Diyarbakir/Amed: zerstörtes Weltkulturerbe

Sa 17. Mrz 2018

Stadt unter Besatzung

Diyargakir/Amed empfängt uns als Stadt unter Besatzung. Auf dem mehrere hundert Kilometer langen Weg von der Mittelmeerküste bei Mersin hierher waren uns kaum Checkpoints aufgefallen. (Allerdings sind wir in den letzten Monaten auch eher das Westjordanland als Schleswig-Holstein gewohnt. – Vielleicht ist uns da der Maßstab verrutscht.) In Diyarbakir/Amed sieht das anders aus.

An allen Zugängen zur Stadt, an allen wichtigen Verkehrsknotenpunkten, an allen Toren der Altstadtmauer und vielen Straßenecken gibt es Polizei-Armee-Posten. (Polizei und Armee sind hier für uns oft kaum zu unterscheiden.) Meine Hochrechnung ergibt, dass es über 50 große Polizei-Armee-Posten in der Stadt gibt. Jeder besteht mindestens aus einem Wasserwerfer, einem Radpanzer mit einsatzbereitem ferngesteuertem Maschinengewehr, einem Container (der schußsicher, also ein Bunker ist), Sandsackbarrikaden, schußsicheren Stellwänden mit Schießscharten und mehrern Soldaten und(!) Polizisten mit Kalaschnikows. – Leider können wir diese Posten nicht photographieren. Als ich es versuche, werde ich fast wegen Spionage festgenommen.

Die Polizei patrouilliert hier nicht mit normalen Streifenwagen sondern mit Radpanzern. – Wie gesagt, können wir das leider nur sehr unzureichend photogaphisch dokumentieren.

Zerstörtes Weltkulturerbe

Zunächst checken wir in dem Hotel ein, in dem auch der Rest der deutschen Delegation wohnt. Bulli parkt davor auf dem Hotelparkplatz. Da die anderen Delegationsteilnehmer im Laufe des Tages eintrudeln, gehen wir erstmal in Innenstadt.

Die Altstadtmauer von Diyarbakir/Amed mit einem der Stadttore. Wer genau hinsieht sieht einen Wasserwerfer (weiß) und einen teil des Polizei-Armee-Postens, den ich zufällig mitphotographiert habe.
Alte aramäische Inschrift an der Stadtmauer.

Die Altstadt ist – oder besser gesagt war – zusammen mit den darunterliegenden Gärten am Tigris Weltkulturerbe. Doch im Städtekrieg 2015/16 wurde sie zu mehr als der Hälfte zerstört.

Auf diesem Sattelitenbild von Google-Maps sieht man rechts eine große graue Fläche, auf der Google-Maps zwar noch Straßen einzeichnet, die es aber nicht mehr gibt. Desgleichen bei zwei kleineren Flächen unten links.

Auf dem Google-Maps-Bild oben sieht man in der Innenstadt zwei große Straßen, die Melik Ahmet Caddesi und die Gazi Caddesi. Sie sind heute mit großem Poizeiaufgebot gesperrt, weil Erdogan in der Stadt ist und sie einweiht. Sie wurden nach dem Städtekrieg “wieder aufgebaut” – dazu morgen mehr. Auf jeden Fall gibt es eine große Jubelfeier für Erdogen. Eine Lehrerin wird uns später erzählen, dass ihr und allen Kollegen per SMS befohlen wurde, zur Pro-Erdogan-Kundgebung zu kommen und ein Beweis-Selfie von dort zu schicken. Extra für Erdogan wurden Blumen gepflanzt und die Straßen und Seitenstraßen auf seinem Weg durch die Stadt herausgeputzt. Bei den Seitenstraßen konnten wir uns anschließend davon überzeugen, dass sie nur so weit gepflastert waren, wie Erdogan sie von seinem Wagen aus sehen konnte. – Das haben sie früher bei Honnecker auch so gemacht.

Wir gehen zur Altstadtfestung (auf dem Google-Maps-Bild oben rechts).

Heute ist innerhalb der Festungsmauern ein schöner Park. Früher waren hier Häuser und enge Gassen. – Nachdem die Trümmer des Städtekrieges weggeräumt waren, hat die Türkei mit schnellwachsenden Rasenmatten wortwörtlich Gras über die Sache wachsen lassen.

Von der Mauer der Altstadtfestung aus können wir in die 2015/16 umkämpften und immernoch gesperrten Gebiete sehen.

Die Trümmer sind beseitigt. Der Neubau hat begonnen.
Unser Lonely Planet schreibt: “Innerhalb der Stadtmauern breitet sich ein Labyrinth aus engen, gewundenen und meist namenlosen Gassen aus.” – Das ist dann ja wohl veraltet.
Bitte versuche Dir vorzustellen wieviel mesopotamische Altstadt, wieviel Leben auf diesem “Parkplatz” einmal gepaßt hat.

