einmarsch in Afrin denkt, würde vermutlich die Straftatbestände “Verächtlichmachung des Türkentums”, “Distanzierung vom Militär” und “Beleidigung des Präsidenten” erfüllen, sowie entweder “unbewaffneter Terrorismus” oder “Werbung für eine terroristische Vereinigung”. Also spielen wir eine Art Gesellschaftsspiel: Wer kann die Wahrheit am besten umschreiben, ohne sie direkt auszusprechen?

Afrin ist gefallen

Man sieht zwar keine Plakate und Demonstationen zum Einmarsch der türkischen Armee in die bisher vom Krieg verschonte syrisch-kurdische Provinz Afrin. Aber jeder hier spricht uns innerhalb der ersten fünf Minuten (durch die Blume) darauf an. Und sie sind sich der deutschen Panzer und Waffen, die dort zum Einsatz kommen, sehr bewußt.

Eigentlich sollten wir Internationalen heute Abend zum Schutz einem Treffen verschiedener zivilgesellschaftlicher Organisationen beiwohnen, auf dem diese eine Resolution zu Afrin verabschieden wollten. Doch da Afrin heute gefallen ist, ist die Resolution gegenstandslos geworden.

afrin ist gefallen. das klingt widerlich pathetisch. wir denken darüber nach, welches andere wort passender wäre. aber uns stockt der atem, als wir die kampflugzeuge am himmel sehen. wir kennen menschen, die aus dieser stadt kommen und noch mehr menschen, die angehörige dort haben und die würden es auch nicht anders sagen. deshalb bleibt es bei dieser wortwahl.