Bummel durch den Altstadtrest

Beim Altstadtbummel geraten wir “zufällig” in den zerstörten Bereich. Als wir der Polizei gegenüber angeben die alte aramäische Kirche zu suchen, begleiten uns zwei Zivilpolizisten hin.

In dieser aramäischen Kirche feiern auch die letzten 100 armenischen Christen der Stadt ihre Gottesdienste. Denn ihre Kirche liegt oder lag im zerstörten Sperrgebiet.

Die photoscheuen Zivilpolizisten lungern noch länger mit uns in der Kirche herum. Als wir Kerzen anzünden, beten und “Dona Nobis Pacem” singen, schreiben sie uns irgendwann als verschrobene Bekloppte ab und lassen uns alleine.

Altstadtgasse: So muß der Rest auch mal ausgesehen haben.
Und plötzlich hören Straße und Leben auf. (Bis auf die Polizei direkt rechts hinter der Ecke.)
Überall und immer wieder Wasserwerfer, Radpanzer, Soldaten hinter Schießscharten. Wie schon gesagt, sind über 50 Wasserwerfer und das mehrfache an Radpanzern permanent im Straßenbild der Stadt präsent.
Eine der Karavansereien, der Oasen im (noch stehenden Teil) der Altstadt.

Es ist erstaunlich leicht mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Genau genommen ist es schwer, das nicht zu tun. Denn immer wieder sprechen sie uns an! – Die Gespräche sind ungewöhnlich und erstaunlich. Einerseits achten alle immer darauf, dass niemand mithört. Und vieles wird auch nicht direkt erwähnt. So spricht man Worte wie “PKK” oder “Erdogan” nicht aus. Man umschreibt eher. Oder läßt eine Lücke mitten im Satz. Abgesehen davon sind die Menschen, denen wir begegnen aber erstaunlich offen und direkt. – Wir haben uns übrigens entschlossen, von keinem von ihnen ein Bild hochzuladen, um sie nicht zu gefährden.

Sie sprechen “offen” über den Beschuß ihrer Stadt mit schwerer Artillerie im Städtekrieg oder den derzeitigen Krieg in Afrin. – Der Mut und die Lebensfreude dieser Menschen beeindruckt uns immer wieder aufs Neue.

Hotel, Stadt und Menschen

das hotel liegt mitten in der stadt, bulli bekommt seinen platz direkt vor der tür und ist gut bewacht, wir residieren im 6. stockwerk, der portier bringt unsere klamottenkisten nach oben in ein für uns unendlich großes zimmer mit allem drum und dran. im bad ist alles da, was das herz begehrt, vor allem eine große dusche und heißes wasser ohne ende. – ich werd nicht wieder!

entzückend: in großen spendern steht shampoo, haarspülung und duschgel bereit. in grün und gelb und rot, den farben kurdistans. in der empfangshalle stehen auf dem tresen eine stellage mit verschiedenen internationalen kleinen fahnen. die türkische natürlich ganz oben in der mitte. aber gleich daneben eine kurdische, die so drapiert ist, das sie die türkische verdeckt. wir sind am richtigen ort.

das leben in den noch intakten straßen der altstadt ist stiller als in anderen altstädten. ja, es sind menschen in den gassen und wenn wir vorbeigehen und ‘rojbas’ (wird “roschbasch” ausgesprochen und ist kurdisch für ‘hallo’) sagen, werden wir angelacht. von jungen männern ebenso wie von alten frauen. sie tragen oft, wie auch ältere männer, dünne weiße kopftücher, die wesentlich loser um die haare gebunden sind, als in der türkei. immer wieder streifen polizisten durch die gassen. in zivilkleidung, aber mit polizeiweste, pistole im halfter und funkgerät in der hand. sie zeigen präsenz, damit keiner auf die idee kommt, er würde nicht beobachtet. sie sind nicht unfreundlich, aber da.

die neugier der menschen auf uns ist groß. viele sprechen gutes englisch und wenn nicht, ist schnell jemand an unserer seite und hilft. es sind unaufdringlichere kontakte. distanzierter, vorsichtiger, aber sehr warm. ich kann noch nicht recht den daumen drauf halten, was anders ist. das gilt es in den nächsten tagen herauszufinden.

abends gehen wir mit den schon angekommenen delegationsmitgliedern essen und als alle teilnehmer der deutschen delegation im hotel sind, kommen e…und e… von der HDP dazu und wir kriegen die ersten informationen über die delegationstermine. wir haben ein strammes programm vor uns, in dem wir viele organisationen und initiativen kennenlernen werden, die uns über ihre arbeit und zu kurdistan und diyarbakir/amed aufschlauen. wir werden mit einem kleinbus überall hingefahren werden, bekommen von e… ihre telefonnummer, falls etwas ist.

wir vergessen nicht, daß heute st.-patricks-day ist. wir trinken vor dem hotel noch ein bier auf irland. das hotelbett, in das wir anschießend fallen, ist erschreckend breit und weich und läßt einen leicht vergessen, daß draußen die welt ein polizeistaat ist.